Förderung der mündlichen Erzählfähigkeit in einer 4. Klasse einer Förderschule


Examensarbeit, 2017

39 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung

2 Theoretischer Teil
2.1 Begriffsdefinition Förderschwerpunkt Lernen
2.2 Begriffserklärung Erzählen
2.2.1 Voraussetzungen für mündliche Erzählfähigkeit
2.2.2 Entwicklungsstufen des Erzählens
2.2.3 Mündliches Erzählen in der Schule
2.2.4 Förderung mündlicher Erzählfähigkeit im Unterricht
2.2.5 Erzählfähigkeit von Schülern mit den Förderschwerpunkt Lernen
2.3 Was ist ein Kamishibai?
2.3.1 Kamishibai in der Schule

3 Praktischer Teil
3.1 Sequenzen und Ziele der Einheit
3.2 Lerngruppenbeschreibung
3.3 Individualbeschreibungen
3.5 Didaktisch -methodisches Konzept
3.6 Darstellung ausgewählter Stunden
3.6.1 Sequenz 2: „Der kleine grüne Drache“ (1./2)
3.6.2 Sequenz 5: „Abenteuergeschichten vom Regentropfen Patsch“ (1./3)
3.6.3 Sequenz 6 „Die zwei Regentropfen Pitsch und Patsch“
3.7 Auswertungen der Einheit

4 Diskussion

6 Literaturverzeichnis

1 Einleitung

„Es war einmal…“ mit diesen drei Worten lassen sich bei mir zahlreiche Kindheitserinnerungen erwecken. Sei es das abendliche Geschichtenerzählen vor dem Zubettgehen, der Besuch im Theater oder die Märchen im Kindergarten und in der Schule. Erzählen weckt Freude, lässt uns über Erfahrungen austauschen, phantasieren und träumen. Das Erzählen stellt dabei einen Prozess in der kindlichen Entwicklung dar, welcher von günstigeren Bedingungen mitbestimmt wird. Strukturelle Veränderungen in der Familie und Freizeit beeinflussen unsere Erzählkultur unmittelbar (vgl. Claussen & Merkelbach, 2014; 6). Wachsender Fernsehkonsum und das Nutzen digitaler Medien verändern die Stellung des Erzählens in unserer Gesellschaft und stellen eine Determinante der Erzählfähigkeit dar. Die schnellen Bildabfolgen erschweren Imagination1 und Antizipation2 (vgl. Hering 2008; 57). Diese Kompetenzen sind u.a. wichtig für den Erwerb der Erzählfähigkeit und besonders Kinder aus anregungsarmen und sprachreduzierten Familien mit intensivem Fernsehkonsum, wird es erschwert Erzählmuster und -strukturen zu verinnerlichen.

Seit August 2016 unterrichte ich im Rahmen meines Referendariats eine vierte Klasse an einer Förderschule mit dem Förderschwerpunkt Lernen. Im Unterricht wurde ich darauf aufmerksam, dass es einigen Schülern3 in dieser Klasse schwer fällt, ihre eigenen Gedanken und Gefühle anderen mitzuteilen, das Erzählte zu strukturieren sowie Wesentliches von Unwesentlichem so zu unterscheiden, dass für den Zuhörer eine erkennbare Geschichte entsteht. Durch das Erzählen teilen wir Gefühle und Gedanken mit unseren Mitmenschen. Wird aufgrund unzureichender Erzählfähigkeit die Interaktion mit anderen erschwert, kann dies problematische soziale Folgen mit sich ziehen und das Selbstbild eines Menschen ungünstig beeinflussen. Diese Zusammenhänge brachten mir die Bedeutung der Erzählfähigkeit näher und es ergab sich meine Intention, die mündliche Erzählfähigkeit der Schüler zu fördern.

Ein chinesisches Sprichwort sagt: „Eine gut erzählte Geschichte macht aus den Ohren Augen.“

Durch eine Geschichte lassen sich innere Bilder erzeugen. Wenn wir über innere Bilder reden, geht es um „die Selbstbilder, um die Menschenbilder und um die Weltbilder, die wir in unseren Köpfen umhertragen und die unser Denken, Fühlen und Handeln mitbestimmen“ (Hüther, 2011; 8 f.). Der Mensch macht sich ein Bild von sich selbst, von seinen Beziehungen mit anderen Menschen und zu seiner unmittelbaren Umwelt und passt sein eigenes Handeln diesen inneren Bildern an (vgl. ebd).

Eine Möglichkeit, innere sowie äußere Bilder in Interaktionsprozessen zu erzeugen, bietet das Kamishibai. Dies ist ein Präsentationsmedium, das durch eine bildgestützte Darstellung von Geschichten innere und äußere Bilder in ihrer Wirkung verstärkt. Dabei entsteht ein „Kino im Kopf“ (Gruschka & Wedra, 2016; 6), welches das mündliche Erzählen unterstützen kann und „von der vorbereiteten Geschichte zur eigenen Sprache“ führt (ebd.). In der deutschen Bildungslandschaft erfährt das Kamishibai aktuell eine große Beliebtheit. Dies hat auch mein Interesse geweckt und daraus haben sich folgende Leitfragen für meine Arbeit entwickelt:

Lassen sich die Schüler mit dem Förderschwerpunkt Lernen durch die Arbeit mit dem Kamishibai auf das Erzählen ein? Trägt das Kamishibai dazu bei, dass die Schüler mit dem Förderschwerpunkt Lernen Einsichten in die Erzählstruktur erhalten?

