1 Einleitung
Weder Literatur noch Forschung sind bei der Erkundung des Hausarbeitsthemas in erfüllender Weise aussagekräftig. Es ist daher sehr schwierig gewesen, wissenschaftlich fundierte Erkenntnisse in die Arbeit einfließen zu lassen. Das Problem des chefredaktionellen Einflusses auf das inhaltliche Profil von Tageszeitungen in Ostdeutschland erscheint jedoch gerade vor dem Hintergrund der teilweise vorherrschenden Monopolstellung alter Parteibezirksblätter in Verlagsherrschaft aus den alten Bundesländern wichtig, weil es ein besonderes Licht auf inhaltliche Entscheidungsprozesse wirft, die in eigenen Befragungen jedoch kaum zur Sprache kamen. Nachdem einleitend einige Worte zur Geschichte der ausgewählten Tageszeitungen gesagt werden, erscheint es mir notwendig, den inhaltlich-profilierten Werdegang der Blätter näher zu untersuchen. Die Grundstrukturen von Tendenzschutz und innerer Pressefreiheit können nur kurz und abschließend behandelt werden. Es soll aufgrund der gebotenen Kürze auf Begriffsbestimmungen und Ausführungen langen Atems verzichtet werden. Eines aber sei vorweg gesagt: Ich vertrete – entgegen der Meinung einiger ostdeutscher Chefredakteure – die Feststellung, daß Monopole tatsächlich eine andere Ausrichtung bedingen als Situationen, in denen verschiedene seriöse Blätter gegeneinander konkurrieren und ihr Zielpublikum für sich erst entdecken müssen.
Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung
2 Kurzer Abriß der Wendeerlebnisse ostdeutscher Tageszeitungen
2.1 DDR: Medien als „Kampfinstrumente“
2.2 Die Wende - neuer Mut
2.3 Überleben nur mit Hilfe aus dem Westen
3 Neue Ausrichtung - eine Herausforderung nach der „Wende“
4 Von den hehren Zielen zur Routine: Inhalte von heute
4.1 Themen als Aufgaben?
4.2 Probleme und Kritik
4.3 Politische Ausrichtung
5 Presserechtliche Aspekte
Anhang
Literatur- und Quellenverzeichnis
1 Einleitung
Weder Literatur noch Forschung sind bei der Erkundung des Hausarbeitsthemas in erfüllender Weise aussagekräftig. Es ist daher sehr schwierig gewesen, wissenschaftlich fundierte Er- kenntnisse in die Arbeit einfließen zu lassen. Das Problem des chefredaktionellen Einflusses auf das inhaltliche Profil von Tageszeitungen in Ostdeutschland erscheint jedoch gerade vor dem Hintergrund der teilweise vorherrschenden Monopolstellung alter Parteibezirksblätter in Verlagsherrschaft aus den alten Bundesländern wichtig, weil es ein besonderes Licht auf in- haltliche Entscheidungsprozesse wirft, die in eigenen Befragungen jedoch kaum zur Sprache kamen. Nachdem einleitend einige Worte zur Geschichte der ausgewählten Tageszeitungen gesagt werden, erscheint es mir notwendig, den inhaltlich-profilierten Werdegang der Blätter näher zu untersuchen. Die Grundstrukturen von Tendenzschutz und innerer Pressefreiheit können nur kurz und abschließend behandelt werden. Es soll aufgrund der gebotenen Kürze auf Begriffsbestimmungen und Ausführungen langen Atems verzichtet werden. Eines aber sei vorweg gesagt: Ich vertrete - entgegen der Meinung einiger ostdeutscher Chefredakteure - die Feststellung, daß Monopole tatsächlich eine andere Ausrichtung bedingen als Situationen, in denen verschiedene seriöse Blätter gegeneinander konkurrieren und ihr Zielpublikum für sich erst entdecken müssen.
