Leseprobe
Inhalt
Einleitung
Über die Glückseligkeit
Kapitel VI. Selbstgenügsame Tätigkeit und Selbstzweck
Kapitel VII. Das vollendete Glück der Denktätigkeit
Kapitel VIII. Das Glück des praktischen Lebens
Kapitel IX. Äußere Verhältnisse
Resümee
Literatur
Einleitung
Der Begriff vom guten und glücklichen Leben ist keine neuzeitliche oder gar moderne Erfindung. Er ist bereits im antiken Griechenland diskutiert und vielseitig geprägt worden. Wenn auch die antiken Positionen in dieser Frage sich deutlich durch den kaum vorhandenen Gedanken des Pluralismus beziehungsweise Relativismus von den heutigen Standpunkten abgrenzen, so ist doch unbestritten, dass sich viele der Ideen und Teilkonzepte von damals noch in den aktuellen Vorschlägen zum guten Leben wiederfinden.
Die von der an dieser Stelle hypothetisch angenommenen postmodernen Grundlosigkeit gekennzeichnete Fülle an Glückskonzepten findet in den Überlegungen des Aristoteles eine klare Vorgabe, die das glückliche Leben vor allem rational im Gegensatz zu den intuitionalen Varianten der ‚Jede/r-muss-sein-Glück- selbst-finden-Attitüde’ bestimmbar macht. Die nachfolgende knappe Ausarbeitung macht sich zum Ziel, das aristotelische Konzept des guten und glücklichen Lebens, so wie es heute im Buch X in der Nikomachischen Ethik, Kapitel 6 bis 9, zu finden ist, schlaglichtartig zu erhellen und in seinen Grundgedanken zu erläutern. Es zeigt sich, dass Überlegungen zum menschlichen Glücklichsein schon in der frühen griechischen Philosophie etabliert waren. Für Aristoteles bedeutet Glückseligkeit nichts Geringeres als „Ziel und Ende alles menschlichen Tuns“, was eine gründliche Beschäftigung mit dem Begriffen und Formen des Konzepts vom guten Leben nahe legt.
Über die Glückseligkeit
Kapitel VI. Selbstgenügsame Tätigkeit und Selbstzweck
Die Möglichkeit glückselig zu sein ist nach aristotelischer Vorstellung vielfältig. Allerdings bestimmt Aristoteles deutlich einige Präferenzen und Wertigkeiten innerhalb der Formen von Glückseligkeit.
Glückseligkeit ist kein Habitus, sonst könnte man, so eines seiner Beispiele, ein Leben lang schlafen und dabei glückselig sein. Im Gegensatz dazu ist Ehre ein Habitus, da sie rein äußerlich ist. Ehre wird von außen durch andere anerkannt und beigemessen, wohingegen Glückseligkeit vor allem ein innerer Zustand oder Prozess ist. Sie ist vielmehr eine Tätigkeit beziehungsweise geknüpft an Tätigkeit an sich und nicht nur Tätigkeit als Mittel. Tätigkeiten an sich sind solche, bei denen man nichts weiter begehrt, als die Tätigkeit selbst. Diesen Charakter haben laut Aristoteles zum einen tugendhafte Handlungen, sowie zu anderen auch solche Unterhaltungen, die ausschließlich dem Genuss dienen. Diese Unterhaltungen schaden allerdings nur, da sie nicht der Vermehrung oder Erhaltung von Gesundheit und Vermögen dienen. Das Gros der Menschen verbringt seine Zeit mit solcher stagnativistischen Unterhaltung. Die Machthaber, so entdeckt Aristoteles, lassen sich gern und oft auf diese Art unterhalten und so scheint es, als ob dies ein essentieller Bestandteil von Glückseligkeit sei. Aristoteles sieht darin allerdings den Beweis für die fehlende Möglichkeit des Rückschlusses von Glückseligkeit auf den Besitz von Macht.
Insofern lässt sich ebenso wenig von Tugend und Verstand auf den Besitz von Macht schließen, welche die Quellen der Glückseligkeit sind. Sie sind „[…] die Quellen jeder schönen Tat" (Bien, 1995, 247, 18f). Menschen, denen der "Geschmack für reine und edle Freude" (ebd., 247, 20) verwehrt ist, müssen sich mit sinnlichen Freuden begnügen. Reine und edle Freuden sind nach Aristoteles solche, die auf den vernunftmäßigen Gebrauch des Verstande zurückzuführen sind. Kinder und schlechte Menschen müssen sich mit den sinnlichen Freuden zufrieden geben; sie tun dies ohne es zu merken. Sinnlich sind Freuden, wenn sie affekthaft und körperlich sind. Wertvoll und tugendhaft ist Aristoteles, was "dem guten Mann solches ist" (ebd., 247, 26f). Es liefert somit hier zunächst keine inhaltliche Bestimmung; einzig aus dem Wissen über vernunftgemäße Handlungsweise des „guten Mannes“ lassen sich inhaltbestimmende Rückschlüsse ziehen.
