Marshall McLuhan und die Toronto School of Communication Die Geschichtstheorie der Medien
1. Grundideen und Einflüsse McLuhans: The Medium is the Message
1.1 Grundideen
Neue Medien, v.a. die Elektrizität, lösen das Leitmedium Buch ab und erfordern eine neue Art des Denkens. Linearität wird durch mosaikartige Ideengebilde ersetzt, denn diese weisen Wechselwirkungen, komplizierte Konstellationen, vielschichtige Beziehungen auf, lösen Linearität "logischer" Denkstrukturen auf, bieten dem Nutzer Freiheiten und bringen ihn zum aktiven Umgang ("do-it-yourself-Theorie", Verweis auf Harold Innis).
- Wichtiger Teil des Mosaiks ist der Analogieschluß. Analogie ist ein Mittel, Lebendiges zu verstehen und in den Bereich des Theoretischen zu integrieren.
- Die Offenheit des Ausdrucks ermöglicht eine Vielfalt von Bedeutungen und Anschluß möglichkeiten. Der unvollständige Charakter der Aussagen bezieht den Rezipienten ein. Denken ist hier nicht auf Logik und Beweis ausgerichtet, sondern auf Ideenreichtum, Viel- falt und sinnliche Wahrnehmung.
- Die Methode des schwebenden Urteils hat als Basis die Relativität der eigenen kulturellen Perspektive.
McLuhan selbst setzt die Ideen um. Er versucht im Buch die Form des Buches aufzuheben durch Collagen, Puzzels, assoziative Elemente, Widersprüche... Er versteht seinen Ansatz als transdisziplinär, denn er verwertet Ideen und Anregungen aus den verschiedensten Bereichen der Wissenschaft und Kultur.
1.2 Zu den wichtigsten Einflüssen zählen:
- James Joyce: Technik und Intention;
- der "new criticism" als Literaturtheorie der 60er Jahre, die von der Selbstbezüglichkeit der Kunst ausgeht;
- die Werke des Altphilologen Perry, der Schrift selbst als Medium betrachtet;
- die Ideen des Ökonomen Harold Innis, der die Geschichte als Abfolge von Epochen, die vom jeweiligen Kommunikationsmedium geprägt ist, betrachtet. Die Form der Medien bestimmt für ihn die gesellschaftiche Entwicklung und Wahrnehmung. Dabei ist der Inhalt der Medien nachrangig, verschleiert die tatsächlichen Wirkungen. Medien sind generell auf Zeit (Stein) oder auf Raum (Papier) bezogen, eine ideale Gesellschaftsform setzt die Har- monie der Kommunikationsmedien voraus. Medientheorie ist Kulturtheorie.
Die Form eines Mediums ist f ü r eine Aussage wichtiger und wirkt st ä rker als der eigentliche, vermute Inhalt der Aussage.
Medien umfassen den Bereich der Sprache und der Technologie, fast alles kann f ü r McLuhan ein Medium sein.
Medien sind die Form der spezialisierten Beschleunigung des Informationsaustausches.
2. The Extensions of Man
2.1 Grundlagen
Prämisse ist, daß die Wahrnehmung durch das Zusammenspiel der verschiedenen Sinne, koordiniert durch das zentrale Nervensystem (ZNS) funktioniert.
Jede Technik ist eine Ausweitung des menschlichen Körpers/ der Körperorgane. Weil der Mensch keine ausreichenden organischen Fähigkeiten besitzt, entwickelt er bestimmte Tech-niken zur Kompensation dieser Mängel (Organersatz, Organverstärkung, Organentlastung). Diese Körperausweitung ("Auslagerung" bestimmter Funktionen auf Techniken) ist ein un-bewußter Prozeß der Selbstamputation, der Mensch bemerkt nicht, daß die Technik ein Teil seiner selbst ist und empfindet sie als fremd. Die Ausgrenzung eines Organs stellt einen schweren Eingriff in den Gesamtzusammenhang des Körpers dar (Koordination der Sinneseindrücke). Aus einer solchen Veränderung des körperlichen Zustands ergibt sich zwangsläufig eine Veränderung der Wahrnehmung.
