Phantastische Kinder- und Jugendliteratur
1) Begriffsbestimmung
Nach DODERER ist die phantastische Erzählung eine "Im Bereich der Kinder- und Jugendliteratur geläufigeGattungsbezeichnung für Erzählungen, die neben realistischen auchphantastische Elemente in Form phantastischer Welten, Begebenheiten,Figuren oder Requisiten enthalten."
Zwar gab es auch schon früher Erzählungen, die im Sinne der Definition phantastische Erzählungen waren. Der Begriff der phantastischen Kinder- und Jugendliteratur tauchte erst 1954 bei Anna KRÜGER auf. Sie verwendete zunächst den Terminus der „phantastischen Abenteuergeschichten“, später schreibt sie in einem Aufsatz von "Phantastische Erzählungen" und unterscheidet die phantastischen Erzählungen erstmalig von den Märchen, zu denen sie bisher gerechnet wurden.
Vereinzelt hat es phantastische Erzählungen zwar schon früher gegeben, jedoch erst in den 60er Jahren erlangten sie in Deutschland große Popularität. Astrid LINDGREN und Erich KÄSTNER mit ihren phantastischen Erzählungen waren quasi die Vorläufer.
In den 60ern folgten dann James KRÜSS und Otfried PREUßLER mit ihren phantastischen Erzählungen (Thimm Thaler, Die kleine Hexe).
Nachdem der Stoff Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer von der Augsburger Puppenkiste aufgenommen wurde, trat auch Michael ENDE seinen Weg in die Herzen der Kinder an. Zu erwähnen ist an dieser Stelle auch noch das Bilderbuch Wo die wilden Kerle wohnen (1967) von Maurice SENDAK.
In den 70er Jahren erhält sowohl phantastische, als auch märchenhafte Literatur neuen Schwung, z.B. mit Märchenneuschreibungen, z.B. Janosch erzählt Grimm's Märchenund zeichnet für Kinder von heute oder Tomi Ungerers Märchenbuch. Großen Erfolg hatte auch PREUßLER mit Krabat (1971) sowie Michael ENDE mit Momo (1973) und der Unendlichen Geschichte (1979).
In diese Zeit gehören auch kritische phantastische Werke wie Wir pfeifen auf denGurkenkönig (1973) von Christine NÖSTLINGER UND Paul MAAR mit Eine Woche voller Samstage (1973).
In den 80ern hält der Trend der phantastischen Kinder- und Jugendliteratur weiterhin an.
Wolfgang BIESTERFELD kritisiert, daß Literaturwissenschaft einerseits und Kinder- und Jugendliteraturforschung andererseits unterschiedliche Begriffe verwenden. Er schlägt vor als gemeinsamen Konsens den Oberbegriff der extra-empirischen Literatur zu verwenden.
Dazu zählt er die Utopie, die eine Fiktion eines meist als ideal gesehenes Gesellschaftssystems darstellt und so zur Realität eine Alternative eröffnet. Schlicht kann man sie auch als eine im Text manifestierte erfundene Gesellschaft nennen. Unter SF versteht er unterhaltende Literatur, die einen außerhalb der Erfahrung liegenden wissenschaftlichen oder technischen Fortschritt zur Voraussetzung oder zum Thema ihres Erzählens macht.
Unter Fantasy faßt er Abenteuergeschichten, die sich in imaginären prähistorischen oder mittelalterlichen Welten abspielen, in denen Männer meistens stark und Frauen meistens schön sind. Die ganze Welt ist in der Fantasy-Geschichte ein einziges Abenteuer.
Unter Phantastik versteht er endlich, daß das unmögliche in einer Welt auftaucht, in der das Unmögliche per definitionem verbannt worden ist. Man kann auch sagen, daß das Phantastische die reale alltägliche Wirklichkeit mit dem alle empirische Erwartung übersteigenden Irrealen konfrontiert. Das Irreale kann sich personell oder ereignishaftausdrücken, es entlarvt auf diesem Wege die vertrauten Orientierungen und Scheinsicherheiten.
In diesem Sinne sieht BIESTERFELD auch die phantastischen Kinder- und Jugendliteratur.
2) Zwei Welten
Nach HAAS et al. ist phantastische Literatur dadurch gekennzeichnet, daß eine empirisch-alltäglich bestimmbare Welt einer Welt gegenübersteht, in der das Außergewöhnliche geschieht.
Die phantastische Literatur ist charakterisiert durch den „Einbruch des Wunderbaren“.
