Inhalt
1. Einleitung
2. Gewalt in Zeichentrickfilmen: Historischer Rückblick
2.1 Walt Disney
2.2 Die "Tex Avery school of violence"
2.3 Die Gewaltdiskussion Ende der 60er Jahre
2.4 Fazit
3. Zur Quantität von Gewaltdarstellungen in Zeichentrickfilmen
3.1 Gewaltprofil des deutschen Fernsehprogramms
3.2 Die ARD/ZDF-Gewaltstudie: Gewalt in von Kindern genutzten Fernsehsendungen
3.3 Fazit
4. Inhaltsanalysen
4.1 Gestaltungsmerkmale von Action-Cartoons
4.2 Die Darstellung von Konflikten und ihren Lösungen in Zeichentrickfilmen
5. Medienwirkungsforschung
5.1 Thesen zur Wirkung von Mediengewalt
5.2 Zur Wirkung von Gewaltdarstellungen in Cartoons
5.3 Kritik an der traditionellen Wirkungsforschung
6. Rezipientenorientierte Medienforschung
6.1 Uses and Gratifications Approach
6.2 Ethnomethodologischer Ansatz
6.3 Medienbiographischer Ansatz
6.4 Strukturanalytische Rezeptionsforschung
7. Kindliche Rezeption von Zeichentrickfilmen
7.1 Welche Zeichentrickfilme präferieren Kinder?
7.2 Zur kindlichen Wahrnehmung und Verarbeitung von Gewalt in Zeichentrickfilmen
8. Resümee
9. Literatur
1. Einleitung
Zeichentrickfilme stellen für Kinder zweifellos eine der beliebtesten Programmgenres im Fernsehen dar. Zuletzt nachgewiesen wurde diese Präferenz für Cartoons in der jüngsten ARD/ZDF-Gewaltstudie, auf die in Abschnitt 3.2 noch detaillierter eingegangen wird. Auf der Basis von GfK-Zuschauerdaten ermittelte die Studie, daß 61,6 Pro- zent des Angebots an Zeichentrickfilmen im deutschen Fernsehen auch tatsächlich von Kindern genutzt wird. Alle übrigen Programm- genres liegen im Nutzungsgrad z. T. deutlich dahinter (Krüger 1996, 123).
Aufgrund der starken Nutzung der Zeichentrickfilme, der festgestell- ten hohen Zahl von Gewaltdarstellungen, der normativen Schutzbe- dürftigkeit von Kindern sowie deren vermutete erhebliche Beeinfluß- barkeit erhält diese Programmgattung ein besonderes Gewicht in der öffentlichen und wissenschaftlichen Diskussion über mögliche schä- digende Wirkungen massenmedialer Gewaltdarstellungen.
Ziel der vorliegenden Arbeit ist es, die Erkenntnisse aus bisherigen Studien zusammenzutragen, zu verknüpfen und kritisch zu bewerten. Zunächst zeigt ein Blick in die Geschichte des Zeichentrickfilms, daß die Gewaltthematik schon in den Anfängen dieses Genres eine we- sentliche Rolle gespielt hat. Daran anschließend sollen quantitative und qualitative Analysen Aufschluß über den Violenzgrad und über konkrete Darstellungsformen von Gewalt in Cartoons geben. Auf dem Hintergrund der traditionellen Wirkungsforschung wird erörtert, ob die gezeigten Gewaltdarstellungen einen negativen Einfluß auf Kinder haben können. Schließlich soll anhand von rezipientenorien- tierten Forschungsansätzen eine differenzierte Sichtweise des kindli- chen Mediengebrauchs dargestellt werden. Im Vordergrund steht dabei die Frage, was Kinder an Zeichentrickfilmen fasziniert, welche Arten von Cartoons bzw. Figuren sie bevorzugen und wie sie die an- gebotenen Inhalte verarbeiten.
2. Gewalt in Zeichentrickfilmen: Historischer Rückblick
Bevor im Folgenden auf die Analysen zur Zeichentrickgewalt eingegangen wird, soll ein Blick in die Geschichte des Zeichentrickfilms Erklärungsansätze für den teilweise hohen Gewaltanteil einiger Zeichentrickserien liefern. Dabei kann und soll nicht die vollständige Entwicklungsgeschichte des Cartoons amerikanischen Ursprungs wiedergegeben, sondern vielmehr die für das Thema der Arbeit relevanten Stationen aufgezeigt werden. (Die folgenden Darstellungen wurden entnommen aus: Schneider 1995, 29 ff.)