Historisches Modell der Technikentwicklung: Der menschliche Körper reagiert auf Überlastung mit der "Amputation" eines Körperteils, was aber die Ganzheit der sinnlichen Empfindung stört und somit zu neuer Überlastung führt, neue "Amputationen" nötig macht usw. Der Körperausweitungsprozeß wird zum Selbstläufer, der vom Menschen nicht erkannt wird und erst im elektronischen Zeitalter überwunden werden kann.
2.2 Wirkung von Medien auf die Wahrnehmung
Auch ein Medium ist eine Technik und seine Anwendung hat damit Auswirkungen auf die Sinnesorganisation und die Gesetzmäßigkeiten der Wahrnehmung. Die Anwendung von Medien hat damit tiefgreifende individuelle und in der Gesamtheit auch soziale Auswirkungen. Es gibt zwei Arten von Medien:
- "Heiße Medien" sind detailreich, sprechen gezielt einen Sinn an, lassen wenig Raum für Eigenkonstruktionen/ Interpretationen/ kreativen Umgang (Film, Buch, Radio)
- "Kalte Medien" vermitteln dagegen qualitativ und quantitativ wenige Informationen, eine Eigenbeteiligung des Rezipienten ist erforderlich. Sie sprechen verschiedene Sinne an, Reizkombination. (Sprache)
McLuhan wertet die beiden Arten nicht, hat allerdings das Ideal von einem harmonischen Zusammenspiel aller Sinne, das vielschichtige Eindrücke ermöglichen soll.
2.3 Kritik
Unklarer Medienbegriff, mangelnd Einbeziehung sozialer, ökonomischer und politischer Faktoren für "Wahrnehmung", insgesamt unklare Terminologie, Utopie: Linearität ist nicht zu überwinden (Eco)
3. The Gutenberg Galaxy
McLuhan unterteilt die Geschichte in vier, durch die Art der jeweiligen Medien bestimmte, Epochen:
3.1 Die orale Stammeskultur
Hier ist das Ohr Herrschaftsorgan. Kommunikation und Wissensüberlieferung erfolgen aus- schließlich sprachlich (kaltes Medium). Die Wahrnehmung zeichnet sich entsprechend aus durch Dynamik, Diskontinuit ä t, Simultanit ä t, Aktivit ä t. Die Gesellschaft ist gekennzeichnet durch totale gegenseitige Abhängigkeit, die keine Individualität zuläßt. Das Ohr wird überbeansprucht, es entsteht eine "Tyrannei des Ohres".
3.2 Die literale Manuskriptkultur
Die phonetische Schrift beseitigt die Dominanz des Ohres in der Wahrnehmung, da sie die visuelle Komponente betont und Abstraktion ermöglicht. Die Wirkung der Schrift auf die gesellschaftliche Entwicklung ist einschneidend -> Zivilisation.
Dabei entspricht Lesen noch "lautem Lesen" und stellt ein Zusammenspiel zwischen Gesicht und Gehör dar. "Do-it-yourself"-Kulur: uneindeutige Grammatik, Rechtschreibung, Interpunktion; an der Sinnkonstruktion arbeiten unzählige anonyme Verfasser und "Interpreten" mit. (Texte sind heterogen, Wissen ist im Fluß, Wissenschaft offen und unabgeschlossen). Rhetorik überwiegt Logik. Zwischenstufe in der Entwicklung von der oralen Stammeskultur zur Gutenberg-Galaxis.
3.3 Die Gutenberg-Galaxis.
Buch als erstes Massenprodukt, Mechanisierung der Schreibkunst als Beginn der Industrialisíerung. Erfahrungsbeschränkung auf einen einzigen Sinn: Sehen. Die Art der Wahrnehmung zeichnet sich aus durch: Statik, Wiederholbarkeit, Linearit ä t, Logik.
Bewegung wird in chronologische Abfolge statischer Momentaufnahmen übersetzt, dynamische Abläufe werden arretiert und analytische zerlegt. Das Gefühl wird vom Verstand gelöst, Denken entspricht einer logischen Maschine. Verengung des Blickwinkels durch feste Begriffsdefinitionen, einheitl. Grammatik, Typographie.
-> erwirkt "starre Haltung" eines Standpunktes, Persönlichkeit und individuelle Absichten des Autors erhalten Relevanz, dabei Festlegung auf bestimmte Aspekte und Ausschluß von Möglichkeiten.
