Das 21. Jahrhundert - Ein Jahrhundert Asiens?


Seminararbeit, 1997

16 Seiten, Note: bestanden


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

EINLEITUNG

1. NEUES SELBSTBEWUßTSEIN: ASIANISMUS

2. ERFOLGSSTORY: WIRTSCHAFTLICHE ENTWICKLUNG

4. KONKRET: DIE VOLKSREPUBLIK CHINA

RESÜMEE

LITERATURVERZEICHNIS

Einleitung

Der große Drache hat den kleinen Tiger gefressen: Vor wenigen Wochen, am ersten Juli dieses Jahres, hat China die Macht in der ehemalig britischen Kronkolonie Hongkong übernommen. Die Briten, die mit dem Empire einst das größte Reich aller Zeiten kontrollierten, schauen nun zusammen mit dem Rest Europas, das sich über Jahrhunderte als Nabel der Welt betrachten konnte, sowohl ängstlich als auch fasziniert, nach Osten. An den Bedeutungsverlust nach dem Zweiten Weltkrieg, als die neuen Weltmächte USA und UdSSR die Führung übernahmen, hatten sich die Europäer gewöhnt und ihre Positionen im Kalten Krieg gefunden. Seit den Umbrüchen Anfang der neunziger Jahre mit dem Ende der Blockkonfrontation, die Europa einerseits zwar teilte, es aber andererseits für die Supermächte besonders interessant machte, erfährt der alte Kontinent immer weniger Aufmerksamkeit. Für Skeptiker geht wieder einmal ein Gespenst um in Europa: Die Geschichte vom asiatischen Jahrhundert, in dem die Staaten des Fernen Ostens den Westen geistig, politisch und natürlich wirtschaftlich zumindest herausfordern und vielleicht sogar dominieren werden.1 Dies träfe vor allem die Europäer, denn in der pessimistischsten Version soll sogar ein pazifisches Jahrtausend anbrechen, in dem sich die Amerikaner und Japaner noch stärker nach Osten orientieren, deswegen nach Westen schauen, und dabei Europa glatt übersehen könnten. Optimisten verweisen dagegen ständig auf die schier unerschöpflichen Märkte Asiens und sind zuversichtlich, daß die Europäer sich von diesem Kuchen einen gehörigen Anteil abschneiden werden. So "schwärmen beispielsweise Kosmetikunternehmen, wenn sie an den chinesischen Markt denken, von einer Milliarde Zahnbürsten und zwei Milliarden Achselhöhlen." Vor diesem Hintergrund sollen im ersten Kapitel die im Westen viel diskutierten asiatischen Werte beleuchtet werden. Diese würden vermutlich aber gar nicht wahr genommen, gäbe nicht die imposante wirtschaftliche Entwicklung der Region Anlaß zum Nachdenken. Die Ursachen dieser Erfolgsstory sollen dementsprechend im zweiten Kapitel etwas ausführlicher unter die Lupe genommen werden. Das dritte Kapitel ist dann abschließend der Zukunft der Volksrepublik China gewidmet, die sich aus mehreren Gründen im nächsten Jahrtausend zum wirtschaftlichen und politischen Gravitationszentrum der Region entwickeln könnte.

1. Neues Selbstbewußtsein: Asianismus

Es gibt eine neue Bezeichnung für den Westen: NDC´s - newly decaying countries - die verrottenden Länder des Okzidents.2 Solch schrille Töne sind die Begleiterscheinungen "eines neuen und eigenständigen Asienbewußtseins (Asianismus)",3 das sich vom hyperindividualistischen Westen, der "an seinem Verfall arbeitet"4 abzugrenzen versucht. Ihre Protagonisten sind vor allem der Gründervater Singapurs Lee Kuan Yew und der malaiische Premierminister Mahathir Mohammed. Letzterer identifiziert in seinem Buch "The Voice of Asia" Hedonismus als die Ursache für den moralischen Verfall der westlichen Gesellschaften. Diese seien "durchsetzt von Familien mit allein erziehenden Eltern, von gefördertem Inzest, von Homosexualität, von unverheiratetem Zusammenleben, von hemmungsloser Habgier, von fehlender Achtung gegenüber anderen und - natürlich - von der Ablehnung religiöser Lehren und Werte."5 In der chinesischen Variante heißt das: "China kann nein sagen", so der Name eines Bestsellers. Aber auch die Titel "Warum China nein sagen kann", "Wie China nein sagen kann" und "China kann noch nein sagen" verkaufen sich derzeit sehr gut.6

Ist dies nun der Auftakt zum von Samuel P. Huntington prophezeiten Kampf der Kulturen,7 der die Weltpolitik im nächsten Jahrhundert bestimmen soll, oder gibt es noch andere Motive für solche Attacken?