Erleichtert die bildgestützte Arbeit mit dem Kamishibai das aktive Zuhören der Schüler mit dem Förderschwerpunkt Lernen? Zu Beginn der Arbeit wird ihr theoretischer Hintergrund dargestellt. Kapitel 2 befasst sich zunächst mit der Begriffsdefinition zum Förderschwerpunkt Lernen. Da diesem der Begriff der Lernbehinderung zugrunde liegt und zu einem großen Teil in der aktuellen Fachliteratur Verwendung findet, wird dieser unter Einbeziehung verschiedener Theoriezugänge näher betrachtet. Folgend wird auf die mündliche Erzählfähigkeit eingegangen. Allgemein lässt sich schriftliches von mündlichem Erzählen unterscheiden (Schelten-Cornish, 2015; 18). Beide Varianten bedingen sich wechselseitig, indem das mündliche Erzählen eine Orientierungshilfe für die Schriftlichkeit gibt. Zudem lassen sich Muster und Strukturen aus erzählten Geschichten in die Schrift übertragen. Im Gegenzug können schriftlich erworbene Stilmittel in die Mündlichkeit übernommen werden. Aufgrund der Komplexität der Erzählfähigkeit wird in dieser Arbeit ausschließlich das mündliche Erzählen zum Gegenstand gemacht. Es werden Betrachtungsansätze verschiedener Autoren erläutert und miteinander in Verbindung gebracht, mit dem Ziel, die Komplexität des mündlichen Erzählens hervorzuheben, die Bedeutung für die pädagogische Praxis herauszustellen und eine theoretische Grundlage für den praktischen Teil dieser Arbeit zu sichern. Im Anschluss an die Begriffsklärungen werden wichtige Voraussetzungen sowie die einzelnen Entwicklungsstufen des mündlichen Erzählens dargelegt und die Bedeutung des Erzählens in der Schule sowie günstige Bedingungen für die Gestaltung von Erzählsituationen betrachtet. Abschließend wird das Kamishibai als eine Möglichkeit zur Ausgestaltung von Gesprächssituationen kurz erläutert und in das pädagogische Blickfeld gerückt.

Der zweite Teil der Arbeit befasst sich mit der Planung und Durchführung einer Unterrichtseinheit. Die Einheit wird mit ihren Zielen und Sequenzen tabellarisch vorgestellt und die Lerngruppe näher beschrieben. Im didaktisch-methodischen Kommentar werden die verschiedenen Planungsgrundlagen veranschaulicht. Exemplarisch findet eine Darstellung und Kurzauswertung von zwei Unterrichtsstunden und einen Projekt statt. Dem folgt abschließend die Auswertung und Diskussion der Einheit in Bezug auf die leitenden Fragestellungen dieser Arbeit.

2 Theoretischer Teil

2.1 Begriffsdefinition Förderschwerpunkt Lernen

Der Begriff der Lernbehinderung hat im Zuge der Umbenennung von der Hilfsschule zur Schule für Lernbehinderte in den 1960iger Jahren Eingang in das deutsche Bildungsvokabular gefunden. Zwar wurde schon früher der Begriff Lernbehinderung vereinzelt verwendet. Jedoch fiel der Sachverhalt selbst in der Vergangenheit unter Bezeichnungen wie Schwachbegabung, Hilfsschulbedürftigkeit, geistige Schwäche, Intelligenzschwäche u. a. Der Begriff der Lernbehinderung stellt ein hypothetisches Konstrukt dar, „dessen Verständnis sich immer erst aus den jeweiligen näheren Bestimmungsmerkmalen ergibt“ (Kanter, 2007; 16 f.). Demnach gibt es kein einheitliches Bild der Lernbehinderung. Es existieren verschiedene, teilweise kontroverse Vorstellungen zu diesem Konstrukt und unterschiedliche theoretische Ansätze in der Fachliteratur. Im Folgenden werden einige relevante Theoriezugänge ausgewählt und kurz erläutert. Ein Ansatz führt Lernbeeinträchtigungen auf individuelle Defekte zurück. Dies entspricht dem medizinischen Modell, welches sich an einem positivistischen Wissensverständnis orientiert und die Ursache für eine Lernbehinderung im Kind verortet (vgl. Werning & Lütje-Klose, 2012; 50 f.). Nach Suhrweiler (1993; 37) liegt die Lernbehinderung im organfunktionellen Bereich und wird auf genetisch-metabolische, chromosomal und/oder exogen bedingte Faktoren sowie auf Endokrinopathien zurückgeführt. Die Behinderung erscheint demnach als eine medizinisch-biologisch feststellbare Eigenschaft einer Person. Eine weitere Sichtweise stellt der Etikettierungsansatz dar. Basis dieses Ansatzes ist der soziale Interaktionismus. Dieser richtet das Augenmerk nicht auf die Person, sondern auf die sozialen Reaktionen der Umwelt und bezeichnet Lernbehinderung als ein gesellschaftlich zugeschriebenes und über die Idee von Normalität als abweichend konstruiertes Merkmal. Aufgrund primärer Sozialisationsprozesse haben ‚sozial randständige‘ Kinder Verhaltensweisen in unterschiedlichen Bereichen entwickelt, die mit den institutionellen Normen in Konflikt geraten. Lernbehinderung wird als Ergebnis von Interaktionsprozessen interpretiert, indem das Lernverhalten eines Schülers als Normabweichung verstanden wird. Der Zuschreibungsprozess ist gekennzeichnet durch soziale Erwartungshaltungen, Vorurteile sowie Norm- und Wertemaßstäbe. Solche Zuschreibungen werden von den Betroffenen übernommen und in ihr Selbstbild integriert (vgl. Werning & Lütje-Klose, 2012; 65 f.). Lernbehinderung erscheint in dieser Sichtweise als relationaler Begriff, welcher im Kontext des sozialen Interaktionsprozesses zugeschrieben wird und „als prozessuales Ergebnis der sozialen Konstruktion von Abweichung verstanden“ wird (Homfeldt, 1996; 176ff). Im Gegensatz zum medizinischen Ansatz schafft der Etikettierungsansatz eine Verbindung zwischen soziologischen und psychologischen Zugängen, jedoch geht diese Sichtweise mit einer Stigmatisierung einher, welche individuelle Folgen für die Betroffenen nach sich ziehen kann. Lernbehinderung aufgrund der Klassenzugehörigkeit stellt die Perspektive des materialistischen Ansatzes dar, Dieser Ansatz beschreibt die enge Verknüpfung von Lernbehinderung und gesellschaftlich bedingter Klassenzugehörigkeit. Vertretern dieses Ansatzes zufolge ist Behinderung nicht als dem Individuum innewohnendes Abstraktum zu verstehen, sondern es ist „durch einen mangelnden Vermittlungsprozess zwischen Individuum und Gesellschaft gekennzeichnet, der eine Beeinträchtigung der Entwicklung einer Person bewirkt“ (Werning & Lütje-Klose, 2012; 70). System-konstruktivistisch betrachtet liegt die Lernbehinderung nicht in der Person, sondern in der Passung der Person und den Systemen, in denen sie sich bewegt. Hiernach ist Lernbehinderung kein abgrenzbarer Defekt einer Person, sondern Ergebnis von Sozialisationsprozessen in Abhängigkeit von sozio-ökonomischen und sozio-kulturellen Konstellationen. Lernbehinderung ist in diesem Sinne kein natürliches Phänomen, es wird erst in dem Moment real, wenn der Betroffene den gesellschaftlichen Anforderungen nicht entspricht. Sie stellt eine veränderbare Größe dar, die immer wieder neu entsteht und ständiger Veränderung unterliegt (vgl. Walters, 1995; 89). Der systemisch-konstruktivistische Ansatz orientiert sich an den Beziehungen des Individuums zu seiner Lebenswelt. Diese Sichtweise weist für die pädagogische Arbeit beachtenswerte Perspektiven auf und erweitert ihre Handlungsfelder. „Mit Hilfe des systemtheoretischen Ansatzes lassen sich die Strukturen und Zusammenhänge erhellen, die pädagogisch zu beachten sind, wenn erzieherische Intentionen und Inhalte sinnvoll und hilfreich vermittelt werden sollen“ (Speck, 1996; 127).