2 Kurzer Abriß der Wendeerlebnisse ostdeutscher Tageszeitungen
2.1 DDR: Medien als „Kampfinstrumente“
Vor der sogenannten „politischen Wende“ war die Funktion der Tageszeitungen in der DDR eindeutig. Erich Honecker prägte den Satz: „Massenmedien sind ideologische Kampfinstru- mente.“ Demzufolge sollten sie nur für und nicht gegen die Politik „kämpfen“. Das hieß, trotz der eindeutigen Verfassungsaussage zur Nichtausübung jedweder Zensur, daß Berichterstat- tung durch Steuerung nach innen reglementiert wurde. Sie sollte nach außen repräsentieren. Zuwiderhandlungen hatten nicht selten Freiheitsstrafen auf Grundlage des Artikels 6 Absatz 21 oder gar Berufsverbote zur Folge. Kontrollmechanismen äußerten sich durch Lizenzierung der Herausgabe und Papierzuteilung. Die Oberaufsicht hatte das Presse- und Informationsamt beim Ministerrat unter Joachim Hermann2 inne.
So wurden Themen wie die Entwicklungen in den Nachbarländern in bezug auf die gesell- schaftlich-strukturellen Veränderungen, gar diejenigen im eigenen Land bis zum Oktober 1989 tabuisiert. Insofern „haben die Medien das Ihre dazu beigetragen, daß die Stimmung im Volk zunehmend in Haß und Verachtung auf eine Führung umschlug, die augenscheinlich nicht willens war, die entstandene Lage zu begreifen, geschweige denn Schlußfolgerungen zu ziehen“3.
2.2 Die Wende - neuer Mut
Das änderte sich zunehmend mit den gravierenden gesellschaftlichen Umorientierungen, als sie sich nicht mehr verschweigen ließen. Da konnte man vereinzelt feststellen, daß Journalisten aus dem engen Korsett der zensierten Berichterstattung ausbrachen und leise Zweifel am System anmeldeten. Besonders die frisch-fertigen Journalisten betrachteten Wahrhaftigkeit als oberstes Gebot ihres Handelns.
Wie die Sessel in der Staatsführung wankten auch die der Chefredakteure. Im festen Willen, die eigene Zeitung zu erhalten, versuchten die übriggebliebenen Redaktionsmitglieder, ihre Berichterstattung an die sich überschlagenden Nachrichten mit spontaner Aktualität anzupas- sen. Dabei kam nicht selten die Wahrheit zu kurz. Zu oft wurde im Druck des nahen Redak- tionsschlusses aufgrund der noch veralteten Technik improvisiert, mit dem Ergebnis, daß es (auch in anderen, neuen Blättern) von Korrekturen, Richtigstellungen und Detailierungen nur so wimmelte.
Ein wichtiger Entwicklungsfaktor schien zu sein, sich ideologisch wie ökonomisch von den tragenden Parteien zu lösen. So konnten die Leser in geringen Zeitabständen die Veränderungen im Zeitungsuntertitel wahrnehmen: Da mutierte das einstige „Zentralorgan der Leitung“ der jeweiligen Partei über „Zeitung der gesamten Partei“ und „Sozialistische Tageszeitung“ zur „Unabhängigen Tageszeitung“. Als einzige Parteizeitung ist bis heute nur das „Neue Deutschland“ übriggeblieben, das zwar zu 100 Prozent der PDS gehört, aber - nach zweifelhaften eigenen Angaben - nicht redaktionell beeinflußt wird.
Dank des verstärkt erwachenden Interesses der Bevölkerung stieg trotz der Papierknappheit jede Auflage. Die ökonomischen Zwänge, die sich bald auftun sollten, in Abhängigkeit vom Wegfall der staatlichen Subventionen4, traten dadurch noch nicht in aller Schärfe auf. Opportun zur feurig ausbrechenden öffentlichen Diskussion eröffneten die neuen (über- gangsweise eingesetzten) Chefredaktionen den „neuen“ politischen Gruppierungen ganze Zeitungsseiten für interne Veröffentlichungen, zumeist Meinungsäußerungen und Aufrufe. Das fand seinen Niederschlag auch in der rapide gewachsenen Anzahl der Leserbriefe, die sich natürlich in der Mehrzahl mit den innenpolitischen Bewegungen befaßten.
2.3 Überleben nur mit Hilfe aus dem Westen
Im Spätherbst begannen sich bereits die Verlagsriesen aus den alten Bundesländern für die etablierte Presse zu interessieren und schoben das „Interesse der Bürger in der DDR für eine freie Berichterstattung“ vor. Am 5. März teilten die Konzerne den Osten „handstreichartig unter sich auf“5 und verkauften ihre Zeitungen in sämtlichen erreichbaren Lokalitäten, oft zum wettbewerbsverzerrenden 1:1-Kurs. In der Konsequenz brach „der Freiverkauf von DDR-Zeitungen zusammen“6.