Zunächst: Die genannten Zitate sind keineswegs Ausdruck einer asiatischen Mehrheitsmeinung. Diese gibt es gar nicht, denn "Im Vergleich zu Asien ist", beispielsweise, "Europa geradezu eine Region aus einem Guß."8 Die asiatische Welt mit ihren 30 Staaten verschiedenster Größe reicht politisch von Demokratien wie Südkorea bis zur totalitären Diktatur in Nordkorea, in der Wirtschaft reicht das Pro-Kopf-Einkommen von über 34 000 Dollar in Japan bis zu 200 Dollar in Vietnam. Dieser Heterogenität entspricht die kulturelle Vielfalt von Hindus über Moslems, Buddhisten; Konfuzianisten, Schintoisten bis zu Christen,9 die veranschaulicht, daß es hier kaum eine einheitliche Meinung geben kann. So kommt es auch, daß einerseits Lee Kuan Yew behauptet, das westliche demokratische Konzept sei aufgrund kultureller Unterschiede in Asien unbrauchbar,10 während der koreanische Politiker Kim Dae Jung entgegenhält, daß Asiens demokratische Philosophien genauso tiefgreifend seien, wie die des Westens.11

Nicht das kulturelle Erbe, sondern der Widerstand autoritärer Führer sei das größte Hindernis für die Demokratie, meint Kim, und zielt damit auf diejenigen, die versuchten, unter dem Vorwand von Kultur und Geschichte die Forderungen ihrer Untertanen nach demokratischen Reformen schon im Keim zu ersticken.

Gleichwohl sei die Wertedebatte auch ein Bemühen um den Erhalt der eigenen Identität vor dem Hintergrund eines durch den ökonomischen Aufstieg provozierten rapiden gesellschaftlichen Wandels, der erst einmal verkraftet werden müsse. Wer sollte sich also zur Abgrenzung der eigenen Identität besser eignen, als die früheren westlichen Kolonialmächte? Im ehemals selbst imperialistischen Japan, wo die Modernisierungsschübe bereits im letzten Jahrhundert begannen, und das aufgrund seiner weltpolitischen Bedeutung ein sehr viel größeres Selbstbewußtsein hat, wird die Asianisierungsdebatte jedenfalls wesentlich distanzierter gesehen.12

2. Erfolgsstory: Wirtschaftliche Entwicklung

Was haben die südostasiatischen Schwellenländer Hongkong, Singapur, Taiwan und Korea, sowie die Entwicklungsländer Malaysia, Thailand, Indonesien und China gemeinsam? Neben ihrer geographischen Lage natürlich ein weit überdurchschnittliches wirtschaftliches Wachstum: Das Bruttoinlandsprodukt je Einwohner der Region legte von 1973 bis 1993 im Schnitt jährlich um 6,1 Prozent zu, also schneller als in der Bundesrepublik Deutschland zu Zeiten des Wirtschaftswunders in den fünfziger Jahren. Ihr gemeinsamer Anteil am Welthandel ist in den letzten zwanzig Jahren von 4,9 auf 12,3 Prozent angestiegen. Dabei verringerte sich gleichzeitig der Anteil der Produkte, die vor allem von den eigenen natürlichen Ressourcen und billigen Arbeitskräften profitieren, von 73 auf 54 Prozent, während diejenigen Erzeugnisse, zu deren Fertigung technologisch hochgerüstete moderne Produktionsstätten mit qualifizierten Arbeitskräften nötig sind, im gleichen Umfang zulegten.13 Wenn man also unter internationaler Wettbewerbsfähigkeit die Fähigkeit eines Landes versteht, "seinen Weltmarktanteil zu erhöhen und seine Exportstruktur hin zu höherwertigen Gütern zu verändern", waren die Südostasiaten "international außerordentlich wettbewerbsfähig."14

Diese Wettbewerbsfähigkeit scheint aber bisher weitgehend Folge ihres wirtschaftlichen Aufholprozesses gewesen zu sein, der in dem noch in den siebziger Jahren recht niedrigen Ausgangsniveau begründet lag.