Der Begriff der Lernbehinderung ist in der gegenwertigen Literatur noch heute dominant. Jedoch findet zunehmend eine Ablösung dieser Begrifflichkeit durch den Förderschwerpunkt Lernen statt. Die Handreichung zur sonderpädagogischen Förderung in Sachsen-Anhalt beschreibt den Förderschwerpunkt unter Bezugnahme auf die Kulturministerkonferenz (KMK) und weitere Autoren. Darin sind Perspektiven des systemtheoretischen Ansatzes erkennbar, die auch vom Verfasser dieser Arbeit vertreten werden und hier als Sichtweise nachfolgender Ausführungen dienen. Es wird definiert, dass bei Schülern mit dem Förderschwerpunkt Lernen die Beziehung zwischen dem Individuum und seiner Umwelt zeitweise bzw. dauerhaft erschwert ist, sodass „sie die Ziele und Inhalte der Lehrpläne der allgemeinen Schule nicht oder nur ansatzweise erreichen können“ (KMK 1999: 2). Ursache für den Förderschwerpunkt Lernen wird in einer „nicht gelungenen und fehlende Passung zwischen den individuellen Lernmöglichkeiten des Kindes und der normativen Erwartungshaltung in pädagogischen Prozessen“ gesehen (Schmetz, 1999; 136). Aus dieser nicht gelungenen Passung gehen vielfältige Erscheinungsformen im Hinblick auf Beeinträchtigungen des Lernens in unterschiedlicher Ausprägung hervor (vgl. ebd.). Dabei tritt der Förderschwerpunkt im Laufe der kindlichen Entwicklung immer deutlicher hervor und beschränkt sich nicht nur auf das schulische Lernen. Denn Beeinträchtigungen im Lernen können Auswirkungen auf weitere grundlegende Entwicklungsbereiche haben. So wird bei der Feststellung des Förderbedarfes neben der Kognition auch die Kind-Umfeld-Situation analysiert und Diagnostik in den Bereichen der Kommunikation, Motorik, Wahrnehmung, Lern- und Arbeitsverhalten sowie Emotionalität/Sozialität herangezogen (vgl. Handreichung, 2011; 23).

2.2 Begriffserklärung Erzählen

Unter dem Begriff ‚Erzählen‘ werden im alltäglichen Sprachgebrauch sehr viele verschiedene Formen von Äußerungen zusammengefasst. Um diese unterschiedlichen Bedeutungen und Kontexte inhaltlich und sprachlich voneinander abzugrenzen, erscheint es notwendig, eine Differenzierung vorzunehmen. An dieser Stelle soll nicht auf das literarische Erzählen, sondern auf das alltägliche mündliche Erzählen Bezug genommen werden. Konrad Ehlich schlägt vor, zwischen zwei Typen des Erzählens zu unterscheiden. So kann das Erzählen (1) als alltagssprachliche Verwendung sowie als sprachliche Tätigkeiten wie Berichten, Mitteilen, Schildern, Beschreiben und Wiedergeben im weiten Sinne verstanden werden (vgl. Ehlich, 1980; 129). Im engen Sinne besitzt das Erzählen (2) „distinktive charakteristische[…] Funktionen und Strukturen“ und dient der „Herstellung einer gemeinsamen Welt“ (ebd.; 129 f.) zwischen Erzähler und Zuhörer.