Letztlich hat den etablierten Tageszeitungen im Osten meistens nur geholfen, wenn sie sich vereinnahmen ließen. Der Monopolbildung sollte ein Medienbeschluß entgegenwirken, der am 5. Februar 1990 von der Volkskammer verabschiedet wurde7. Ein Mediengesetz hatte es in der DDR nie gegeben. Festgeschrieben wurde darin unter anderem auch die Unabhängig- keitsstärkung der Medien vom Staat im allgemeinen und von der Regierung im besonderen. Grundrechte und Freiheiten im Bereich der Information sollten voll zu gewährleisten sein.
Zustimmung erfuhr der Beschluß in allen politischen Lagern: Er „rückt den menschenrechtli- chen Anspruch des Bürgers auf freie Information in den Mittelpunkt. Er sieht massenmediale Information primär als Kulturgut, nicht als Wirtschaftsgut. Vor dem Hintergrund einer welt- weiten Kommerzialisierung der Kommunikation gibt er im Konflikt zwischen Kultur und Kommerz der Kultur eindeutig Priorität.“8 Das Medienkontrollgesetz verfehlte jedoch eines seiner Ziele: Die Großverlage sollten ihr Monopol behalten und ausbauen. Ohne starken Part- ner sei kein Überleben möglich, es mußte in neue Technik investiert werden.
So bauten die Verlagshäuser Madsack und Springer sofort nach Übernahme der Leipziger Volkszeitung eine hypermoderne Druckerei. Die ehemals parteigebundene Bezirkspresse war nun in den Händen der westdeutschen Großverlage. Was für ein Paradoxon! Aber die Leser hielten ihren Blättern die Treue: Diese waren am ehesten in der Lage, sich auf die Bedürfnisse hinsichtlich der auf Lokales gewichteten Berichterstattung anzupassen.
Die „Profis“ der älteren Schule kannten sich eben doch besser mit den städtischen Gepflogen- heiten aus, bedienten sich ihres besseren geweiteten Überblicks und wußten mit den Leserin- teressen besser umzugehen. Andererseits saßen die Großverlage auch ökonomisch am länge- ren Arm, wenn es darum ging, den Konkurrenzkampf auszutragen zwischen den konzernei- genen Zeitungen und neu entstandenen Blättern mit Machern ohne Erfahrung und Kalt- schnäuzigkeit, die sich mit einem journalistischen Auftrag ausgestattet hatten und nicht nur kommerziellen Erfolg landen wollten in einer zu bedingsloser, naiver Aufklärung neigenden Zeit.
Bis heute hat sich der Zeitungsmarkt in Ostdeutschland weiter entschieden gelichtet. Selbst die Chefredakteure der etablierten Ex-Parteienzeitungen halten die Situation der weit umgrei- fenden Monopole für sehr bedenklich, weil Konkurrenz die Qualität belebe. In den ehemali- gen Bezirken Suhl, Chemnitz9, Leipzig, Halle (Saale), Magdeburg, Cottbus, Neubrandenburg, Schwerin, Rostock und Frankfurt (Oder) ist neben Boulevardblättern jeweils nur eine „seriö- se“ Zeitung übriggeblieben - in der Mehrzahl sogar unter den altbekannten Parteiblätterna- men. Freilich ist von den Redakteuren aus Vorwendezeiten kaum jemand weiterbeschäftigt worden, aber die eigentlich ideologisch „belasteten“ Titel haben überlebt. Im folgenden soll auf die Spezifika der inhaltlichen Ausrichtung und der Entscheidungen darüber in den „wil- den Jahren“ seit 1990 eingegangen werden.