Hinzu kamen hohe Raten der Kapitalbildung und schnelle Strukturwandel durch den Einsatz importierter Technologien sowie die Lernfähigkeit im Umgang damit.15 Die Voraussetzungen des Aufholprozesses waren vor allem auf Export gerichtete und marktwirtschaftlich verfaßte Wirtschaftsordnungen, gezielte staatliche Förderungen der Industrie, politische Stabilität und nicht zuletzt finanzielle Rahmenbedingungen, die Investitionen ermöglichten ohne aber Inflation zu verursachen, oder die Anpassungsfähigkeit gegenüber äußeren Veränderungen, wie z.B. den Ölpreiskrisen, aufs Spiel zu setzen.16

Scheinbar wurde der Aufholprozess auch durch die sogenannten "Entwicklungsdiktaturen" begünstigt. Diese haben nämlich leistungsfähige, korruptionsarme und am langfristigen Wirtschaftswachstum ausgerichtete Bürokratien geschaffen, die in wirtschaftlichen Krisenzeiten vergleichsweise drastische Maßnahmen ergreifen konnten. Trotzdem scheint "der seit einigen Jahren anhaltende Demokratisierungsprozess in Südostasien ... den Wachstumsraten jedenfalls nicht abträglich zu sein."17

Im Laufe dieses Prozesses wuchsen bis heute vor allem Taiwan und Korea von Billiglohnländern zu fast erwachsenen Industrienationen heran, die ihrerseits nun hochtechnologische Produkte herstellen und arbeitsintensive Prozesse in das billig produzierende Ausland, wie etwa die Volksrepublik China, verlagern.18 Aber dieses Erwachsenwerden hat "den Tigern die Krallen abgewetzt": Die Arbeiter streiken für höhere Löhne, die mittlerweile der Produktivität davonrennen, und die Arbeitgeber päppeln sich neue Konkurrenten heran, indem sie in billigeren Nachbarländern investieren. Die Wachstumsraten sinken indessen. Der Ökonom Jeffrey Sachs hält den Erfolg der Tiger deshalb auch nicht für ein "asiatisches Wunder." Nach dem Aufholen der Rückständigkeit werde jetzt eine Phase der Sättigung eintreten, denn er ist sich sicher: "Die Gravitation wirkt auch in der Ökonomie."19

4. Konkret: Die Volksrepublik China

Mehr als 1,2 Milliarden Einwohner, damit das bevölkerungsreichste Land der Erde und etwa ein Fünftel der Menschheit, mit fast zehn Millionen Quadratkilometern das drittgrößte staatliche Territorium,20 der größte Aufschwung in der Geschichte der Weltwirtschaft21 - das ist die Volksrepublik China. Da bereits jetzt darüber spekuliert wird, ob die USA oder China die Supermacht des 21. Jahrhunderts werden wird,22 scheint es wahrscheinlich, daß die Volksrepublik zumindest zur dominanten Hegemonialmacht der asiatisch-pazifischen Region heranwachsen wird.

Dabei stellt sich die Frage, ob sie auf dem Weg ist ein, im Vergleich zu den kleinen Tigerstaaten, großer Tiger zu werden, dessen Größe vor allem ökonomischer Natur ist, oder ob das Reich der Mitte zu einem gefährlichen Drachen wird, der sich auch militärisch durchsetzt?

China hat nämlich auch eines der letzten kommunistischen Regime, das die Menschenrechte mit Füßen tritt, die drittgrößte Armee der Welt, drei Millionen Mann stark und ausgestattet mit Atomwaffen23 und nicht zuletzt ungelöste Grenzkonflikte mit fast allen Nachbarstaaten. Deswegen wird die Entwicklung des Riesenreiches spätestens seit der Taiwankrise im letzten Jahr, als es sich von seiner militanten Seite zeigte, wachsam verfolgt. Anlässe zur Spekulation über den künftigen Kurs gibt es in diesem "Schlüsseljahr für die Weltmacht des 21. Jahrhunderts"24 genügend: Zum einen ist am 19. Februar Chinas langjähriger Führer Deng Xiaoping, der hinter den Kulissen Pekings bis zuletzt die Fäden zog, gestorben, und seine Nachfolge noch immer nicht endgültig geklärt, zum anderen wird die Rückgabe Hongkongs Chinas Weg zumindest zu einer Weltwirtschaftsmacht aller Wahrscheinlichkeit nach noch beschleunigen.