Eine Erzählung umfasst eine Situation, in der sich mindestens zwei Personen sprachlich austauschen. Die Erzählung bildet dabei eine komplexe, über die Grenzen einzelner Aussagen hinausgehende Einheit, bei der mindestens ein Erzähler und ein Zuhörer erforderlich sind. Erzählungen weisen einen typischen inneren Aufbau auf und grenzen sich aufgrund dieser Eigenschaft vom Gespräch ab, bleiben jedoch immer Teil eines Gespräches (vgl. Ohlhus & Stude, 2009; 471 f.). Ohlhus und Stude charakterisieren mündliches Erzählen anhand von drei Aufgabenfeldern. Die erste Aufgabe stellt die Kontextualisierung dar, welche die Organisation, Relevanz und Interaktion der Erzählung beinhaltet. Demnach wird eine Unterhaltung durch gemeinsames Agieren organisiert, sodass für alle Beteiligten erfassbar seinen muss, wo Anfang und Ende der Erzählung sind bzw. wie die Rollen innerhalb der Erzählung verteilt sind (Zuhörer, Erzähler). Das zweite Aufgabenfeld betont den Aufbau der Erzählung. Durch Anbahnung, Ausgestaltung und Auflösung wird eine innere Struktur bestimmt, die dem Zuhörer Einsichten ermöglichen und für weiteres Zuhören ermuntern. Ein drittes Aufgabenfeld bezieht sich auf die Ebene der konkreten Formulierung, welche den Einsatz sprachlicher und nicht-sprachlicher Formen umfasst. Diese Formen sprachlicher Markierungen sollen dem Zuhörer dabei helfen, dem Beitrag zu folgen und ihn zu verstehen (vgl. ebd.; 471 ff.). Weiter können Erzählungen durch sprachliche und stilistische Mittel als spannend, interessant und unterhaltsam gestaltet werden. Der Einsatz von Adverbien wie ‚plötzlich‘ kann die Erwartungshaltung steigern. Direkte Rede, Adjektive wie ‚lustig‘, ‚schön‘ etc. oder Mimik und Gestik dienen dazu, psychologische Nähe herzustellen und die emotionale Seite der Erzählung zu betonen (vgl. Boueke, 1995; 72 f.). Die beschriebenen Aufgabenfelder verdeutlichen, „welche Aspekte narrativer Kompetenzen es in der Betrachtung des Erwerbs sowie im Rahmen einer Didaktik des mündlichen Erzählens zu berücksichtigen gilt“ (Ohlhus & Stude, 2009; 473).

Hurrelmann befasst sich auf empirischer Seite mit der mündlichen Erzählfähigkeit. In ihrem Verständnis von Erzählen betont sie die Rolle des Zuhörers innerhalb eines Erzählaktes. Sie versteht Erzählen als „sprachliche Vergegenwärtigung einer zurückliegenden singulären Erfahrung des Sprechers, die dem Hörer (den Hörern) die Teilnahme an fremdem Erleben ermöglicht“ (Flader & Hurrelmann, 1984; 224 f.). Diese „sprachliche Vergegenwärtigung“ wird durch eine inhaltliche Gestaltung der Erzählung vollzogen. Durch Erzählungen übermittelt der Erzähler Erfahrungen, Wissen und Gefühle und will andere daran teilhaben lassen. Der Erzähler verfolgt demnach eine Absicht und erwartete eine Reaktion seitens seiner Zuhörer. Der Hörer ist „keineswegs unbeteiligt am Zustandekommen einer Erzählung“ (ebd.; 224 f.). Er bekundet sein Verstehen und zeigt sein Interesse an der Erzählung, beispielsweise durch Hörsignale, kurze Kommentare und Nachfragen. Kinder erzählen von ihren Erfahrungen und Gedanken umso lieber, wenn ihnen zugehört wird und sie die Aufmerksamkeit und Zuwendung durch ihren Zuhörer spüren. Erzählen und Zuhören bedingen einander also und stellen gemeinsam eine gesellige Praxis des kommunikativen Austauschs dar (vgl. Merkelbach, 2014; 12).

Die Definitionen von Hurrelmann können um den Erfahrungsbereich des Erzählers erweitert werden. Demnach sind nicht nur die „zurückliegenden singulären Erfahrung des Sprechers“ charakteristisch für eine Erzählung. Auch Traumgeschichten, Phantasiereisen oder ‚Quatschgeschichten‘ kommen einer Erzählung gleich. Eine Erzählung muss nicht zwangsläufig aus dem eigenen Erfahrungsrepertoire entsprungen sein oder sich auf die Wiedergabe eines vergangenen Ereignisses beziehen. Sie kann auch einer Nacherzählung zugrunde liegen oder ein Produkt der Phantasie sein. Becker (2005; 59) beschreibt Erzählen „als rekonstruktive Gattung […] narrativ strukturierte[r] Sachverhalte“ und unterscheidet verschiedene Formen und Arten dessen, was durch das Erzählen rekonstruiert wird. Zu diesen Erzählformen zählen auch fiktive Inhalte, die nicht unmittelbar aus dem eigenen Erfahrungsbereich entsprungen sind und als Gegenstand für eine Erzählung genutzt werden können. Nach Becker lassen sich grundsätzlich zwei Erzählformen unterscheiden: eine Erzählung kann eine primäre Produktion sein, d.h. sie ist ein unabhängiges Produkt, zu dem es keine direkte Vorlage gibt. Ihre Inhalte können aus der realen aber auch fiktiven Welt stammen. Dazu zählen Phantasie- oder Erlebniserzählungen. Besitzt eine Erzählung narrativ strukturierte Vorlagen, stellt sie eine Reproduktion dar. Hierzu zählen Bild/er- oder Nacherzählungen. Laut diesem Verständnis von Erzählformen4 lassen sich Erzählungen je nach Fiktion (fiktiv/nonfiktiv) und Vorlage (visuell/auditiv) unterscheiden (vgl. ebd.).