2.1 Walt Disney
Als Synonym für aufwendige Zeichentrickproduktionen gilt noch bis heute der Name Walt Disney (eigentlich: Walter Elias Disney). Der frühere Werbezeichner produzierte seit 1922 abgeschlossene Car- toon-Kurzfilme, ab 1924 auch Zeichentrickserien. Der beinahe schon konkurrenzlose Erfolg seiner Produktionen bis ins Jahr 1940 begrün- dete sich im hohen technischen, personellem und damit auch finan- ziellen Aufwand bei der Herstellung der frühen Zeichentrickfilme.
Disney sicherte sich beispielsweise die Exklusiv-Rechte für die Ver- wendung des Dreifarb-Technicolor-Verfahrens, was den Cartoons eine bis dato nicht gekannte Farbenvielfalt einbrachte. Die extrem aufwendigen Herstellungsverfahren erzwangen eine stark arbeitstei- lige Produktion, was zu einer weitgehenden Atomisierung der Pro- duktionsschritte führte. Der Erfolg der Disney-Cartoons war so groß, daß konkurrierende Studios schlichtweg verzweifelten:
"Frustration war alles, was damals herrschte. Wir betrachteten Disneys Filme und wußten, daß wir künstlerisch nicht an sie heranreichen konnten. Mein Gott, [...] es war die reinste Zauberei [...] ." (Al Eugster1, zit. nach: Schneider 1995, 37)
Doch geriet Disney bereits mit seinen frühen Mickey Mouse-Cartoons ins Kreuzfeuer der Kritik (insbesondere von seiten der einflußreichen Hausfrauenverbände). Bemängelt wurden der zwei- deutige vulgäre Humor und die gewalttätigen Exzesse gegenüber anderen Figuren. Dies zwang Disney zu einer Entschärfung der Car- toons, führte zu einer Abwendung von gesellschaftsbezogenen The-men und zu einer Hinwendung zu populären Märchenthemen, eine Entwicklung, die in der Folgezeit den "Disney-Stil" prägte.
"Die Helden wurden niedlicher, die Tiere menschlicher [...]. Manche Geschichten wurden so verniedlicht und verharmlost, daß sie wie von Zuckerguß überzogen schienen." (Baron 1982, zit. nach Schneider 1995, 40)
Dieser massenwirksame Stil etablierte sich in den Folgejahren und ist auch heute noch in aktuellen Disney-Produktionen vorzufinden. 1940 geriet Disney in finanzielle Abhängigkeit von mächtigen Geldgebern (Rosenberg und Rockefeller), als die erwarteten europäischen Einnahmen aus zwei Langfilmen (Pinocchio und Fantasia) kriegsbedingt ausblieben. Dies führte letztlich zum Verlust seiner künstlerischen Kontrolle über die Produktion.
2.2 Die "Tex Avery school of violence"
Parallel zur nachlassenden innovativen Kraft Disneys begannen an- dere Studios in den 40er Jahren mit der Produktion qualitativ ver- gleichbarer Cartoons. Besonders hervorzuheben ist hier die Zeichen- trickserie "Tom und Jerry", die in den MGM2 -Studios bis ins Jahr 1957 unter Leitung von William Hanna, Joseph Barbera und Fred "Tex" Avery produziert wurde. Avery war es auch, der dieser Serie eine neue Qualität verlieh und dessen Einfluß auf das Genre kaum überschätzt werden kann (vgl. Schneider 1995, 43).
"Sein Name steht heute vor allem für die Zuspitzung des Genres auf den hem- mungslosen Schlagabtausch, die Beschleunigung von Bildern und Szenenfolgen auf ein bis dahin unvorstellbares Maß sowie die Darstellung extremer und unauf- hörlicher Gewalt als Quelle eines Humors, der davon lebt, daß eine Figur auf be- sonders lustige Weise verhauen, erschlagen, zerstückelt, geköpft oder in die Luft gejagt wird." ("Filmkunst 66" 1977, zit. nach: Schneider 1995, 43)
"Wir haben herausgefunden, daß du ungeheures Gelächter allein aus der Tatsa- che herausholen kannst, daß jemand total zerstört wird, solange du hinterher auf- räumst und ihn wieder zum Leben erweckst [...]. Das ist Übertreibung bis zu dem Punkt, von dem wir hofften, es wird komisch" (Tex Avery, zit. nach: Schneider 1995, 43)
"Tom und Jerry" wurde so zu einer der einträglichsten Serien im Car- toon-Geschäft. Zahlreiche Serien folgten und alle trugen die Hand- schrift der "Tex Avery school of violence": "Porky Pig", "Daffy Duck", "Bugs Bunny", "The Road Runner", "Wile E. Coyote", "Tweety", "Syl- vester", "Elmer Fudd", "Yosemite Sam" und "Speedy Gonzales".
