Konstruktivismus: Häufig gestellte Fragen (FAQ)
Was sind die Grundannahmen des Konstruktivismus?
Der Konstruktivismus geht davon aus, dass unsere Wahrnehmung der Welt nicht objektiv ist, sondern dass wir uns ein eigenes Abbild der Realität konstruieren. Die "Wirklichkeit" ist unsere konstruierte Umwelt, während die "Realität" als etwas dahinterliegendes, unerkennbares postuliert wird. Radikaler Konstruktivismus betont die ausschließliche Beziehbarkeit von Wissen auf die "Wirklichkeit". Es handelt sich um einen interdisziplinären Diskurs mit Wurzeln in Natur- und Sozialwissenschaften.
Welche neurobiologischen und kybernetischen Voraussetzungen werden betrachtet?
Sinnesrezeptoren liefern nur unspezifische, quantitative Reize an das Gehirn ("Prinzip der undifferenzierten Codierung"). Das Gehirn verarbeitet diese nach internen Regeln zu Bedeutung. Das neuronale System arbeitet zirkulär, selbstreferenziell und autonom. Die eigentliche Leistung beim Erkennen wird vom Gehirn erbracht, nicht von den Sinnesorganen. "Wir sehen nicht mit den Augen, sondern mit dem Gehirn."
Was ist die Theorie des Unterscheidens?
Beobachten ist ein intentionaler Akt, die Erzeugung von Einheiten durch Unterscheidung vom Hintergrund. Um einen Gegenstand zu erkennen, muss er beschrieben und vom Hintergrund unterschieden werden. Die Unterscheidung ist eine Grundoperation, die eine Asymmetrie einführt und einen "blinden Fleck" erzeugt, da die verwendete Unterscheidung im Unterscheidungsprozess selbst nicht beobachtet werden kann.
Was ist das Beobachterproblem?
Ein Beobachter kann ein System nicht gleichzeitig beobachten und sich selbst beim Beobachten beobachten. Der Beobachter und das Beobachten werden als Teil des Systems betrachtet, das wiederum von einem Beobachter zweiter Ordnung beobachtet werden kann, der wiederum einen "blinden Fleck" hat usw.
Wie werden Bewusstsein und Bewußtseinsbildung definiert?
Bewusstsein ist eine Konstruktion des Gehirns, das Reizquanten in qualitative Zustände (Bewusstseinsinhalte) verwandelt. Bewusstsein ist Voraussetzung für Kommunikation und umgekehrt. Es bildet sich durch Erfahrungen und basiert auf bereits gemachten Erfahrungen. Eine "Zeitverschiebung" zwischen neuronaler Verarbeitung und bewusster Wahrnehmung existiert.
Wie wird Kommunikation im konstruktivistischen Sinne verstanden?
Kommunikation ist kein bloßer Bedeutungstransfer oder gemeinsames Verstehen, sondern Ausdruck individuellen Bewußtseins und individueller Sinnkonstruktion. Sie bietet subjektabhängige Möglichkeiten zur Informationsgewinnung. Drei Aspekte sind zu unterscheiden: Herstellung von Beziehungen, Informationsgewinnung aus Medienangeboten und Handlung als Folge von Kommunikationsprozessen. Kommunikation ist an den jeweiligen Wissensstand, die gesellschaftliche Situation und kulturelle Voraussetzungen gebunden.
Welche Rolle spielt Sprache im Konstruktivismus?
Jeder hat aufgrund unterschiedlicher Erfahrungen andere Vorstellungen von Begriffen. Sprache ist ein Mittel zur Materialisierung und Wahrnehmung von Unterscheidungen, das ein Netz von Unterscheidungen und Bezeichnungen schafft. Die sozial viabel geltende Bedeutung eines Begriffs wird durch Spracherwerb erlernt.
Wie wird Kultur im Konstruktivismus verstanden?
Kultur ist ein akzeptiertes und gesellschaftlich verbindliches Programm zur Interpretation von Entscheidungssystemen (Wirklichkeitsmodellen). Sie ist ein Generierungsprogramm, nicht nur kulturelle Erscheinungsformen. Kultur ist gleichzeitig verbindlich und statisch, aber auch dynamisch. Unterscheidungen sind kulturübergreifend, deren Bewertung durch das Kulturprogramm macht die Eigenart einer Gesellschaft aus.