Hurrelmann hat anhand der Analyse kindlicher Erzähltexte drei verschiedene Geschichtenteile (Einleitung, Hauptteil, Schluss) nachgewiesen (vgl. Merkelbach, 2014; 12). Diese lassen sich noch feiner kategorisieren. So nutzen fortgeschrittene Geschichtenerzähler mehr als sechs Teile, um ihre Erzähltes zu strukturieren. Eine Übersicht5 zu den verschiedenen Geschichtenteilen liefert Schelten-Cornish (vgl. 2015; 14).

In Laufe der kindlichen Entwicklung werden die Geschichten zunehmend differenzierter. In wieweit diese Differenzierung geschieht, hängt dabei von verschiedenen Voraussetzungen ab.

2.2.1 Voraussetzungen für mündliche Erzählfähigkeit

Die Erzählfähigkeit ist ein komplexer Prozess, der sich im Rahmen der kindlichen Entwicklung entfaltet. Bevor im nächsten Kapitel auf die einzelnen Entwicklungsstufen eingegangen wird, sollen hier zunächst verschiedene Voraussetzungen vorgestellt werden, die einen Einfluss auf den Erwerb von Erzählfähigkeiten haben können.

Eine wichtige Voraussetzung für das Erzählen von Geschichten stellt nach Schelten-Cornish (2015; 15) die Theory of Mind dar. Das Kind weiß, dass der Zuhörer nicht den gleichen Wissenstand hat und berücksichtigt dies in seiner Erzählung. Es versprachlicht wichtige Informationen zum Sachverhalt und gestaltet die Geschichte für den Zuhörer nachvollziehbar. Um ein Thema für eine Geschichte als ‚erzählwürdig‘ zu klassifizieren, bedarf es eines altersgemäß entwickelten Weltwissens. Das Kind versteht, dass eine Situation zum Beispiel ‚gefährlich‘ ist und greift dies in einer Erzählung auf. Währenddessen bedarf es eines Erinnerungsvermögens für Einzelheiten und der Fähigkeit, Wesentliches von Unwesentlichem abzugrenzen. Versprachlicht das Kind nur Beschreibungen statt Geschichten, kann dies ein Indiz dafür sein, dass es die wesentlichen Aspekte nicht als solche wahrnimmt. Um eine Erzählung für den Zuhörer nachvollziehbar aufzubauen, braucht es die Fähigkeiten, Teile einer Geschichte in der richtigen Reihenfolge wiederzugeben sowie Zusammenhänge zu erkennen und logische Schlussfolgerungen abzuleiten. Erzählen als zentrale Sprachkompetenz setzt voraus, dass das Kind das Vorhaben oder die Aufgabe sprachlich versteht und die Inhalte verständlich darstellt. Das Kind muss demnach über semantische/lexikalische, phonetisch/phonologische, pragmatische und morphologische/syntaktische Kenntnisse verfügen. Zum Beispiel werden Reihenfolgen und Zusammenhänge durch Pronomen, Bindewörter im Sinne der Kohäsion6 verständlich gemacht. Neben Kohäsion ist die Kohärenz7 eine weitere Voraussetzung für das Erzählen. Durch die Grammatik und Struktur der Geschichte wird eine Erzählung verständlich. Der sinnbildliche ‚rote Faden‘ liefert dem Zuhörer die wichtigen Hintergrundinformationen und erleichtert das Verständnis (vgl. Schelten-Cornish, 2015; 15). Die Betrachtung dieser Voraussetzungen für das mündliche Erzählen verdeutlicht seine Komplexität und bestätigt, dass es sich dabei nicht nur um eine lapidare Tätigkeit handelt, sondern um eine umfassende kommunikative Aufgabe. Jedoch sind nicht nur die einzelnen Voraussetzungen wichtige Determinanten für das Erzählen, auch der Rahmen und die Bedingungen, welche das Erzählen veranlassen sollen, beeinflussen den Erwerb der Erzählfähigkeit und die Erzählung an sich. Mögliche Erzählanlässe und die Rolle der involvierten Akteure werden in Kapitel 2.4 exemplarisch dargelegt. Folgend werden zunächst die einzelnen Entwicklungsstufen mündlichen Erzählens, die ein Kind durchläuft, in den Fokus genommen.

2.2.2 Entwicklungsstufen des Erzählens

Erzählen ist eine komplexe sprachliche Handlung, die viele Voraussetzungen erfordert. Wie sich die Erzählfähigkeiten von Kindern entwickeln, wurde in verschiedenen Studien untersucht. Insgesamt zeigen die Studien ähnliche Entwicklungsverläufe mit hervortretenden Meilensteinen. Jedoch ist an dieser Stelle anzumerken, dass sich die Erzählfähigkeit von Kindern unterschiedlich schnell und in einer unterschiedlicher Ausprägung vollzieht. Aus diesem Grund stellt die folgende Darstellung zur Erzählentwicklung lediglich eine Orientierung dar. Altersangaben stellen Richtwerte dar und sollten nicht als Norm interpretiert werden.