Eine deutliche Abgrenzung zur hedonistischen Ethik unternimmt Aristoteles, indem er Glückseligkeit nicht für einen Bestandteil von Vergnügungen oder gar für das Resultat des Lustgewinns hält; „Glückseligkeit besteht mithin nicht[…] in Spiel und Scherz. Es wäre ja ungereimt, wenn unsere Endbestimmung Spiel und Scherz wäre […]“ (ebd., 247, 31f). In dieser Negativdefinition kristallisiert sich eindeutig die Stoßrichtung der aristotelischen Argumentation. Die Maxime des Anacharsis "Spielen, um zu arbeiten." macht sich Aristoteles zu eigen und erweitert sie indem er die Bedeutung des Spiels in der Erholung sieht, derer es zum Arbeiten bedarf. Das glücklichselige Leben ist tugendhaft, es ist das Leben ernster Arbeit.
Kapitel VII. Das vollendete Glück der Denktätigkeit
Ist Glückseligkeit eine tugendgemäße Tätigkeit, so muss sie an der "Tugend des Besten in uns" (ebd., 248, 14f) ausrichten, das heißt am Verstand. Eine Tätigkeit, die der Tugend des Verstandes entsprechend ausgeübt wird, muss nach Aristoteles Vorstellung gewissermaßen immer glückselig sein (vgl. ebd., 248, 18f). Solch eine Tätigkeit ist theoretischer, d.h. betrachtender Art. Sie ist geleitet von zwei dem Menschen eigenen Werten, nämlich dem Verstand und der Vernunft, welche die höchsten menschlichen Fähigkeiten sind; ihre Objekte sind die "vornehmsten im ganzen Feld der Erkenntnis" (ebd., 248, 22f).
Aristoteles beklagt, dass der konsensualen Meinung nach Glückseligkeit mit Lust, das heißt mit Lustgewinn verbunden ist. Die Weisheit, die Aristoteles als Tätigkeit versteht, ist die genussreichste und seligste der tugendmäßigen Tätigkeiten, wobei es ihm der größere Genuss ist bereits zu wissen, das heißt weise zu sein, anstatt nach Weisheit zu suchen. Selig ist die Tätigkeit der Weisheit deswegen, weil sie der göttlichen Tätigkeit, also der reinen vernunftgemäßen Tätigkeit des Verstandes am ähnlichsten ist. Die genussreichste Tätigkeit ist Weisheit, da sie die bedingungsloseste unter den tugendhaften Tätigkeiten ist. Sie bedarf zu ihrer Ausübung im Gegensatz zur Gerechtigkeit oder zu den sittlichen Tugenden, die Aristoteles deutlich separiert, keiner außenweltlichen Konditionen und Objekte. Der Gerechte, so Aristoteles exemplarische Argumentation, benötigt immer ein Objekt für oder gegen welches er handeln kann. Der Weise hingegen kann ohne Weiteres Betrachtungen anstellen, selbst wenn er allein und für sich ist. Das gewährt der Weisheit einen besonderen Status innerhalb der Tugenden. Von ihr allein lässt sich behaupten, dass sie um ihrer selbst Willen geliebt wird; sie ist sich als einzige der Tugenden selbst genug (vgl. ebd., 249, 1179b, 1f).
In der musischen Beschäftigung liegt nach Aristoteles Vorstellung ebenfalls Glückseligkeit. Praktische Tugenden wie zum Beispiel Mut, Gerechtigkeit oder Fleiß hingegen veräußerlichen sich, das heißt ihre Tätigkeit, im bürgerlichen Leben oder im Krieg. Alle Tätigkeiten, die im Sinne des Gemeinwesens sind, sind unverträglich und unvereinbar mit der Muße. Wenn nun also mithin Staats- und Kriegsführung mit der Muße unvereinbar und gerichtet auf ein Ziel außerhalb ihrer selbst sind, wenn diese also nur Mittel für andere Zwecke sind, und wenn verglichen damit die Tätigkeit der Vernunft keinen anderen Zweck als sich selbst hat, so zeigt sich, dass erstere nicht im Sinne der Glückseligkeit stehen und dass ihnen daher in dieser Frage keine weiteren Gedanken gewidmet werden sollten.
Da nun die Glückseligkeit von der Tätigkeit des Verstandes und der Vernunft her rührt, besteht die erfüllendste Variante menschlichen Daseins in der reinsten Anwendung dieser Tätigkeiten, nämlich der Anwendung um ihrer selbst willen.
In der Lebenspraxis allerdings erfüllen sich diese Bedingungen nicht in Reinform, denn die reine Vernunft ist Angelegenheit der Götter. Entsprechend müsste auch das Leben gemäß der Vernunft verglichen mit dem menschlichen Leben göttlich sein. Nach Aristoteles Vorstellung ist es wichtig, sich zu bemühen, alles Handeln auf den Zweck der Unsterblichkeit, also auf die Angleichung an die Götter auszurichten und dem Besten nachzuleben, was im Menschen vorhanden ist. "Was einem Wesen von Natur aus eigentümlich ist im Unterschied von anderen, ist auch das Beste und Genußreichste. Also ist dies für den Menschen das Leben nach der Vernunft[...]" (ebd., 251, 5ff).
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