2.3 Die Gewaltdiskussion Ende der 60er Jahre
Der Einzug der Cartoons in das amerikanische Fernsehen (und da- mit verbunden das Verschwinden aus den Kinos) läßt sich in etwa auf die frühen 50er Jahre datieren. In der Folge wurden einige Car- toons (z.B. "The Bugs Bunny Show", "The Flintstones") sehr erfolg- reich in der Hauptsendezeit der großen Networks ausgestrahlt. 1963 begann CBS jedoch damit, die Zeichentrickfilme auf den Samstag- vormittag zu verlagern und bis 1966 folgten die anderen Networks dieser Umstrukturierung. Mit der Verschiebung des Sendeplatzes einher ging aber auch die Änderung der Zielgruppendefinition. Wäh- rend die frühen Cartoons sich sowohl an Erwachsene als auch Kin-der wandten, richteten sich die Zeichentrickfilme am Samstagvormittag vornehmlich an Kinder.
Anfang der 60er Jahre wurden die dort ausgestrahlten Cartoons we- gen ihres hohen Gewaltgrades zunehmend von der amerikanischen Öffentlichkeit kritisiert3. Für die Gewaltthematik durch die Ermordung John F. Kennedys und Martin Luther Kings sowie durch den Viet- namkrieg sensibilisiert, forderten Bürgerinitiativen wie z.B. die "Action for Children's Television (ACT)" gewaltfreie Programme mit prosozia- len Inhalten. Die durch die öffentliche Kritik um ihr Ansehen besorg- ten Fernsehstationen beauftragten daher die Trickfilmstudios mit der Produktion gewalt- und diskriminierungsfreier Cartoons. Gleichzeitig installierten die Networks Kontrollorgane in den Studios, die weitrei- chenden Einfluß auf die Produktion der Cartoons nahmen4. Trotz dieser Restriktionen wurden weiterhin violente Cartoons produziert, die an die unabhängigen Fernsehstationen verkauft werden konnten und so zur Ausstrahlung gelangten5.
2.4 Fazit
Dieser (wenn auch kurze) historische Rückblick läßt folgende Schlußfolgerungen zu:
a) Die Diskussion über Gewalt in Zeichentrickfilmen ist keineswegs neu. Schon Disneys frühe Cartoons stießen auf erheblichen Widerstand, was schließlich zur Ausprägung des weitgehend gewaltfreien "Disney-Stils" führte.
b) Die Etablierung von (humoristischen) Gewaltdarstellungen als genrespezifisches Merkmal der Cartoons ist auf den (kommer- ziellen) Erfolg der Zeichentrickserie "Tom und Jerry" in den 40er und 50er Jahren und der damit verbundenen massenhaften Ü- bernahme der "Tex Avery school of violence" als grundlegendes Charakteristikum der Gestaltung in zahlreichen Zeichentrickse- rien zurückzuführen.
c) Die Gewaltdiskussion um das Samstagvormittagsprogramm in den USA gegen Ende der 60er Jahre spiegelt die bis heute vor- herrschende Ansicht in der Öffentlichkeit und in bestimmten wis- senschaftlichen Kreisen wider, man könne vom Inhalt medialer Darstellungen pauschal und allgemeingültig auf die Wirkung schließen.
3. Zur Quantität von Gewaltdarstellungen in Zeichentrickfilmen
Zur Analyse der in Zeichentrickfilmen dargestellten Anzahl an Ge-waltakten werden im folgenden zwei Studien neueren Datums vorge- stellt, die das Gewaltangebot im deutschen Fernsehen untersucht haben.