Die generelle Erzählfähigkeit entwickelt sich bei Kindern mit zunehmenden sprachlichen Fähigkeiten ständig weiter. Bis ein Kind seine Geschichten systematisch strukturiert und thematisch orientiert an den Rezipienten übermittelt, durchläuft es nach Larson und McKinley (1995) verschiedene Entwicklungsstufen. Im Alter von zwei Jahren beginnt das Kind eigene Äußerungen thematisch klar zuzuordnen. Dies geschieht allerdings noch in Form isolierter Beschreibungen mit oft verblosen Sätzen (Bsp.: „Spielplatz“, „Papa Auto kaputt“). Im Alter von ca. zwei bis drei Jahren befindet sich das Kind in der Regel. in der ersten Stufe des Erzählens. Das Kind benennt oder beschreibt Geschehnisse und Sachen noch ohne klare Weiterentwicklung. Dabei lässt sich noch kein echter Gebrauch von Teilen einer Geschichte beobachten (Bsp.: „da bauen sie ein Haus… da legen sie Dächer drauf“). In der zweiten Entwicklungsstufe, etwas im Alter von drei bis vier Jahren äußert sich das Kind zu zentralen Themen, die einzelne Geschichtenteile erkennbar enthalten („Heute hat mich Mama abgeholt. Wir sind in den Zoo gegangen. Dann haben wir Eis gegessen“). Kurze, aber vollständige Geschichten mit verursachendem Geschehen, die Kinder im Alter von fünf bis sieben Jahren produzieren, sind charakteristisch für die dritte Entwicklungsstufe. Die Kinder entwickeln ihre Erzählung nun logisch weiter, äußern Lösungsversuche und kommen zu einem Ergebnis. Zunehmend werden Nebensatzkonstruktionen mit Konjunktionen wie: ‚weil‘, ‚dass‘, ‚bis‘ in die Erzählung eingebettet. Mit steigenden sprachlichen und kognitiven Fähigkeiten werden die Erzählungen der Kinder strukturierter und differenzierter. In der Vierten Stufe wird die Erzählung durch interne Reaktionen („sie hatte Angst“) erweitert. Ein Abschluss ist charakteristisch für die fünfte Entwicklungsstufe („jetzt möchte sie nie mehr in den Wald“). Mit Schuleintritt nimmt die strukturelle Komplexität der Erzählung zu. In diesem Alter lassen sich bei den Kindern mindestens sechs Geschichtenteile erkennen. Die für eine Geschichte typische Einleitung („Es war einmal“ oder „Gestern war ich lange draußen“) stellt die letzte Erzählstufe dar. Am Ende der Schuleingangsphase sind die wichtigsten Stufen der Erzählkompetenz zumeist abgeschlossen (vgl. Schelten-Cornish, 2015; 16 f.).

Der Erwerb von mündlicher Erzählfähigkeit findet in konkreten Situationen statt. Einzelne, lokal in das Gespräch eingebundene Äußerungen werden zunehmend in sich strukturiert und ausgebaut. Um in die nächsthöhere Stufe zu gelangen, greift das Kind neben bisher erlangten Fähigkeiten auf Impulse seiner unmittelbaren Umwelt zurück. Sowohl die Interaktion, in der das Kind selbst als Sprecher auftritt, als auch Modelle von Erzählungen kompetenter Sprecher, sind wichtige Ressourcen für die Entwicklung der Erzählfähigkeit. Weitere wichtige Faktoren stellen die explizite Instruktion sowie die Atmosphäre dar, welche die Erzählfähigkeit unterstützen und vorantreiben soll (vgl. Ohlhus & Stude, 2009; 474). So können alltägliche Gespräche zwischen Erwachsenen und Kindern als ‚Motor‘ des Erzählerwerbs betrachtet werden, wenn der erzählkompetente Erwachsene eine kommunikationsfreudige Situation schafft und das Kind unter Berücksichtigung seines individuellen Entwicklungsniveaus unterstützt (vgl. Merkelbach, 2014; 17).

2.2.3 Mündliches Erzählen in der Schule

Durch die Förderung mündlicher Erzählfähigkeit werden nicht nur individuelle Erzählfähigkeiten angeregt, Erzählmuster erworben und Erzählstrukturen entwickelt, auch die Qualität des schulischen Lernens kann positiv beeinflusst werden. Mündliches Erzählen gilt als ein wichtiger Lernbereich der Grundschule und wird in den Lehrplänen und Richtlinien des Landes Sachsen-Anhalt gefordert. Im Fachlehrplan Deutsch wird dem Sprachgebrauch in den prozessbezogenen und inhaltsbezogenen Kompetenzen ein hoher Stellenwert eingeräumt. Trotz der Verankerung in Lehrplänen und Rahmenrichtlinien kritisieren Claussen und Merkelbach (2014) die Stellung der mündlichen Erzählfähigkeit in der Schule und sieht die Gefahr, dass die mündliche Erzählfähigkeit als Vorstufe oder „Mittel zum Zweck“ (ebd.; 35 f.) für die Förderung der schriftlichen Erzählfähigkeit degradiert wird. Er fordert, dass mündliches und schriftliches Erzählen zumindest gleichrangig im fächerübergreifenden Unterricht Beachtung finden muss. Dies schließt aber das Verschriftlichen der Erzählungen nicht kategorisch aus, falls die Schüler ihre Erzählungen aufschreiben wollen. Das Verschriftlichen ist aber nicht zwingend vorgesehen, da das mündliche Erzählen ein eigenständiges Lernfeld darstellt, welches nicht nur im Deutschunterricht seine Berechtigung hat. Darüber hinaus sollte das Erzählen „als gesellige Praxis, als aktiver und offener Bereich einer narrativen Unterrichtskultur in der Grundschule verankert und entfaltet werden, und zwar mit dem Ziel authentischer Textproduktionen“ (ebd.; 36 f.). Claussen und Merkelbach verstehen unter Erzählen „als gesellige Praxis“ verschiedene Lernsituationen, in denen sich die Kinder Geschichten ausdenken und gegenseitig erzählen. Das Erzählen selbst wird zum Lerngegenstand. Authentische Textproduktion bezeichnet die von den Kindern selbst hervorgebrachte Geschichte, in der ihr individuelles Sprachvermögen zum Ausdruck kommt. Diese ist in dem Sinne prozessorientiert, als das mündliche Erzählen einen sich entfaltenden Prozess darstellt, der günstiger Bedingungen bedarf.