Um den künftigen Kurs abschätzen zu können, bietet die Politik der Vergangenheit zumindest einige Indizien. Das wichtigste Merkmal der chinesischen Politik in der jüngeren Geschichte war deren Pragmatismus. Obwohl sich die Volksrepublik immer noch als kommunistische bzw. maoistische Macht versteht, die allein dadurch in der heutigen weltpolitischen Landschaft schon ziemlich isoliert sein müßte, überwand sie dieses Hindernis meist durch geschicktes Lavieren, ohne ideologische Bedenken. Deutlichstes Beispiel dazu war die Einführung eines marktwirtschaftlichen Systems durch Deng Xiaoping, das den sozialistischen Staat ernähren sollte. Dengs Slogan "Reich werden ist ruhmreich" verdrängte das Mao Tsetungs Parole ”Dem Volke dienen”. Deng begründete dies in den frühen sechziger Jahren mit seinem sogenannten pragmatischen Prinzip: Es sei egal, ob eine Katze schwarz oder weiß sei, solange sie nur Mäuse fange. Aber selbst bei diesem wichtigen Reformwerk hatte er aber offenbar vorher keinen echten Plan. Man müsse halt, so der Marschbefehl, "beim Überqueren des Flusses nach den Steinen tasten."25 Daß dies aber auch schon zu Mao Tsetungs Zeiten ähnlich lief, belegt die Tatsache, daß Pekings Außenpolitik seit Gründung der Volksrepublik 1949 zwar häufig von militanten Äußerungen begleitet, aber im Kern überlegt, manchmal vorsichtig und nie dogmatisch war. Die chinesische Führung fixierte die eigenen Interessen immer kühl und verfolgte sie konsequent.26 Man könnte sogar behaupten, daß sie stets von einer ”opportunistische Interessenpolitik” geleitet ist, die versucht mit minimalen Zugeständnissen den wichtigen Zielen näherzukommen.27

Da aber die wirtschaftliche Modernisierung des Landes derzeit Priorität genießt, scheint - trotz aller Hegemonieansprüche - aus der pragmatischen Pekinger Perspektive die Schaffung eines friedlichen Umfeldes, in dem die Ökonomie nun mal am besten gedeiht, notwendig. Trotzdem ist ein militärisches Kräftemessen mit Blick auf das fast ebenso wichtige Ziel der Volksrepublik, nämlich die Wiedervereinigung mit Taiwan, für die Zukunft nicht auszuschließen. Dabei wird das Verhalten der verbliebenen Supermacht USA, der traditionellen Schutzmacht des ehemaligen Formosa und gleichzeitigen Konkurrenten Chinas um die Vormachtstellung im pazifischen Raum, eine entscheidende Rolle spielen. Das als "Zeitbombe des Fernen Ostens"28 bezeichnete Taiwan verursachte schon öfter Konfrontationen, die letzte 1995 anläßlich der ersten unabhängigen Präsidentschaftswahl in Nationalchina, als die Volksrepublik ein gewaltiges Seemanöver startete, um den Ausgang der Wahlen zu beeinflussen. Die amerikanische Regierung entsandte daraufhin einen Flugzeugträgerverband in die Region. Nach den Wahlen war die Machtdemonstration jedoch bald beendet.29

Für diese Konfrontationen gibt es mehrere Gründe. Zum einen ist durch das Ende des Ost- West-Konflikt die Grundlage der Strategischen Allianz entfallen, die die beiden Staaten gegen den gemeinsamen Gegner Moskau vereint hatte. Zum anderen hat keiner der beiden Seiten klare Vorstellungen, wie ihr Verhältnis künftig aussehen sollte. Dabei sind sich vor allem die Vereinigten Staaten über ihre künftige Rolle in der Region noch nicht klar, denn zu dieser Frage gibt es zwei unterschiedliche Lager. Die eine fordert die Konzentration auf inneramerikanische Probleme und lediglich die Verteidigung vitaler Interessen in Ostasien. Dementsprechend sollte China durch eine konstruktiv-kritische Politik wirtschaftlich und militärisch eingebunden werden. Andere wollen in die entgegengesetzte Richtung. Die stark erodierte amerikanischen Hegemonie in der Region soll wieder aufgebaut und das erstarkende Reich der Mitte in seine Schranken gewiesen werden.30

China fürchtet zwar einerseits, daß die USA ihre Engagement in der Region verstärken könnten, ist aber andererseits auch an ihrer dauerhaften militärischen Präsenz interessiert. Zwar sollen sich die Amerikaner langfristig aus der Pazifikregion, die Peking als seine Einflußsphäre ansieht, zurückziehen, aber noch nicht in absehbarer Zeit. Dies hätte nämlich zur Folge, daß die um ihre Sicherheit bangenden Staaten wie Japan, Taiwan, Südkorea und die ASEAN- Mitglieder einen Rüstungswettlauf auslösen würden, in dem schon bestehende Tendenzen zum Aufbau eines nuklearen Schirms bestärkt würden. Diese Destabilisierung könnte der Entwicklung Chinas in seiner schwierigen Phase des wirtschaftlichen und politischen Übergangs schaden. Würde der Status quo jedoch anhalten, könnte die Volksrepublik ihre eigenen Kapazitäten so weit ausbauen, daß sie in einigen Jahren die Region aus eigener Kraft kontrollieren könnte.