-> begründet neuen Wissenstypus: die Zerlegung von Prozessen in Segmente wird zur wissenschaftlichen Methode systematisiert, wiss. Terminologie wird präzisiert, Wissen mehr und mehr nach Nützlichkeit beurteilt
-> Wirkungen auf öffentliches Leben: Vereinheitlichung von Sprache schafft Nationalbewußtsein und führt schließlich zum Nationalismus, das Buch als Massenmedium eignet sich als Mittel zur Lenkung und fördert so Zentralismus, Buch als Bühne für das Individuum schafft Individualismus Ergebnis: Uniformierung der Sprache, des Denkens und des Wissens; begründet den neuzeitlichen Fortschritt.
3.4 Das elektronische Zeitalter
Das Aufkommen der elektronischen Medien beendet die Gutenberg-Galaxis. Neue Medien, neues Denken.
4. The Global Village und das elektronische Zeitalter
4.1 Elektrizität und Körperausweitung
Dei Gutenberg-Galaxis endet mit dem Auftritt des Mediums Elektrizität, über das eine neue Stufe der Körperausweitung erreicht wird. Die E. ermöglicht die Herstellung eines naturgetreuen Modells des zentrales Nervensystems, schafft eine neue Koordinierungsinstanz für die verschiedenen "Extensions of Man" außerhalb des Körpers. Die Körperausweitung ist total und umfassend, sie schafft einen organische Einheit von Körperausweitung und Bewußtsein und ermöglicht es dem Menschen, das Wesen der Technik zu erkennen. Dabei ist das 20. Jhdt. ein Zeitalter des Übergangs in der tradierte Kultur zerfällt, aber auch Konser-vativismus auftritt: neue Medien werden mit den Maßstäben der alten gemessen, womit die Chancen der neuer Erkenntnis vertan werden.
4.2 soziale Auswirkungen
Das Medium Elektrizität führt zur Aufhebung von Zeit und Raum (Vernetzung/ Geschwindigkeit). Daraus leitet McLuhan die These ab, das Individualismus und Nationalismus als Charakteristika der Buchdruckkultur verschwinden werden und das organische Ganze des "Globalen Dorfes" an dessen Stelle treten wird. Öffentlichkeit ist nicht mehr nur die Addition passiver Individuen, sondern kommt durch aktive Teilnahme aller zustande.
4.3 Das Medium Computer
Der Computer stellt eine Erweiterung des Gehirns dar (äußerst mögliche Erweiterung überhaupt), er wird zur koordinierenden Instanz aller technischen Körperausweitungen. Mittels gezielten Medieneinsatzes wird ein Gleichgewicht der sinnlichen Wahrnehmung angestrebt (Idealzustand: alle Sinne gleichmäßig/ ausgewogen beansprucht). Dieser gezielte Medieneinsatz soll von Künstlern gesteuert werden. In der Utopie sieht McLuhan alle Menschen als potentielle Künstler. Arbeit als zentraler Faktor des Lebens wird durch Wissen und Lernen abgelöst, der Mensch arbeitet nicht mehr, sondern er erschafft, denn die Technik verhilft ihm zur Realisation seiner geistigen Produkte und macht den Menschen wirklich frei.
5. Kritik an McLuhan
- Das Internet: "global village" oder "information highway"?
- neue Techniken, neues Sozialverhalten? soziale Auswirkungen der Medien!
- McLuhan sieht die Verknüpfung von sinnlicher Wahrnehmung und technischen Medien als
Frequently asked questions
Was sind McLuhans Grundideen in "The Medium is the Message"?
McLuhan argumentiert, dass neue Medien, insbesondere Elektrizität, das Buch als Leitmedium ablösen und eine neue Denkweise erfordern. Linearität wird durch mosaikartige Ideengebilde ersetzt, die Wechselwirkungen und vielschichtige Beziehungen aufweisen. Der Nutzer wird aktiv in den Denkprozess einbezogen. Ein wichtiger Teil ist der Analogieschluss, und die Offenheit des Ausdrucks ermöglicht vielfältige Interpretationen. McLuhan versucht, die Form des Buches durch Collagen und assoziative Elemente aufzuheben.