3 Neue Ausrichtung - eine Herausforderung nach der „Wende“
„Was wir jetzt so schmerzlich erleben […], ist nicht die erste, aber bestimmt die letzte Krise des Sozialismus. Die Geschichte hat erneut ein hartes Ultimatum gestellt. Entweder gelingt es jetzt endlich, der Menschheit ein Beispiel für eine gerechte und demokratische Organisation der Gesellschaft zu liefern, oder der Sozialismus wird untergehen und im Gedächtnis späterer Jahrhunderte bestenfalls ein heroisches, aber mißlungenes soziales Experiment bleiben.“10 So zitiert der 1989 vom sogenannten „Roten Kloster“11 in die Chefetage der Leipziger Volkszeitung gewechselte Wolfgang Tiedke seinen eigenen Artikel in „seiner“ Zeitung im Wendenovember. Doch in dem Essay für die Leipziger Beiträge zur Kommunikations- und Medienwissenschaft konterkarierte er bereits 1992 die Ziele seiner Chefredaktion: „Anwälte der sozialistischen Partei wollten die LVZ-Redakteure damals noch sein, trotz aller Verfehlungen des Mandanten. Wie auch anders? Nicht nur eigene Überzeugungen legten ein solches Verständnis von Journalismus nahe. Auch der politische Kontext, in dem damals Zeitung gemacht wurde, schien ein solches pathetisches Bekenntnis zu legitimieren.“
Einmalig war in dieser Situation trotz allem, daß sich Chefredakteur und Redaktion praktisch gegen den Willen des ursprünglichen Herausgebers SED unabhängig machten, eigene Ziele entwickelten, eigenverantwortlich publizieren wollten. Nachdem die LVZ in Volkseigentum und mithin unter Treuhandverwaltung überführt und 1991 an die Verlage Madsack und Springer verkauft worden war, stellte sich jedoch die Frage, wie das „trotzige Hoffen“ und Träumen von dem Ideal „nur noch schreiben, was man sich selber glaubt“ fortgesetzt werden konnte - die redaktionelle Verantwortung hatte in der spannenden Zeit davor einzig und allein die Chefredaktion innegehabt. Es war die Rede gewesen von Themen, die die „neuen wirt- schaftlichen, sozialen und politischen Zusammenhänge sowie die Absichten aller am Prozeß Beteiligten erkennbar“12 machen sollten. Bestand jetzt die Gefahr, daß „die Objektivität des journalistischen Wirkens privatwirtschaftlich geführter Medienunternehmen ökonomischen Zwängen unterliegen“13 mußte, so daß der chefredaktionelle Einfluß wieder beschnitten wer- den könnte?
Immerhin beschrieb der Herausgeber und Vorsitzende der Märkischen Oderzeitung die Lage in demselben Jahr schon ohne jeden Heroismus (und ohne Entscheidungsgewalt aus dem „o- beren“ Redaktionsbereich): „Ich wüßte nicht, wer von den Journalisten aus dem Leipziger Roten Kloster, die in unserem Haus tätig sind, sich nach der Zeit der Indoktrination zurück- sehnte. […] Die ideologischen Zuchtmeister sind in- und außerhalb der Verlage nicht mehr in den Ämtern. Gefordert ist die Professionalität, die moderne, leserorientierte Zeitungsverlage brauchen. […] Fachkompetenz zählte zunächst mehr als Geld. Jetzt ist beides gleich wichtig. Die technische Erneuerung der Verlage […] erfordert Kapitalkraft der westdeutschen Inhaber; die Investitionsbereitschaft setzt fachlich kompetentes, westliches Management voraus.“14 Die Botschaft, die von den neuen Besitzern in die Chefredaktionen schallte, war also eindeutig. Ohne fachliche Unterstützung aus dem Westen - so die Ansicht - war kein tiefgreifender Journalismus mehr zu machen. Im Zuge der ökonomischen Übernahme wurden auch viele Chefredakteure ausgetauscht, die bereits aus der Nachwendegeneration rekrutiert worden wa- ren und - aus heutiger Sicht - beinahe utopische publizistische Ziele vertreten hatten.
4 Von den hehren Zielen zur Routine: Inhalte von heute
4.1 Themen als Aufgaben?
Als der Zeitungsmarkt in Ostdeutschland quasi endgültig aufgeteilt und die Zeitungen etab- liert waren, begann sich - vor allem bei den sich monopolistisch haltenden Tageszeitungen - ein besonderer Stil herauszuarbeiten. Das Profil, das als Summe von „inhaltlich-thematischer, journalistisch-methodischer und formal-gestalterischer Spezifik“15 verstanden werden soll, wurde zunehmend vom Verleger und dessen Grundsatzkompetenzen bestimmt. Obwohl durch meine Befragung klar zutage trat, daß heutzutage die meisten Chefredakteure „einen großen Einfluß“16 zu haben glauben, „hängt doch das inhaltliche Profil von den Aufgaben der Zei- tung ab“17.