„ Texte von Wesen, für die interstellare Aktionen eine Selbstverständlichkeit sind, oder Geschichten, in denen Geister oder Vampire gewissermaßen unter sich bleiben oder in denen Menschen ihnen ohneÜberraschung begegnen, haben in diesem Verständnis nichts Phantastisches an sich. “
Man kann die phantastischen Erzählungen dahingehend unterscheiden, ob die Handlung in einem Wirklichkeitsbereich oder in zwei aufeinanderstoßenden,nebeneinanderstehenden oder ineinanderübergehenden Welten spielt. DODERER unterscheidet 3 Varianten der phantastischen Erzählung:
1. reale und phantastische Welt existieren nebeneinander
2. die Geschichte spielt von Anfang bis Ende in der realen Welt, in dieser Welt gibt es jedoch phantastische Figuren, Begebenheiten oder Requisiten außerhalb der für die reale Welt zutreffenden Gesetzmäßigkeiten stehen.
3. das Geschehen spielt von Anfang an in einer phantastischen Welt mit deren eigenen Gesetzen und Bewohnern
Häufig wird die alltägliche Welt besonders realistisch dargestellt und auch vom Leser so empfunden, auch wenn sie in der Vergangenheit oder in der Zukunft spielt.
Das Phantastische kann sich nach HAAS et al. zeigen in den folgende Motiven:
- lebendige Spielsachen agieren in der alltäglichen Welt
- fremde Gesellschaften finden sich in der Wirklichkeit wieder
- Kinder aus einer fremden Welt begegnen Kindern in der realen Welt
- übernatürliche, hilfreiche Tiere stehen den literarischen Helden zur Seite
- Gestalten aus einer mythischen / magischen Welt erscheinen
- Personen gelangen auf magische Weise in andere Räume / andere Zeiten
Realistisch ist nach BIESTERFELD das, was innerhalb einer Konvention als real angesehen wird. Das was Unruhe stiftet, weil es eigentlich unmöglich ist, ist das Phantastische.
3) Aufbau / Merkmale
Die Ausgangssituation in phantastischen Kinderbüchern unterscheidet sich kaum von der in der realistischen, problemorientierten Kinder- und Jugendliteratur. Der Unterschied wird erst im weiteren Verlauf sichtbar. (DODERER)
Besonders phantastische Geschichten, in denen Tag- und Nachtträume eine Rolle spielen, haben häufig eine Dreiteilung:
Realität - Traum - Realität
oder Aufbruch - Abenteuer - Heimkehr
Für BINDER gibt folgende Merkmale für phantastische Kinder- und Jugendliteratur:
- sprunghafter Wechsel zwischen Realität und Wunderbarem
- Vorrangstellung der Kinderwelt vor der Welt der Erwachsenen
- es gibt einen weiten Spielraum für das Komische (Situationskomik, Witz, Ironie, Nonsens, Wortspiele...)
- Freude am Spiel
- das Geheimnisvolle
4) häufige Themen
HAAS bezeichnet häufige Themen in der phantastischen Kinder- und Jugendliteratur , solche sind:
- Phantastische Reisen
⇒ in andere Zeiten und an andere Orte, z.B. Astrid LINDGREN: Brüder Löwenherz
⇒ zu sich selbst, z.B. Michael ENDE: Unendliche Geschichte
- Einbruch der Vergangenheit / Zukunft in die Gegenwart
- Mythos von Licht und Dunkelheit (Gut und Böse), z.B. James KRÜSS : Thimm Thaler oder das verkaufte Lachen
- Andere Welten, z.B. Phantásien in der unendlichen Geschichte
- Gäste aus dem Unbekannten, z.B. Mary Poppins, Karlsson
- Miniaturgesellschaften, z.B. Liliput in Gullivers Reisen
- Technik als Element der Phantastik
5) Phantastische Kinder- und Jugendliteratur als Mittel zur Realitätsflucht?
Das Genre der phantastischen Erzählungen wurde seit seinem Siegeszug in die Kinderzimmer und Kinderherzen häufig heftiger Kritik unterzogen, besonders im Zusammenhang mit diversen Groschenromanen mit phantastischen Inhalten. Diese führten dazu, daß Kinder sich der Wirklichkeit entzögen und sinnlosen Spinnereien nachhingen.
Jedoch kann man nicht aufgrund von negativen Beispielen ein ganzes Genre dieser negativen Kritik unterwerfen.
Nach MAIER findet sich in der phantastischen Kinder- und Jugendliteratur häufig das Schema, daß die literarischen Helden sich plötzlich mit einer anderen Welt konfrontiert sehen oder in eine andere Zeit versetzt werden. Dort müssen sie sich dann bewähren. Da Kinder und Jugendliche häufig selbst Handlungsträger der Geschichten sind, ist Identifikation mit den Möglichkeiten der Selbstfindung und Ichstärkung naheliegend. Oft kommt es nach Abschluß des Abenteuers sogar zu einer veränderten, verbesserten Wirklichkeit.
Phantastische Kindergeschichten sind für MARQUARDT geeignet, um Lesefreude zu wecken, da sie auf die Träume, Sehnsüchte, Ängste, Hoffnungen der Kinder eingehen. Sie stärken den Glauben an das Wunderbare.
Ziel der phantastischen Geschichten sei es eine Orientierungshilfe für bestehende gesellschaftliche Verhältnisse zu geben.