Die USA haben andererseits aber auch kein Interesse an einer wie auch immer gearteten Konfrontation, da diese den Zugang zu einem riesigen Wachstumsmarkt kappen würde.

Deshalb entkoppelte Clinton 1994 die Menschenrechtsfrage von der Meistbegünstigungsklausel und hob im selben Jahr auch die nach dem Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens 1989 gegen China verhängten Sanktionen im Hochtechnologiebereich auf.31 Clintons neue Politik gegenüber China hat erst in den vergangenen Monaten Form angenommen: Seit der Taiwankrise sind die USA um ein neues Verhältnis zu China bemüht, wobei die US-Regierung vor allem wirtschaftliche Ziele im Sinn hat. Die neue amerikanische Außenministerin Madeleine Albright spricht von einem facettenreichen Ansatz, bei dem die Menschenrechtspolitik wohl nicht mehr ganz oben auf der Wunschliste stehen werde.32

Im übrigen ist China für eine offene Konfrontation mit den USA noch gar nicht gerüstet. Der Preis eines militärische Zusammenstoßes wäre derzeit unkalkulierbar hoch, weshalb sich die chinesische Führung darauf beschränken muß, "Washington anläßlich verschiedener Konfliktfälle die Grenzen seiner Macht spüren zu lassen." Die Zeit arbeitet sowieso für die Chinesen: Während deren militärische Schlagkraft wächst, sinkt dadurch die Bereitschaft der amerikanischen Öffentlichkeit zu einem militärischen Wagnis.

Trotz aller Vorteile spricht aber offensichtlich das Interesse von Teilen der chinesischen Volksbefreiungsarmee gegen die Fortsetzung einer Politik der friedlichen Koexistenz.33 Der Volksbefreiungsarmee ist hier ein eigener Abschnitt gewidmet, weil das Wissen um ihre wachsende Macht grundlegend für das Verständnis jüngerer Tendenzen im politischen Gebaren Chinas ist. Ihre starke Position ergibt sich hauptsächlich aus zwei Tatsachen: Zum einen aus ihrer starken wirtschaftlichen Basis, und zum anderen aus ihrer politischen Schlüsselrolle bei der Niederschlagung der Demokratiebewegung und bei den innenpolitischen Machtkämpfen in der Nachfolge Dengs Xiaopings. Das inoffizielle Budget der Streitkräfte übersteigt derzeit den offiziellen Verteidigungsetat nach Schätzungen um mindestens das Vierfache.34 Möglich wurde dies dadurch, daß Deng zu Beginn der achtziger Jahre finanzielle Forderungen mit dem Hinweis auf die Tradition der Volksbefreiungsarmee, die sich schon auf dem langen Marsch selbst versorgen mußte, vom Tisch wischte.35 Aus den unfreiwilligen Selbstversorgern scheint mittlerweile aber eine Offiziersbereicherungsarmee geworden zu sein, die einen milliardenschweren Konzern mit über 20 000 Firmen, von Schweinefarmen über Bordelle und Hotels bis zu Fluggesellschaften, aufgebaut hat.36 Abgesehen davon, daß diese Mittel vor allem den Atomstreitkräften, der Luftwaffe und der Marine zugute kommen, "die Machtprojektion weit jenseits der Küsten der Volksrepublik ermöglichen sollen", pflegt die Armee über den militärisch-industriellen Komplex Beziehungen, beispielsweise zu Rußland und dem Mittlerem Osten, die gelegentlich den Eindruck entstehen lassen, "daß kommerzielle Partikularinteressen Politik ´vorstrukturieren´". Die Armee hat - sich ihrer Rolle als letzte tragende Säule des Regimes bewußt - in jüngster Zeit vor allem in der Außen- und Sicherheitspolitik Einfluß genommen. So gehen beispielsweise die härtere Gangart gegenüber Washington auf das Konto der Armee, die Kompromißlosigkeit bei den Territorialkonflikten im Südchinesischen Meer, der Widerstand gegen Transparenz bei Rüstungsexporten, sowie der zunehmend nationalistische Kurs gegenüber Japan. Die Militärs sollen auch die Einschüchterung Taiwans 1996 von Jang Zemin erzwungen haben.37

Steht China vielleicht vor einer Machtübernahme durch das Militär?