Welche Aufgaben haben die Tageszeitungen in Ostdeutschland? „Nicht Abrechnung ist ge- fragt, sondern Aufklärung. Das leisten wir täglich. Wir informieren umfassend, unparteiisch und unvoreingenommen. Nach der langen Zeit der Indoktrination gehört der Information, der Berichterstattung der Vorrang. […] Nicht dem Leser vorhersagen, was er denken soll…“18 Ist diese Selbstverpflichtung eines ostdeutschen Herausgebers ausreichend? Kann man gut- heißen, wenn sich „eine Regionalzeitung“ auf „regionale und lokale Berichterstattung“ be- schränkt, gerade mal eine „Grundversorgung an politischer Berichterstattung gewährleis- tet“19 ? Reicht es, „streitbar das Leben der Leser als freundlicher Nachbar [zu] begleiten“20 ? Es scheint, als ob allumfassende Information - gepaart mit Meinungsbildung, Gesellschaftskritik, Kontrolle und Orientierungshilfe - als Medienaufgabe zugunsten einer „modernen“21 Regio- nalität zurückgestellt wurde. Natürlich - Regionalzeitungen suchen im Lokalen ihre Stärke. Oft wird vergessen, daß in diesem Bereich zum Teil eine sehr wache Konkurrenz anderer Medien (z. B. Lokalradio) das Geschäft belebt und somit die Vernachlässigung der „großen Politik“ auf wackligen Legitimationsfüßen steht. Man „will nicht wirklich wissen, was die Welt bewegt, wie im [LVZ-] hauseigenen Werbeslogan behauptet, sondern die ‚Heimspiele gewinnen‘ […]. Soviel Text wie nötig, um maximale Anzeigenerlöse erwirtschaften zu kön- nen…“22
4.2 Probleme und Kritik
Das große Problem vieler ostdeutscher Zeitungen ist, daß ihr Profil - um etwaigen Neugrün- dungen keinen Raum zu lassen - von ihren Chefredakteuren so lanciert wird, daß es - mit ansässigen Boulevardblättern konkurrierend - wirklich allen Lesern genehm sein muß. Hart- wig Hochstein, Chefredakteur der Leipziger Volkszeitung, beschrieb auf Anfrage23 seine Le- serschaft als „im großen und ganzen der Bevölkerung des Verbreitungsgebietes entspre- chend“. Besonders wichtig scheint der Hinweis auf das „boulevardeske“24 Niveau zu sein. Hochstein weiter: „[Die Zeitung] darf sich […] nicht als Elite-Medium verstehen, sondern muß auch bei anspruchsvoller Berichterstattung auf Augenhöhe des Normallesers bleiben.“25 Um also explizit jedem „auf Augenhöhe“ gegenüberzutreten, muß sich die Zeitung demnach auf sehr niedriges Terrain begeben, um von allen verstanden zu werden.
Dieser „Hang zum Boulevard“ scheint bei „sich unterschätzt fühlenden Lesern zu Abonne- mentsabbestellungen geführt“26 zu haben. Wer trotzdem über seine Stadt informiert sein woll- te, mußte beim Monopol bleiben, wenn er zum wahren Boulevard keinen Zugang fand. Mit Orientierungshilfe, großen Ratgeberteilen und besonders großem Drang, jedwede Themen auf die lokale Ebene herunterzuziehen, haben die Chefredaktionen der etablierten Tageszeitungen in Ostdeutschland einen ebenso gewaltigen Zuspruch wie heftige Kritik auf sich gezogen. Wird ein bestimmtes Thema nicht aufgegriffen, so die Angst der Chefredakteure, treibt dies die Leser dem Konkurrenten Boulevard in die Arme. Das unterhaltsame Element oder - wie Postman es nannte - das Infotainment wird gestärkt.