Wie werden Medien im Konstruktivismus definiert?
Medien sind Kommunikationsmittel, -angebote, Geräte, Techniken und Organisationen. Sie koppeln Bewusstsein und Kommunikation. Medienangebote liefern Anlässe für Kommunikationsprozesse, ihre Bedeutung wird vom Nutzer konstruiert. Massenmedien inszenieren Wirklichkeiten und geben soziale Orientierung, wobei Medienwirklichkeit viabel, aber nicht "richtig" oder "wahr" sein muss.
Welche Anwendung findet der Konstruktivismus in der Kommunikationswissenschaft und -praxis?
Kommunikationswissenschaftler müssen sich ihrer konstruktiven Tätigkeit und des "blinden Flecks" bewusst sein. In der Wirkungsforschung konzentriert man sich auf das Nutzerverhalten ("Was machen die Menschen mit den Medien?"). In der Nachrichtenwertforschung geht es um die Regeln der Wirklichkeitskonstruktion in den Medien. Objektivität wird als operative Funktion betrachtet, nicht als absolute Wahrheit.
Konstruktivismus
1. Grundannahmen und Fragestellungen
Die Welt, die uns umgibt, ist nicht so wahrnehmbar, wie sie ist. Wir können sie nur beobachten und unser eigenes Abbild konstruieren. "Wirklichkeit" ist die aus unserem eigenen Denken und Merken konstruierte Umwelt. "Realität" ist das, von dem wir annehmen, das es hinter der "Wirklichkeit" liegt, über das man aber keine Aussagen machen kann.
Der radikale Konstruktivismus will diese Trennung zwischen "Wirklichkeit" und "Realität" vollkommen durchführen und besteht darauf, daß Wissen sich ausschließlich auf die "Wirk- lichkeit" beziehen kann. Der rKonst. ist dabei eher ein interdisziplinärer Diskurs als eine ab- geschlossene Theorie; die Grundlagen liegen sowohl in den Naturwissenschaften als auch in den Kultur-/ Sozialwissenschaften.
Als Grundfrage des Kostr. könnte man formulieren: Wie kann man empirisch erklären, was kognitiv/ kommunikativ geschieht, wenn wir wahrnehmen/ erkennen/ interagieren/ kommunizieren?
2. Grundlagen
2.1 Neurobiologische und kybernetische Voraussetzungen
Direkten Kontakt zur "Umwelt" haben nur die Sinnesrezeptoren, die jeweils nur auf eine spezifische Reizart (physikalische/ chemische Veränderungen) und auch da nur auf ein bestimmtes Spektrum (z.B. Schallwellen mit der Frequenz von 50Hz bis 18.000 KHZ) reagieren. Die Sinnesrezeptoren geben nur unspezifische, quantitative Reize an das Gehirn weiter (-> "Prinzip der undifferenzierten Codierung", von Foerster, Kybernetiker). Diese Reize sind Spannungsänderungen der Zellmembran, ein "neuronaler Einheitscode" (Roth), der keine Bedeutung im Sinne von "Der Ball ist rund" übermittelt.
Das neuronale System des Menschen arbeitet zirkulär, d.h. Nervenzellen interagieren aus- schließlich mit Nervenzellen, und läßt sich mit den Begriffen der organisationellen Geschlossenheit, Selbstreferenz und Autonomie charakterisieren (Varela/ Maturana, Biologen). Daraus folgt insgesamt, daß die eigentliche Leistung beim Erkennen nicht von den Sinnesorganen, sondern vom Gehirn erbracht wird. Es gibt keinen direkten Input, erst das Gehirn verarbeitet die unspezifischen Reize, die die Sinnesrezeptoren von der "Umwelt" übermitteln, nach internen Regeln zu Bedeutung: "Wir sehen nicht mit den Augen, sondern mit dem Gehirn."
2.2 Die Theorie des Unterscheidens
Frage: Wie kommt Wahrnehmung zustande, wenn es keinen Bedeutungstransfer gibt?
Maturana beginnt mit der Untersuchung von Wahrnehmungsprozessen mit dem lebenden Indi- viduum, dem Beobachter. Seiner Auffassung nach ist Beobachten eine Form von Aktivität, ein intentionaler Akt, denn der Prozeß des Beobachtens ist die Erzeugung von Einheiten, mit denen Beobachter interagieren. Voraussetzung für das Erkennen eines Gegenstandes ist, diesen beschreiben zu können. Um ihn beschreiben zu können, muß er von seinem Hintergrund unter- schieden werden. Beobachten ist "Bezeichnung anhand einer Unterscheidung" (Luhmann nach Spencer Brown/"draw a distiction").