Tatsache ist, daß sich die Volksbefreiungsarmee in der Geschichte der Volksrepublik nie als eigenständige politische Kraft profiliert hat, die die Autorität der Partei in Frage gestellt hätte.38 Man kann zudem nicht von einem homogenen politischen Akteur sprechen, da die Armee, nicht zuletzt durch die gestiegenen Profitmöglichkeiten, intern stark gespalten ist.39 Und letztlich braucht die Truppe, die schon fast zur Hälfte aufgrund ihrer Einbindung in die Unternehmungen nicht mehr zur Verfügung steht,40 für ihre Geschäfte ein friedliches Umfeld. Was also die Zukunft Chinas angeht, spricht meines Erachtens einiges dafür, daß das Land zu einem großen Tiger heranwachsen wird, der zwar aufgrund seiner Größe nicht so handzahm sein wird, wie die kleinen Tigerstaaten, sich ansonsten aber von der internationalen Gemeinschaft an die Leine legen lassen wird. China wird für das vorrangige Ziel der Modernisierung, seinem Pragmatismus folgend, auch bereit sein, seine Unabhängigkeit durch diese Einbindung beschneiden zu lassen, sofern seine nationale Sicherheit gewahrt bleibt. Sollte der Westen sich jedoch dazu hinreisen lassen den Tiger zu reizen, ist nicht auszuschließen, daß er bissig wird. Diese Gefahr besteht insbesondere dann, wenn ihm durch die Wiedervereinigung mit Taiwan wirtschaftliche ”Flügel wachsen.”41 Um im Bild zu bleiben: Wenn der Tiger durch die strategisch günstige Lage der Insel in bezug auf das Chinesische Meer auch noch militärische Flossen bekäme, wäre der Drache wieder komplett ...

Resümee

Die Kapintern 42 ist sich einig: Asien wird boomen. Und deswegen wird Asien auch boomen, denn außer der unbestreitbaren Kraft der nackten Zahlen wirkt hier meines Erachtens auch eine mächtige Selbsterfüllende Prophezeiung, mit ihrem "magischen, ´wirklichkeits´- schaffenden Effekt". Watzlawicks vielzitiertes Beispiel der Verknappung und Verteuerung einer Ware dadurch, daß genügend Menschen dieser Prophezeiung Glauben schenkten, Hamsterkäufe tätigten und gerade dadurch die betreffende Ware knapp und teuer wurde, läßt sich auf die erwartete Entwicklung Asiens unschwer übertragen. Eine positive wirtschaftliche Entwicklung lockt Investitionen an, die die Entwicklung wiederum beschleunigen. "Die Prophezeiung des Ereignisses führt zum Ereignis der Prophezeiung."43

Zum Schluß, um den Kreis zu schließen, zurück zu den Europäern. Ob nun asiatisches Jahrhundert, oder pazifisches Jahrtausend, einen positiven Effekt wird das ganze haben: Der Druck der massiven wirtschaftlichen Konkurrenz aus dem Fernen Osten wird die Europäische Einigung wahrscheinlich forcieren. Diese wurde schon aus wirtschaftlicher Zusammenschluß, der Montanunion, geboren, und hätte somit nach einer Phase politischer Appelle wieder einen wirtschaftlichen Impuls zu ihrer weitere Integration. Mit diesem neuen Weltzentrum vor Augen sollte nämlich kein Europäer "sein eigenes Land als vereinzelten Nationalstaat unter die Räder des Weltgetriebes kommen lassen".44

Asien ist nämlich schon näher als man hierzulande denkt. Zumindest wurde diese Seminararbeit auf einer Tastatur "Made in Malaysia" getippt, mit einer chinesischen Maus bearbeitet, auf einem Monitor aus Korea ins Bild gesetzt und schließlich mit einem japanischen Drucker zu Papier gebracht.

Literaturverzeichnis

- Der Fischer Weltalmanach 1997, hrsg. v. Mario v. Baratta, Frankfurt a. M. 1996, S. 112 ff.

- Glaubitz, Joachim: China VR, Außenpolitik, in: Boeckh, Andreas (Hg.): Internationale Beziehungen, Bd. 6 des Lexikons der Politik, München 1994, S.77-82 · Heuser, Uwe Jean: Die Tiger werden erwachsen, in: Die Zeit, Nr. 3 vom 10.1.1997, S. 23 ### Kim Dae Jung: Kultur ist keine Bestimmung, in: Nach uns die Asiaten? Die pazifische Herausforderung, hrsg. v. Theo Sommer, Zeit-Punkte, Nr. 4/1995, S. 22-24 ### Langguth, Gerd: Konfuzius war auch ein Demokrat, in: Rheinischer Merkur, Nr. 21 vom 23.5.1997, S.8-9