2.2.4 Förderung mündlicher Erzählfähigkeit im Unterricht

Um die mündliche Erzählfähigkeit zu fördern, können Pädagogen in zahlreichen unterschiedlichen Situationen Sprechanlässe schaffen und einen Dialog ermöglichen. Dabei wirken sich ein vertrauensvolles Unterrichtsklima und eine aufmerksame Haltung günstig auf die Entwicklung der Erzählkompetenzen aller Beteiligten aus: „Der Schüler, der sich mit seiner Person in die Erzählung hineinbegebe und sich dabei gehörig exponiere, müsse die Gewissheit haben, dass er sich fallen lassen darf, weil er von dem Vertrauen seiner Mitschüler getragen werde“ (Merkelbach, 2014; 14). Um eine in diesem Sinne aufmerksame und vertrauensvolle Haltung aufzubauen, sind Gesprächsregeln für den Dialog gemeinsam festzulegen. Entspannte Erzählsituationen, die Berücksichtigung der unterschiedlichen Erzählstufen sowie der Interessenlage und Lebensumwelt der Schüler, sind wichtige Bedingungen für die Entfaltung ihrer Erzählfähigkeit. Wintgens (1980) hat ein Konzept zur Förderung der mündlichen Erzählfähigkeit für die Schule entwickelt, welches aus drei Phasen besteht. Die erste Phase beschreibt Vorübungen zum Erzählen, welche Erzählspiele als Lockerungsübung vorsehen. In Phase zwei bereitet der Schüler seine Erzählung nach einem Strukturplan vor, um „Einsichten in Erzählbedingungen und -strukturen zu gewinnen“ (ebd.; 15). In dieser Phase darf die Erzähllust der Kinder nicht durch eine starre Struktur gehemmt werden. Phase drei stellt die Anwendungsphase dar, in der alle Erzählinhalte und -formen gewählt werden können. Dies kann zum Beispiel im Rahmen von Erzählstunden oder im Morgenkreis erfolgen. Im Fokus steht dabei die Funktion des Erzählens im Alltag. Die Lehrperson fungiert als Vorbild des mündlichen Erzählens. In Lehrervorträgen lernen die Schüler Ausdruckmöglichkeiten durch Internation, Mimik, und Gestik kennen und erhalten Einblick in verschiedene Erzählstrukturen. Erzählvorbilder erzeugen Muster, an denen sich die Schüler orientieren (vgl. Merkelbach, 2014; 14f).Um die Erzählatmosphäre ‚frisch und lebendig‘ zu gestalten, erweist es sich als günstig, vielfältige Erzählsituationen im Tagesablauf zu verankern. Claus Claussen hat dazu verschiedene Möglichkeiten für den Unterricht zusammengetragen. Zu diesen Erzählsituationen und -ideen zählen u. a.: Erzählen nach selbstgemalten Bildern, Kindheitserinnerungen, Krankheitsgeschichten, erfundene Geschichten, Traumreisen, Märchen, Erzählen mit Handpuppen, Reihum-Erzählen, Kleider-Geschichten, Schachtel-Geschichten und Schlusssatz-Erzählungen (vgl. ebd.; 20 ff.). Beim mündlichen Erzählen entsteht ein Wechselspiel zwischen Zuhörer und Erzähler. Das aktive Zuhören ist eine wichtige sprachliche Fähigkeit und sollte stets im Kontext des Erzählens Aufmerksamkeit beigemessen werden. Somit sind nicht nur günstige Erzählsituationen, sondern auch günstige Hörsituationen zu schaffen. Diesbezüglich ist eine gute Höratmosphäre mit möglichst wenigen auditiven Störreizen zu schaffen. Die Erzählsituation schafft auch eine Hörsituation, diese sollte aber auch zeitlich klar begrenzt sein, da das Zuhören von den Schülern viel Konzentration verlangt und auf Dauer zur Ermüdung führen kann. Aus diesem Grund sind zwischenzeitige Erholungspausen oder Rollenwechsel erforderlich (vgl. Hagen, 2008; 9). Weiter erleichtert den Schülern ein Hörauftrag das gezielte Fokussieren ihrer Aufmerksamkeit. Das bildgestützte Erzählen ermöglicht es den Schülern, das gehörte Wort visuell zu erfassen und dies kann sich günstig auf Konzentration und Aufmerksamkeit auswirken. Eine Methode des bildgestützten Erzählens stellt die Arbeit mit dem Kamishibai dar, die im Folgenden näher erläutert wird.

2.2.5 Erzählfähigkeit von Schülern mit den Förderschwerpunkt Lernen

Die Handreichung zur sonderpädagogischen Förderung in Sachsen-Anhalt sieht einen Zusammenhang zwischen dem Förderschwerpunkt Lernen und Beeinträchtigungen in weiteren relevanten Bereichen. Darunter wird auch der Bereich Sprache und Kommunikation gefasst und in den „Fokus sonderpädagogischer Förderung“ (Handreichung, 2011; 26) gerückt. Vielfach stehen Beeinträchtigungen im Lern- und Leistungsverhalten in Verbindung mit Einschränkungen der sprachlichen Fähigkeiten, die in allen Sprachebenen8 auftreten können und als wichtige Voraussetzungen für die Entwicklung der Erzählfähigkeit gelten (vgl. Schelten-Cornish, 2015; 15). Weiter haben kognitive Ressourcen einen bedeutenden Einfluss auf erzählrelevante Fähigkeiten, wie z. B. Perspektivübernahme, Gedächtnis- sowie Speicherleistung und die Entwicklung einer Geschichtenstruktur. So lässt sich schlussfolgern, dass die Erweiterung der Erzählfähigkeit und somit auch die Förderung kommunikativer Kompetenzen für Schüler mit dem Förderschwerpunkt Lernen besonders relevant sind.