4.3 Politische Ausrichtung
Auch die politische Ausrichtung ist dem breiten Leserkreis verpflichtet. „Pluralismus“ heißt das Zauberwort, das in den Antworten aus den Chefetagen die Verlegenheit spüren läßt, wenn sich zu der gewissen Neutralität in der Berichterstattung geäußert werden soll27. Eingedenk der leserseitigen Zugehörigkeit zu den verschiedensten politischen Lagern können es sich die meisten ostdeutschen Zeitungen nicht leisten, eine den überregional etablierten Blättern eige- ne Ausrichtung zu vertreten. In den Antworten auf den Fragebogen heißt es unter anderem: „[Im Monopol] sollte die Zeitung keine ‚Richtungszeitung‘ sein; was nicht heißt, klare Positi- onen in der Kommentarspalte zu vermeiden. Der ‚Ausgleich‘ findet sich dann auf der Leser- briefseite.“28 Sicher - alle haben sie gemeinsame Grundüberzeugungen, die die herrschende Ordnung unterstützen. Man „tritt für Menschenrechte und Grundrechte des sozialen Rechts- staates, für den Frieden im Innern und in der Welt und für die Einigung Europas ein […und] wendet sich gegen alle rechts- und linksextremen Tendenzen.“29 Fuchs’ Ausführungen mögen für die eine Zeitung mehr, für die andere weniger zutreffen, aber einen gemeinsamen Nenner legen sie in jedem Fall offen. Dies alles stellt jedoch nur einen akquirierten Rahmen dar, der „von den einzelnen Redakteuren gefüllt wird“, stellen die Chefredakteure einhellig fest. Doch wie werden innerredaktionelle Konflikte bezüglich Themenwahl und Ausrichtung gelöst?
5 Presserechtliche Aspekte
Jeder Redakteur hat seinen eigenen Geschmack, seine eigenen politischen Ansichten, und - stößt einmal an seine Grenzen. Noch 1970 wurde in der Bundesrepublik darüber debattiert, daß Redakteur und Verleger innerredaktionell aneinandergeraten: „Das Schrumpfen publizis- tischer Einheiten und die Pressekonzentration schaffen ‚Sachzwänge‘, sie können das Grund- recht der Informationsfreiheit für jeden Leser […] ebenso beeinträchtigen wie das Grundrecht des angestellten Journalisten, seine Arbeitskraft anderweitig zu verkaufen: Die Wahl- möglichkeiten werden geringer. Um sie systemkonform zu erhalten, bedarf es des Wettbe- werbs als wirtschaftlichen Ansatzpunktes zum Schutze der Pressefreiheit: ‚Er erhöht die Aussichten des Journalisten, ein Blatt zu finden, dessen Generallinie seiner Überzeugung entspricht‘30. Die soziale Abhängigkeit des Redakteurs erwächst aus der einzigartigen überlegenen Rechtsstellung des Verlegers als Arbeitgeber. Er ist in der Lage, im Verhältnis VerlegerRedakteur die internen Sachzwänge zu schaffen oder zu verändern.“31
Hat sich das Gewicht verändert? Die Befragung hat ergeben, daß sich sämtliche Chefredak- teure in der Lage sehen, dieses Arbeitsverhältnis selbst zu bestimmen. Es scheint, als ob sie an entscheidungskräftiger Macht gewonnen haben. In der Durchsetzung der eigenen Linie jedoch scheiden sich offenbar die Geister. Drohen die einen mit „arbeitsrechtlichen Schritten“, for- dern die anderen „Konsens, weil die gesamte Redaktion hinter dem Produkt stehen muß“. Wieder andere würden „vermehrt eigene Artikel schreiben“ oder „auf die Kraft des Argu- ments vertrauen“32.
Wie immer das Verhältnis von Chef- zu „normalem“ Redakteur ist: Ein ewiger Streitpunkt unter den Juristen ist die Frage nach der „Inneren Pressefreiheit“: Journalistenfreiheit, „ohne daß dem Verleger [hier nun Chefredakteur?] (der oft selber Journalist ist) sein eigenes Recht auf freie Meinungsäußerung bestritten werden soll“33, oder Weisungsfreiheit des Chefredak- teurs selbst? Der Begriff der Inneren Pressefreiheit „umfaßt die Forderungen nach der Exis- tenz von Redaktionsstatuten und nach der Einrichtung von Redaktionsräten, die […] verfas- sungsrechtliche Bedenken hervorrufen können“34. Im Brandenburgischen Landespressegesetz von 1993 ist zum Beispiel die Fixierung des Standpunktes vorgeschrieben; in den Antworten aus Brandenburg steht nichts davon. Auch Redaktionsräte sind eher selten anzutreffen. „Profi- le entwickeln sich“35, es werde diskutiert, so ist zu hören, aber wer garantiert, daß die Stim- men nicht Recht behalten, die vor dem „journalistischen Kniefall vor Marktgesetzen“36 war- nen? Es scheint fraglich, wie stark der sogenannte Tendenzschutz die innerredaktionelle Mit- bestimmung und die „Innere Pressefreiheit“ beeinträchtigt. „In Zweifelsfragen entscheidet der Chefredakteur“37 ? Scheint so.