3.1 Gewaltprofil des deutschen Fernsehprogramms
Jo Groebel und Uli Gleich legten 1991 die Studie "Gewaltprofil des deutschen Fernsehprogramms" vor, die sie im Auftrag der Landes- anstalt für Rundfunk Nordrhein-Westfalen (LfR) anfertigten. Durch Zufallsstichprobe wählten sie in einem Zeitraum von acht Wochen Programme der Sender RTL, SAT 1, Tele 5, PRO 7, ARD und ZDF so aus, daß eine vollständige Woche nach dem jeweiligen Pro-grammschema repräsentiert war. Sie zeichneten 750 Programm-stunden auf Video auf, die von sechs Beurteilern hinsichtlich der Ag- gressions- und Bedrohungshandlungen nach Qualität und Quantität kodiert wurden (vgl. Groebel 1993, 9). Hinsichtlich violenter Hand- lungen in Zeichentrickfilmen kommen sie zu dem Ergebnis, daß ein Viertel aller Gewaltszenen des Samples auf Zeichentrickfilme entfal- len. Einschränkend weisen sie jedoch darauf hin, daß Formen ex- tremer körperlicher Gewalt bzw. Mord in diesem Genre eine wesent- lich geringere Rolle spielen. Hinsichtlich möglicher Folgen vermuten die Autoren Gefahren für jüngere Kinder, bei denen kurzfristige Imita- tionshandlungen in neueren Analysen beobachtet worden seien (vgl. ebenda, 105).
Die Studie verbleibt allerdings "auf dem Niveau der Leichenzähler" (Kunczik 1994, 44) und ist auch hinsichtlich des Untersuchungsde- signs nicht unanfechtbar. Die Einschätzung einer Handlung als ge- walttätig und die Kodierung der aggressiven bzw. bedrohenden In- halte durch Experten mag "objektiv" begründbar sein, weicht aber von den Wahrnehmungen der Rezipienten häufig ab:
"Tate (1977) kann aufzeigen, daß die Rezipienten grundsätzlich weniger Gewalt in Fernsehprogrammen wahrnehmen als aufgrund der Resultate von Inhaltsanalysen erwartet wird." (ebenda, 48)
"Gerade bei Zeichentrickfilmen sagt die rein numerische Quantität der 'Gewaltakte' nichts über deren Wahrnehmung durch die Rezipienten aus. [...] Howitt und Cum- berbatch (1974) zeigen, daß Zeichentrickfilme ungeachtet der in ihnen enthaltenen 'objektiv' hohen Gewaltrate nicht als violent, sondern als lustig eingestuft werden." (ebenda, 49)
Groebel / Gleich registrieren, daß "[...] in fast der Hälfte aller deut-schen Fernsehsendungen [...] einmal Aggression oder Bedrohung in irgendeiner Form thematisiert [wird, G.K.]" (Groebel 1993, 123). Da- bei entfalle ein Viertel der violenten Sendungen allein auf das Zei- chentrickgenre. Die Autoren führen an, aus den Ergebnissen der Studie könnten keine Wirkungsaussagen abgeleitet werden und ver- weisen auf die Notwendigkeit einer sich anschließenden Wirkungs- studie. Jedoch sind die Befunde dieser Angebotsanalyse genutzt worden, um insbesondere die privaten Fernsehanbieter unter Druck zu setzen. (vgl. Kunczik 1994, 44)
3.2 Die ARD/ZDF-Gewaltstudie
Gewalt in von Kindern genutzten Fernsehsendungen Eine Anfang 1993 von ARD und ZDF in Auftrag gegebene Gewalt- studie untersuchte in einer ersten Phase Erscheinungsformen der Fernsehgewalt in Informationssendungen und Reality-TV. Die zweite Teilstudie, mit der das Institut für empirische Medienforschung (I- FEM) in Köln beauftragt wurde, beschäftigte sich mit der Analyse der von Kindern tatsächlich genutzten Fernsehgewalt (vgl. Krüger 1996, 114 ff.). Untersucht wurde das Programmangebot von ARD, ZDF, RTL, SAT.1, PRO SIEBEN und RTL 2 im Zeitraum vom 14. bis 20. März 1994. Der tägliche Untersuchungszeitraum wurde auf 15.00 bis 23.00 Uhr an Werktagen und 8.30 bis 23.00 Uhr am Wochenende festgelegt. Das so definierte Programmangebot wurde auf Videotape aufgenommen und von 10 Codern hinsichtlich der Gewaltintensität auf einer 10-Punkte-Skala eingestuft. Gewaltakte mit einer mittleren Intensität von mindestens 2,5 gingen in die Analyse ein. Die so ermit- telten Gewaltintensitäten wurden mit GfK-Zuschauerdaten verknüpft, wobei nur Sendungen betrachtet wurden, die bei Kindern im Alter von 6 bis 13 Jahren eine Reichweite von mindestens 4 % erzielten. Die wichtigsten Ergebnisse:
a) Den größten Teil der angebotenen Gewaltdarstellungen sehen Kinder gar nicht.
b) "Hard violence" (im Sinne des Untersuchungsdesigns: Gewalt-darstellungen mit einer mittleren Gewaltintensität von mindestens 6,5 Punkten auf der 10-Punkte-Skala) sehen Kinder nur in sehr geringem Maße, ob aus eigenem Antrieb oder elterlichem Einfluß, bleibt ungeklärt.
c) Werden Gewaltdarstellungen gesehen, so geschieht dies in
Form von "Unterhaltungsgewalt" in Actionfilmen, hinsichtlich des Kinder- und Jugendprogramms zeigt sich der Hauptanteil bei allen Sendern in den Cartoons.