Nach DODERER unterscheidet man folgende Funktionen phantastischer Kinder- und Jugendliteratur , die jedoch selten in reiner Form auftreten:
1. kompensatorische Funktion
Kinder können ihre Wünsche und Bedürfnisse in die literarischen Figuren hineinprojezieren, z.B. Pippi Langstrunpf
2. pädagogische Funktion
pädagogische wünschenswerte Verhaltensweisen werden suggeriert, z.B. Pinoccio
3. emanzipatorische Funktion
Verstärker (Katalysator) -Effekt
4. symbolische Funktion
Symbolisierung von Abstraktem, z.B. Momo
TOLKIEN sagte auf die Frage: "Wer hat eigentlich etwas gegen Flucht?" - "Der Kerkermeister!"
Im selben Sinne fragt BUDDECKE, warum nicht das Kind oder der Jugendliche für die Dauer einer Lektüre die Wirklichkeit verlassen sollte. Wenn der Leser auch noch gestärkt aus der Lektüre hervorgeht oder eine Erweiterung des Horizonts daraus folgt, umso besser.
Nach HAAS werden mit phantastischen Erzählungen Kindern und Jugendlichen Freiräume für das Nutzlose, Zweckfreie, für das Spielerische geschaffen und erhalten. Er ist auch der Ansicht, daß in der komisch-phantastischen Kindererzählung phantastische Figuren häufig die Seiten übernehmen, die ein Kind nicht zeigen darf.
"So können diese Figuren relativ klein sein, aus Kinderbüchern oderSpielen stammen, Näschereien lieben, babyhaft sprechen oder sichallgemein in einer Weise äußern, wie sie von Psychologen alsegozentrisch, animistisch, prälogisch beschrieben wird."
6) Phantastische Kinder- und Jugendliteratur oder Kinder- und Jugendliteratur mit phantastischen Elementen?
MAIER unterscheidet literarische Werke, die er der phantastischen Kinder- und Jugendliteratur zuordnet und Werke, die lediglich phantastische Elemente haben, wie z.B. sprechende Tiere, Personen mit ungewöhnlichen Fähigkeiten etc.
Er unterscheidet drei Lebensabschnitte im Kindes- und Jugendalter, denen dann entsprechende Lesewerke zugeordnet werden:
1. Bilderbuch
2. Kinderbuch
3. Jugendbuch
In Bezug auf Phantastik unterscheidet MAIER demnach:
1. die phantastische Bilderbuchgeschichte sowie die wirklichkeitsnahe Bilderbuchgeschichte mit irrealen Elementen
2. die phantastische Kindergeschichte und die wirklichkeitsnahe Kindergeschichte mit irrealen Elementen
3. das utopisch-phantastische Abenteuerbuch, wobei er unterteilt in utopische Geschichten - Science Fiction und in phantastische Geschichten - Fantasy
a) phantastische Bilderbuchgeschichte - wirklichkeitsnahe Bildergeschichte mit irrealen Elementen
2) In der phantastischen Bilderbuchgeschichte begegnen sich Reales und Irreales auf zwei Handlungsebenen. (⇒ Wo die wilden Kerle wohnen)
3) Bei der wirklichkeitsnahen Bildergeschichte steht das Irreale nicht im Vordergrund. Die Handlung bleibt im wesentlichen realitätsbezogen. Häufig kommt es hier zu Anthropomorphisierungen (⇒Oh, wie schön ist Panama). Einzelne Elemente des Phantastischen, z.B. in ⇒Schorschi schrumpft, stellen für MAIER keine andere Wirklichkeitsebene dar.
b) phantastische Kindergeschichte - wirklichkeitsnahe Kindergeschichte mit irrealen Elementen
Das Phantastische ist die Konfrontation zweier Ebenen: der Realen und der Phantastischen. Hierzu zählen auch Geschichten, in denen Unbelebtes lebendig wird (⇒ Pinocchio) oder Geschichten in komplett phantastischen Welten (⇒Geschichten aus dem Mumintal). Auch ⇒Karlsson vom Dach zählt für MAIER zu den phantastischen Geschichten.
Auf der anderen Seite zählt er Bücher wie ⇒Pippi Langstrumpf, Jim Knopf und Lukasder Lokomotivführer oder der 35. Mai zu den wirklichkeitsnahen Kindergeschichten mit irrealen Elementen, bei denen ja die realistische Darstellung dominieren soll.
c) utopische Geschichten - Science Fiction und phantastische Geschichten - Fantasy für Jugendliche
SF wird verstanden als wissenschaftliche, zukunftsweisende Vision, während sich Fantasy anlehnt an Sagen, Mythen etc., ihren Stoff also eher aus Vergangenem schöpfen (Drachen, Ritter etc.).
Literatur
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
- Arbeit zitieren
- Stefanie Plener (Autor:in), 1999, Phantastische Kinder-und Jugendliteratur, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/96980