Anhang
Hier wird der Fragebogen zum Thema dokumentiert, der an folgende Chefredaktionen ausgegangen ist und eine Rücklaufquote von rund 57 Prozent ergeben hat:
Freie Presse, Freies Wort, Lausitzer Rundschau, Leipziger Volkszeitung, Magdeburger Volksstimme, Märkische Allgemeine, Märkische Oderzeitung, Mitteldeutsche Zeitung, Nordkurier, Ostseezeitung, Sächsische Zeitung, Schweriner Volkszeitung, Thüringer Allgemeine und Thüringische Landeszeitung.
Fragebogen
zum Thema „Chefredaktioneller Einfluß auf das inhaltliche Profil ausgewählter Tageszeitungen in Ostdeutschland“
Stichworte reichen aus
1. Glauben Sie, daß das inhaltliche Profil einer Tageszeitung im Monopol ein besonderes ist? Inwiefern?
2. Welches Publikum spricht Ihre Zeitung demnach an?
3. Welchen Einfluß haben Sie als Chefredakteur(in) auf das inhaltliche Profil Ihrer Zeitung?
4. Von welchen Faktoren ist das Profil noch abhängig?
5. Sollten sie ein strikt festgelegtes Profil haben - welche Sanktionsmöglichkeiten haben Sie, wenn sich Ihre Redakteure nicht daran halten?
6. Angenommen, Sie würden das Profil Ihrer Zeitung ändern können und wollen - wie wür- den Sie es tun?
Vielen Dank für die geduldige Beantwortung der Fragen.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Literatur- und Quellenverzeichnis
Claus, Werner (Hrsg.): Medien-Wende. Wende-Medien. Dokumentation des Wandels im DDR-Journalismus Oktober ’89 bis Oktober ’90. Vistas: Berlin1991.
Doehring, Karl et al.: Pressefreiheit und innere Struktur von Presseunternehmen in westlichen Demokratien. Duncker & Humblot: Berlin 1974.
Fuchs, Jana: Die Profilierung der „Leipziger Volkszeitung“ und die Reaktion des Leserkreises. Diplomarbeit an der Universität Leipzig, Institut für Kommunikations- und Medienwissenschaft: Leipzig 1994.
Gloßmann, Jan: „Zur Profilierung des Lokaljournalismus in einer Regionalzeitung“ - darge- stellt an ausgewählten Lokalausgaben der Lausitzer Rundschau Cottbus. Diplomarbeit an der Universität Leipzig, Institut für Kommunikations- und Medienwissenschaft: Leipzig 1993.
Haller, Michael et al. (Hrsg.): Presse Ost - Presse West. Journalismus im vereinten Deutsch- land. Vistas: Berlin 1995.
Journalist: sämtliche Ausgaben 1990 und 1991.
Kleinwächter, Wolfgang: Die Vorbereitungen für ein Mediengesetz der DDR. In. Media Perspektiven 3/90.
Kloepfer, Michael: „Innere Pressefreiheit“ und Tendenzschutz im Lichte des Artikels 10 der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten. Duncker & Humblot: Berlin 1996.
Mahle, Walter A. (Hrsg.): Pressemarkt Ost. Nationale und internationale Perspektiven. Als: Schriftenreihe der Arbeitsgruppe Kommunikationsforschung München, Bd. 38. Ölschläger: München 1992.
Möllmann, Bernhard: Redaktionelles Marketing bei Tageszeitungen. Fischer: München 1998.
Rager, Günther et al.: Redaktionelles Marketing. Wie Zeitungen die Zukunft meistern. ZV Zeitungsverlag Service: Bonn 1994.
Schmidt, Christian: Umfrage unter Chefredakteuren ausgewählter Tageszeitungen in Ostdeutschland (Fragebogen im Anhang), Februar bis April 1999.