Die Unterscheidung ist eine Grundoperation, die nicht mehr gelöscht werden kann und eine grundlegende Asymmetrie einführt. Man beobachtet, ist eine Unterscheidung erstmal gezogen, immer entweder die eine oder die andere Seite. Die jeweils benutzte Unterscheidung kann im Unterscheidungsprozeß nicht zugleich beobachtet werden, das ist der "Blinde Fleck" der Unterscheidung.
2.3 Beobachterproblem
Der Beobachter eines Systems kann nicht gleichzeitig das System beobachten und sich gleichzeitig beim Beobachten beobachten (-> "Blinder Fleck"). Der Beobachter und das Beobachten werden als ein Teil des Systems betrachtet, das wiederum beobachtet werden kann - von einem Beobachter 2. Ordnung. Dieser kann nun Aussagen über den Beobachter erster Ordnung machen, sich selbst aber nicht beim Beobachten beobachten, auch seine Beobachtung hat also einen "Blinden Fleck" usw.usf...
3. Bewußtsein und Kommunikation
3.1 Bewußtsein und Bewußtseinsbildung
Das Bewußtsein ist eine Konstruktion des Gehirns, d.h. das Gehirn als operational geschlossenes System erhält über Sinnesorgane Reizquanten und verwandelt diese in qualitative Zustände, die Bewußtseinsinhalte. Bewußtsein ist Voraussetzung für Kommunikation, ohne Bewußtsein kann keine Kommunikation stattfinden; Kommunikation/ Interaktion ist aber genauso Voraussetzung für Bewußtsein, denn ohne den Bezug zu anderen Individuen kann man keine Vorstellung von Objekten, Raum, Zeit, Ich...Bewußtsein entwickeln. Bewußtsein bildet sich durch Erfahrungen. Das Individuum handelt auf der Bewußtseinsebene immer auf Basis bereits gemachter Erfahrungen, Kognitionen erzeugen Kognitionen durch Selbstbezug. Man lebt im Bewußtsein nie im selben Zeitfenster wie das Gehirn, denn erst muß das Gehirn auf der neuronalen Ebene arbeiten, dann tritt die Wahrnehmung von Bewußseinsinhalten ein. Diese "Zeitverschiebung" ist der Grund, warum das Bewußtsein nicht intentional auf die neuronalen Operationen des Gehirns zugreifen kann.
3.2 Kommunikation
Kommunikation im konstruktivistischen Sinne bedeutet weder Übertragung von Bedeutung noch gemeinsames Verstehen noch Austausch von Sinn. Vielmehr ist Kommunikation Ausdruck des Bewußtseins eines Individuums, also ein Prozeß individueller Sinnkonstruktion aus Anlaß der Wahrnehmung eines Medienangebots in einer Kommunikationssituation. Sie bietet den Teilnehmern subjektabhängige Möglichkeiten, jeweils eigene Informationen zu produzieren. Kommunikation ist soziales Handeln mit der Absicht der Verständigung. Verständigung ist aber nur dann möglich, wenn wir uns mit anderen ein konsentuiertes Wirklichkeitsmodell als Grundlage allen Handelns teilen. Entscheidende Kriterien zur Brauchbarkeit solcher Wirklichkeitsmodelle sind Konsens, Brauchbarkeit, Nützlichkeit (und nicht Wahrheit/ Objektivität). Im Kommunikationsprozeß sind drei Aspekte zu unterscheiden:
- Die Herstellung von Beziehungen zwischen den Kommunikationspartnern
- Die (individuelle) Produktion von Information aus Anlaß von Medienangeboten
- Die Handlung als Folge von Kommunikationsprozessen
Kommunikation entwickelt sich immer weiter und ist dabei gebunden an den jeweiligen Stand der Wissenschaft, die gesellschaftliche Situation, kulturelle Voraussetzungen.