Wer waren McLuhans wichtigste Einflüsse?
Zu den wichtigsten Einflüssen zählen James Joyce (Technik und Intention), der "new criticism" (Selbstbezüglichkeit der Kunst), die Werke von Perry (Schrift als Medium) und die Ideen von Harold Innis (Geschichte als Abfolge von Epochen, die vom jeweiligen Kommunikationsmedium geprägt ist).
Was sind "Extensions of Man" und wie wirken Medien auf die Wahrnehmung?
Jede Technik ist eine Ausweitung des menschlichen Körpers/ der Körperorgane. Diese Körperausweitung ist ein unbewusster Prozess der Selbstamputation. Medien haben tiefgreifende Auswirkungen auf die Sinnesorganisation und die Wahrnehmung. Es gibt "heiße Medien" (detailreich, wenig Raum für Interpretation) und "kalte Medien" (wenig Information, Eigenbeteiligung erforderlich). McLuhan idealisiert ein harmonisches Zusammenspiel aller Sinne.
Wie unterteilt McLuhan die Geschichte in "The Gutenberg Galaxy"?
McLuhan unterteilt die Geschichte in vier Epochen: die orale Stammeskultur (Ohr als Herrschaftsorgan, Dynamik, Simultanität), die literale Manuskriptkultur (Schrift betont visuelle Komponente, Abstraktion), die Gutenberg-Galaxis (Buch als Massenprodukt, Linearität, Logik) und das elektronische Zeitalter (Aufkommen elektronischer Medien).
Was sind die Merkmale der oralen Stammeskultur laut McLuhan?
Die orale Stammeskultur zeichnet sich durch Dynamik, Diskontinuität, Simultanität und Aktivität aus. Die Gesellschaft ist durch totale gegenseitige Abhängigkeit gekennzeichnet, die keine Individualität zulässt. Das Ohr wird überbeansprucht, es entsteht eine "Tyrannei des Ohres".
Wie verändert die Gutenberg-Galaxis die Wahrnehmung und Gesellschaft?
Die Gutenberg-Galaxis, geprägt durch den Buchdruck, führt zu einer Erfahrungsbeschränkung auf den Sehsinn, Statik, Wiederholbarkeit, Linearität und Logik. Bewegung wird in statische Momentaufnahmen zerlegt, Gefühl vom Verstand gelöst. Es entstehen starre Standpunkte, individuelle Absichten des Autors werden relevant. Dies begründet einen neuen Wissenstypus, Vereinheitlichung von Sprache, Nationalbewusstsein und Individualismus.
Was sind die Auswirkungen des elektronischen Zeitalters auf die Gesellschaft und das Individuum?
Das elektronische Zeitalter, mit der Elektrizität als Medium, ermöglicht eine neue Stufe der Körperausweitung und schafft eine organische Einheit von Körperausweitung und Bewusstsein. Individualismus und Nationalismus verschwinden zugunsten des "Globalen Dorfes". Der Computer wird zur koordinierenden Instanz aller technischen Körperausweitungen, Arbeit wird durch Wissen und Lernen abgelöst, und der Mensch wird durch Technik frei.
Was versteht McLuhan unter "The Global Village" und welche Rolle spielt dabei Elektrizität?
McLuhan sieht im "Global Village" eine Aufhebung von Zeit und Raum durch die Elektrizität und die Vernetzung. Individualismus und Nationalismus als Charakteristika der Buchdruckkultur verschwinden, und es entsteht ein organisches Ganzes, in dem die Öffentlichkeit durch aktive Teilnahme aller zustande kommt.
Welche Kritik wird an McLuhans Theorien geübt?
Kritikpunkte sind der unklare Medienbegriff, die mangelnde Einbeziehung sozialer, ökonomischer und politischer Faktoren für "Wahrnehmung", eine insgesamt unklare Terminologie und die Utopie, dass Linearität nicht zu überwinden sei. Es wird auch die Frage aufgeworfen, ob das Internet wirklich ein "global village" oder eher ein "information highway" ist und ob neue Techniken tatsächlich zu neuem Sozialverhalten führen.
- Arbeit zitieren
- Svenja Kunze (Autor:in), 2000, Kommunikationstheorie: Marshall McLuhan und die Toronto School of Kommunication, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/96599