### Lindlar, Ludger: Internationale Wettbewerbsfähigkeit der südostasiatischen Schwellenund Entwicklungsländer, in: Vierteljahreshefte zur Wirtschaftsforschung, hrsg. v. Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung, Heft 2 1995, S. 303-322

### Machetzki, Rüdiger: Der Zwang zum Wachstum, in: Die Erben des gelben Kaisers. China: Weltmacht im 21. Jahrhundert. Partner oder Gegner?, hrsg. v. Theo Sommer, Zeit-Punkte, Nr. 3/97, S. 30-34

### Mahbubani, Kishore: Der Westen arbeitet an seinem Verfall, in: Nach uns die Asiaten? Die pazifische Herausforderung, hrsg. v. Theo Sommer, Zeit-Punkte, Nr. 4/1995, S. 16-18 ### Möller, Kay: Wer kommandiert die Gewehre?, in: Zeit-Punkte, Nr. 3/97, S. 25/26 ### Naß, Matthias: Wer ist die nächste Supermacht?, in: Die Zeit, Nr. 12 vom 15.3.1996, S. 3

- Opitz, Peter J.: Veränderungen in einem "strategischen Dreieck". Zum gewandelten Verhältnis Chinas gegenüber Rußland und den USA, in: APuZ, Nr. 50/95 vom 8.12. 1995, S. 3-12

- Ders.: China trumpft auf, in: Zeit-Punkte, Nr. 3/97, S. 3

### Schmidt, Helmut: Der Erneuerer, in: Die Erben des gelben Kaisers. China: Weltmacht im 21. Jahrhundert. Partner oder Gegner?, hrsg. v. Theo Sommer, Zeit-Punkte, Nr. 3/97, S. 16- 19

### Ders.: Nur geeint wird Europa mithalten können, in: Zeit-Punkte, Nr. 4/1995, S. 85/86

- Schubert, Gunter: Wie gefährlich ist die Volksbefreiungsarmee?, n: Konrad-Adenauer- Stiftung Auslandsinformationen, Nr. 1/96, S.3-17

### Sommer, Theo: Asien - Partner oder Widerpart?, in: Nach uns die Asiaten? Die pazifische Herausforderung, hrsg. v. Theo Sommer, Zeit-Punkte, Nr. 4/1995, S. 5-11 · Ders.: Diva im nationalen Rausch, in: Zeit-Punkte, Nr. 3/97, S. 49-51 · Der Spiegel: "China erwacht, die Welt erbebt", Nr. 9/97, S. 154-166 · Strittmatter, Kai: Befreier Chinas von Maos Ketten, in: Süddeutsche Zeitung, Nr. 43 vom 21.2.1997, S. 8

### Watzlawick, Paul: Anleitung zum Unglücklichsein, 3. Aufl., München 1994

- Will, Gerhard: Die außenpolitische Entwicklung der Volksrepublik China in den achtziger Jahren, in: APuZ, Nr. 1/88 vom 1.1.1988, S. 35-45

- Xuewu Gu: Taiwan: Zeitbombe im Fernen Osten, in: Aussenpolitik, Nr. II/96, S. 197-206

[...]


1 Theo Sommer: Asien - Partner oder Widerpart?, in: Nach uns die Asiaten? Die pazifische Herausforderung, hrsg. v. Theo Sommer, Zeit-Punkte, Nr. 4/1995, S. 5.

2 Sommer, a.a.O., S.8.

3 Gerd Langguth: Konfuzius war auch ein Demokrat, in: Rheinischer Merkur, Nr. 21 vom 23.5.1997, S.8.

4 Kishore Mahbubani: Der Westen arbeitet an seinem Verfall, in: Zeit-Punkte, Nr. 4/1995, S. 16. Mahbubani ist Staatssekretär in Singapurs Außenministerium und einer der Vorkämpfer für asiatische Werte. 5 Langguth, a.a.O., S.8.

6 Theo Sommer: Diva im nationalen Rausch, in: Zeit-Punkte, Nr. 3/97, S. 50.

7 Für Interessierte: Dieter Senghaas: Die fixe Idee vom Kampf der Kulturen, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, Nr. 2 1997.

8 Sommer, a.a.O., S. 10.

9 Langguth, a.a.O., S.8.

10 ebd., S. 9.

11 Kim Dae Jung: Kultur ist keine Bestimmung, in: Zeit-Punkte, Nr. 4/1995, S. 23. 12 Langguth, a.a.O., S. 9.

13 Ludger Lindlar: Internationale Wettbewerbsfähigkeit der südostasiatischen Schwellen- und Entwicklungsländer, in: Vierteljahreshefte zur Wirtschaftsforschung, hrsg. v. Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung, Heft 2 1995, S. 303.