4. Sprache
Entsprechend dem Konstruktivismus hat jeder aufgrund unterschiedlicher Erfahrungen andere Vorstellungen von einem Begriff. Durch neue Assoziationen verändern sich diese Vor-stellungen ständig. Durch den Spracherwerb lernt man die Bedeutung eines Begriffs, die als sozial viabel gilt. Sprache ist laut Schmidt ein Mittel, das die Benennung von Unterscheidungen (also das Beob- achten?) materialisieren und für andere wahrnehmbar machen kann. So entsteht letztlich ein Netz von Unterscheidungen und deren Bezeichnungen, die Gesellschaft baut ihr Wirklichkeitsmodell auf.
5. Kultur
Kultur ist das akzeptierte und gesellschaftlich verbindliche Programm zur Interpretation von Entscheidungssystemen (= Wirklichkeitsmodellen?). Kultur im Sinne des erweiterten Kultur- begriffs ist dabei nicht beschränkt auf kulturelle Erscheinungsformen/ Kunst, sondern muß als ein Generierungsprogramm aufgefaßt werden. Kultur und gesellschaftliches Wirklichkeitsmodell entstehen gleichzeitig.
Kultur wird als Programm konzipiert, um eine Gleichsetzung mit den Erscheinungsformen, die aus der Anwendung des Programms resultieren, zu vermeiden. Kultur ist gleichzeitig verbindlich und statisch, aber auch dynamisch während die Codierung, quasi die Hardware, indifferent ist. Unterscheidungen sind kulturübergreifend, die Bewertung der Unterscheidungen durch das Programm Kultur machen die Eigenart einer Gesellschaft aus ("seman-tische Spezifik"). Analog zur Gesellschaft differenziert sich die Kultur in Subsysteme aus, was einerseits die Lei- stungsfähigkeit erhöht, andererseits aber auch das Kulturprogramm als Ganzes unbeobachtbar macht.
"Der Mensch ist Sch ö pfer aller Kultur, aber jeder Mensch ist Gesch ö pf einer spezifischen Kultur." (Schmidt)
6. Medien
Medien nach der Definition von Schmidt sind Kommunikationsmittel, Medienangebote, Ge-räte und Techniken, Organisationen. Medien koppeln Bewußtsein und Kommunikation. Me-dienan- gebote zählen zur Umwelt von Kognition und Kommunikation von Individuen. Sie können bei ihren Nutzern Anlässe für Kommunikationsprozesse liefern. Die Bedeutung steckt nicht im Medienangebot, sondern wird erst durch den Nutzer konstruiert. Was also ein Angebot bedeutet, ist nicht verallgemeinerbar.
Massenmedien haben die Funktion, ein angeblich allen gemeinsames Wirklichkeitsmodell zu unterstellen; die Inszenierung von Wirklichkeiten gibt soziale Orientierung. Medienwirklichkeit kann nie "richtig" oder "wahr" sein, sie muß aber viabel sein
"Mit dem Fernsehen ö ffnet sich kein Fenster zur Welt, sondern ein Fenster zu unserer Kultur". (Schmidt)
7. Anwendung in Kommunikationswissenschaft und -Praxis
Kommunikationswissenschaftler brauchen keine neuen Methoden, müssen sich aber bewußt sein, daß auch sie nur konstruieren und als Beobachter zweiter Ordnung an den Blinden Fleck gebunden sind.
- Wirkungsforschung:
Vom Ansatz her lautet die Fragestellung. "Was machen die Menschen mit den Medien?". Da in Medienangeboten keine objektive Bedeutung steckt, kann es auch keine verallge- meinerbare Wirkung geben. Wirkungen sind Zeit-, Kontext- und Nutzer abhängig. Wirkungen beeinflussen Wirkungen (Merten).
- Nachrichtenwertforschung:
Fragestellung: nach welchen Regeln konstruieren Medien Wirklichkeit?
Objektivität ist eine Illusion; für das Journalismussystem ist das Ideal der Objektivität eine operative Funktion, ist für die tägliche Arbeit existentiell. "Im Alltag sind wir alle naive Rea-listen" als Voraussetzung für Lebensfähigkeit, hochgerechnet auf soziale Systeme ist eine "operative Funktion" eine solche Notwendigkeit. Ist das Festhalten der Journalisten an der Vermittelbarkeit der Wirklichkeit vielleicht der Blinde Fleck des Journalismussystems?
- Arbeit zitieren
- Svenja Kunze (Autor:in), 2000, Konstruktivismus, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/96594