Skriver, Ansgar: Schreiben und schreiben lassen. Innere Pressefreiheit und Redaktionsstatute. Verlag C. F. Müller: Karlsruhe 1970.
Weber, Doris: Die Regelung des Binnenbereichs der Presse durch Redaktionsstatute (Dissertation an der Universität Zürich). Verlag Hans Schellenberg: Winterthur 1982.
Zielinski, Oliver: Der Wandel des Profils der Berliner Zeitung nach der politischen Wende in der DDR. Diplomarbeit an der Universität Leipzig, Institut für Kommunikations- und Medienwissenschaft: Leipzig 1991.
[...]
1 Stellte die sogenannte Boykotthetze unter Strafe. Gesetzpunkt der Verfassung.
2 Joachim Hermann gab nicht zufällig zusammen mit Erich Honecker und Günther Mittag sein Amt am 18.10.1989 ab.
3 Nölte, Joachim: Chronik medienpolitischer Ereignisse in der DDR. in: Claus S. 18
4 Die SED gab beispielsweise im Jahr 1989 noch 332 Millionen Mark für ihre gesamte Presse aus.
5 Journalist 7/90, S. 19.
6 Ebenda.
7 Die Beschlußfassung zur Mediengesetzgebung war abhängig von einer neuen DDR-Verfassung gemacht worden. Eine solche trat nie in Kraft. Sie fiel dem Einigungsvertrag zum Opfer. Noch im März hatte sich der ehemalige Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Ernst Benda, über eigene Vorstellungen der Gesetzgebungskommission zur Medienlandschaftsgestaltung in der DDR positiv geäußert.
8 Kleinwächter S.136.
9 Ehemals Karl-Marx-Stadt.
10 Tiedke, Wolfgang: Was wir wollten. In: Haller S. 262.
11 So wurde die Sektion Journalistik der damaligen Karl-Marx-Universität Leipzig bezeichnet.
12 Alle Zitate bis hierhin aus: Tiedke, Wolfgang: Was wir wollten. In: Haller S. 262 ff.
13 Zielinski S. 28.
14 Detjen, Claus: Notizen über das Zeitungmachen an der Oder. In: Mahle S. 91.
15 Zielinski: „Thesen“ in: Zielinski, ohne Seitenangabe.
16 Sechs von acht Chefredakteuren ostdeutscher Tageszeitungen gaben an, einen „sehr großen“ Einfluß auf das Profil ihrer Zeitung zu besitzen, wenngleich oft Einschränkungen hinsichtlich der Regionalausgaben gemacht wurden. Die Verantwortung für diese Beilagen übernehme meist ein Stellvertreter, der in der jeweiligen Region ansässig sei.
17 Zielinski: „Thesen“ in: Zielinski, ohne Seitenangabe.
18 Detjen, Claus: Notizen über das Zeitungmachen an der Oder. In: Mahle S. 90 ff.
19 Gloßmann S. VIII, Anhang 1.
20 Christoph Hamm, Schweriner Volkszeitung.
21 Zielinski: „Thesen“ in: Zielinski, ohne Seitenangabe.
22 Tiedke, Wolfgang: Was wir wollten. In: Haller S. 265.
23 Fragebogen im Anhang.
24 Fuchs ohne Seitenangabe.
25 Hartwig Hochsteins Antwort auf den Fragebogen im Anhang.
26 Fuchs ohne Seitenangabe.
27 Es ist bemerkenswert, wie ausweichend sich einige Chefredakteure zu dieser Themenstellung geäußert haben.
28 Dr. Kaden, Märkische Oderzeitung.
29 Fuchs ohne Seitenangabe.
30 Pohmer, Dieter; Kroenlein, Günter: Pressefreiheit und Wettbewerb. In: Pressefreiheit. Entwurf eines Gesetzes zum Schutze freier Meinungsbildung und Dokumentation des Arbeitskreises Pressefreiheit. Herausgegeben von Hubert Armbruster et. al., Neuwied 1970, S. 125. Zitiert nach: Skriver S. 18.
31 Skriver S. 18.
32 Alle Zitate Antworten auf den zurückgesandten Fragebögen.
33 Skriver S. 19.
34 Kloepfer S. 18 ff.
35 Hans Hoffmeister, Thüringische Landeszeitung.
36 Möllmann S. 182.
37 Lutz Timmermann, Volksstimme.
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