2.3 Was ist ein Kamishibai?

Das Kamishibai ist ein mobiles Medium für das bildgestützte Erzählen und hat seinen Ursprung in Japan. Wörtlich übersetzt bedeutet Kamishibai ‚Papiertheater‘ (Kami= Papier, shibai = Theater). Damit sind zwei wesentliche Eigenschaften benannt: Das Papier, welches als stabile Bildkarten oder -streifen mit den einzelnen Szenen eine Geschichte illustriert und der bühnenartige Kamishibai-Rahmen, der eine Theateratmosphäre erzeugt. Im deutschsprachigen Raum findet das Wort ‚Papiertheater‘ eher Verwendung für Spielformen mit beweglichen Papierformen. Diese bildet bei der Arbeit mit dem Kamishibai nur eine von vielen Verwendungsvarianten. In unserem Sprachgebrauch ist eher der Begriff „Erzähltheater“ (Boetius, 2016; 7) geläufig. Buddhistische Mönche nutzten imzwölften. Jahrhundert das Kamishibai, um ihren Glauben, ihre moralischen und religiösen Weisheiten, mit Hilfe von Bilderrollen der zumeist analphabetischen Bevölkerung nahe zu bringen. Später wurde das Kamishbai von Händlern im ganzen Land zur Steigerung des Verkaufs von Waren verwendet. In den 1950er Jahren gab es in Japan viele tausende Geschichtenerzähler, die mit dem Kamishibai auf dem Gepäckträger ihres Fahrrads von Ort zu Ort führen und Handel betrieben. Das Erzähltheater diente dem ‚Anlocken‘ der Kundschaft. Diesbezüglich wurden schöne und spannende Bildgeschichten erzählt und der Kunde zum Wiederkommen ermutigt (vgl. Schüler, 2015; 13 f.). Im Jahre 1953 wurde das Fernsehen in Japan eingeführt. Zu diesem Zeitpunkt gab es ca. 10.000 Kamishibai-Erzähler, die täglich rund fünf Millionen Menschen erreichten. Durch die Ausbreitung des Fernsehens in den sechziger Jahren verschwand das Kamishibai in Japan weitgehend. Heute erfährt das Kamishibai in Japan aber auch in Europa eine Renaissance und trifft in Bildungseinrichtungen wie Kindergarten und Schulen auf große Beliebtheit (vgl. ebd). Das Erzähltheater besteht aus einem wechselseitigen Rahmen mit zwei Flügeltüren. Durch eine Öffnung können mehrere Bilder (Bilderserien) hineingestellt und während des Erzählens nacheinander herausgezogen werden. Somit wird die Aufmerksamkeit des Zuhörers auf den bildlich dargestellten Kern der gesprochenen Worte fokussiert. Umgekehrt dient das Bild dem Erzählenden als Gedächtnisstütze für eigene innere Bilder. Somit verstärkt das Kamishibai sowohl die inneren als auch die äußeren Bilder in ihrer Wirkung. Diese Wechselwirkung unterstützt das freie Erzählen, führt von vorbereiteten Geschichten zur eigenen Sprache und lässt ein ‚Kino im Kopf‘ entstehen. Das präsentieren von Bildern mithilfe des Kamishibai hat einen starken Aufforderungscharakter und ist grundsätzlich auf einen Dialog ausgerichtet (vgl. Boetius, 2016; 7).

[...]


1 Imagination bezeichnet die Umsetzung des Geschehens in die eigene Vorstellung (vgl. Hering 2008: 57).

2 Antizipation beschreibt eine aktive Beteiligung durch die innere Vorwegnahme des Geschehens (vgl. ebd.).

3 Im Folgenden wird zur Vereinfachung jeweils die männliche Form gewählt. Sofern Schülerinnen und Schüler nicht explizit benannt werden, sind mit dem Begriff Schüler sowohl Jungen also auch Mädchen gemeint.

4 Übersicht der verschiedenen Erzählformen siehe Anhang S. I

5 Übersicht zu den Teilen einer Geschichte nach Schelten-Cornish (2015) siehe Anhang S. II

6 Kohäsion bezieht sich auf die Oberflächenstruktur, also den sprachlichen Zusammenhang zwischen den einzelnen Sätzen (vgl. Schelten-Cornish 2015: 12).

7 Kohärenz bezieht sich auf die Tiefenstruktur (Grammatik) einer Geschichte. Aus Sicht der Kohärenz ist eine Geschichte „ein komplex strukturiertes Ganzes, dessen Durchgliederung kommunikativ, konzeptionell und thematisch begründet wird“. (Schelten-Cornish 2015, S. 11f)

8 Diese Sprachebenen umfassen: Phonetik-Phonologie, Lexik-Semantik, Morphologie-Syntax, Kommunikation-Pragmatik (vgl. Wirth 2000; 153f). Übersicht dieser Ebenen siehe Anhang S. III

Ende der Leseprobe aus 39 Seiten

Details

Titel
Förderung der mündlichen Erzählfähigkeit in einer 4. Klasse einer Förderschule
Veranstaltung
Lehramt Förderschulen
Note
1,0
Autor
Jahr
2017
Seiten
39
Katalognummer
V961531
ISBN (eBook)
9783346311344
ISBN (Buch)
9783346311351
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Selbstkonzept Förderschwerpunkt Staatsexamen Hausarbeit Kamishibai Lernen Erzählfähigkeit
Arbeit zitieren
Gesine Köhlmann (Autor:in), 2017, Förderung der mündlichen Erzählfähigkeit in einer 4. Klasse einer Förderschule, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/961531

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