14 Lindlar, a.a.O., S. 303.

15 ebd., S. 305.

16 Lindlar, a.a.O., S. 306 ff.

17 ebd., S. 309.

18 ebd., S.322.

19 Uwe Jean Heuser: Die Tiger werden erwachsen, in: Die Zeit, Nr. 3 vom 10.1.1997, S. 23.

20 Der Fischer Weltalmanach 1997, hrsg. v. Mario v. Baratta, Frankfurt a. M. 1996, S. 112.

21 Rüdiger Machetzki: Der Zwang zum Wachstum, in: Die Erben des gelben Kaisers. China: Weltmacht im 21. Jahrhundert. Partner oder Gegner?, hrsg. v. Theo Sommer, Zeit-Punkte, Nr. 3/97, S. 32.

22 Matthias Naß: Wer ist die nächste Supermacht?, in: Die Zeit, Nr. 12 vom 15.3.1996, S. 3.

23 Kay Möller: Wer kommandiert die Gewehre?, in: Zeit-Punkte, Nr. 3/97, S.. 25 u. 26.

24 Matthias Naß: China trumpft auf, in: Zeit-Punkte, Nr. 3/97, S. 3.

25 Kai Strittmatter: Befreier Chinas von Maos Ketten, in: Süddeutsche Zeitung, Nr. 43 vom 21.2.1997, S. 8.

26 Gerhard Will: Die außenpolitische Entwicklung der Volksrepublik China in den achtziger Jahren, in: APuZ, Nr. 1/88 vom 1.1.1988, S. 35.

27 Joachim Glaubitz: China VR, Außenpolitik, in: Boeckh, Andreas (Hg.): Internationale Beziehungen, Bd. 6 des Lexikons der Politik, München 1994, S. 81.

28 Xuewu Gu: Taiwan: Zeitbombe im Fernen Osten, in: Aussenpolitik, Nr. II/96, S. 197.

29 Strittmatter, a.a.O., S. 8.

30 Opitz, a.a.O., S. 8.

31 ebd., S. 11.

32 Strittmatter, a.a.O., S. 8.

33 Opitz, a.a.O., S. 10.

34 Möller, a.a.O., S. 26.

35 Gunter Schubert: Wie gefährlich ist die Volksbefreiungsarmee?, in: Konrad-Adenauer-Stiftung Auslandsinformationen, Nr. 1/96, S. 10 u. 11.

36 Der Spiegel: "China erwacht, die Welt erbebt", Nr. 9/1997, S. 166.

37 Möller, a.a.O., S.26.

38 Schubert, a.a.O., S.3. 39 ebd., S.4.

40 Möller, a.a.O., S. 26.

41 Xuewu Gu, a.a.O., S. 205.

42 Hierunter versteht der Autor, in Anlehnung an die Komintern, den gesamten Bereich der Weltwirtschaft, insbesondere die transnationalen Konzerne, sowie Politiker, die (mit welcher Begr ü ndung auch immer) deren Interessen vertreten und diesen auch einiges unterzuordnen bereit sind (Stichwort Menschenrechte).

43 Das Prinzip der Selbsterfüllenden Prophezeiung ist z.B. nachzulesen in: Paul Watzlawick: Anleitung zum Unglücklichsein, 3. Aufl., München 1994, S. 57-61.

44 Helmut Schmidt: Nur geeint wird Europa mithalten können, in: Zeit-Punkte, Nr. 4/1995, S. 86. Vgl. auch: Helmut Schmidt: Der Erneuerer, in: Die Erben des gelben Kaisers. China: Weltmacht im 21. Jahrhundert. Partner oder Gegner?, hrsg. v. Theo Sommer, Zeit-Punkte, Nr. 3/97, S. 19.

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Details

Titel
Das 21. Jahrhundert - Ein Jahrhundert Asiens?
Hochschule
Rheinland-Pfälzische Technische Universität Kaiserslautern-Landau
Veranstaltung
Seminar: Funktionsweisen und Probleme moderner Gesellschaften - "Sozialkunde" als medienbasierte Lehrveranstaltung
Note
bestanden
Autor
Jahr
1997
Seiten
16
Katalognummer
V96558
ISBN (eBook)
9783638092340
Dateigröße
362 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Jahrhundert, Asiens, Seminar, Funktionsweisen, Probleme, Gesellschaften, Sozialkunde, Lehrveranstaltung
Arbeit zitieren
Michael Rindchen (Autor:in), 1997, Das 21. Jahrhundert - Ein Jahrhundert Asiens?, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/96558

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