Auch diese Studie attestiert den Cartoons hohe Gewaltraten. Zudem wurde ermittelt, daß Cartoons von den Kindern (gemessen am An- gebot) am häufigsten genutzt werden. Ohne dies weiter zu begrün- den oder durch empirische Studien zu untermauern, äußert Krüger Bedenken, daß bei Kindern durch die selektive Nutzung der Gewalt-angebote in Form von Unterhaltungsgewalt "das wirkliche Gleichgewicht von Gewaltintensität und Schadensintensität verloren geht". (Krüger 1996, 132)
3.3 Fazit
Beide Studien ermitteln einen hohen Anteil von Gewaltdarstellungen in Zeichentrickfilmen. Obwohl die Untersuchungen lediglich die Quantifizierung der Gewaltakte bzw. eine Analyse der Nutzungsin- tensität durch Kinder zum Ziel haben, werden von den Autoren Wir- kungsannahmen propagiert, die empirisch nicht gesichert sind.
4. Inhaltsanalysen
Die vorgenannten Studien geben keinen bzw. nur wenig Aufschluß über die Art und Weise, wie Gewalt in Zeichentrickfilmen transportiert wird. Daher wird im folgenden zunächst auf gestalterisch-formale Aspekte am Beispiel von Action-Cartoons eingegangen. Weiterhin untersucht Bernd Schneider in einer Inhaltsanalyse die Darstellung von Konflikten und ihren Lösungen in Zeichentrickfilmen.
4.1 Gestaltungsmerkmale von Action-Cartoons
Mit der Analyse von Action-Cartoons beschäftigten sich Beate Becker u.a. 1991. Die folgenden Analyseergebnisse beziehen sich auf die Serie "He-man and the Masters of Universe", die im Mittelpunkt des Forschungsprojektes stand.
Der Grundkonflikt in Action-Cartoons bewege sich im Spannungsfeld zwischen Gut und Böse, die dargestellten Akteure spiegelten in ih- rem Aussehen ihre Charaktere wider: Die "Bösen" erschienen in dunklen tristen Farben, die "Guten" würden in hellen, freundlichen Farben dargestellt. Formale Mittel zum Spannungsauf- und abbau seien treibende Musik und wechselnde Kameraeinstellungen. Gewalt in Action-Cartoons diene der Spannungserzeugung und werde als Mittel zur Konfliktlösung dargestellt, wobei sie sich allerdings haupt- sächlich gegen Gegenstände richte. Die dargestellte Gewalt unter-scheide sich in Gewalt gegen Gut und Gewalt gegen Böse, wobei letztere von sich aus legitimiert sei. Es werde ein statisches Weltbild gezeigt, die "heile Welt" werde im Laufe jeder Folge durch "Böse" bedroht, die "Guten" stellten jedoch gegen Ende die "heile Welt" wie- der her. Die Gestaltungselemente und die deutliche Trennung zwi- schen "Gut" und "Böse" kämen der kindlichen Rezeptionsweise ent- gegen. (vgl. Becker 1991)
4.2 Die Darstellung von Konflikten und ihren Lösungen in Zeichen- trickfilmen
Bernd Schneider beschäftigt sich 1995 in einer quantitativen Inhalts- analyse mit der Darstellung von Konflikten und ihren Lösungen in Zeichentrickfilmen. Er analysiert 184 Folgen aus 73 verschiedenen Zeichentrickserien und konstatiert, daß den meisten Zeichentrickse- rien ein konservatives Konfliktmodell zu Grunde liege6. In fünf von sechs Folgen werde die Lösung eines Konfliktes durch den Einsatz von Machtmitteln herbeigeführt, in jeder zweiten Folge werde Gewalt als Mittel zur Konfliktlösung gezeigt. Die dabei handelnden Figuren seien stark polarisierend ("Gut" und "Böse") dargestellt. Die Ursa- chen für Gewaltanwendung seien auf der Ebene des Subjekts ange- siedelt, eine Lösung bestehe lediglich im Beseitigen des Gewaltaus- lösers.
Zusammenfassend beschreibt Schneider die Grundelemente von Zeichentrickfilmen als "Schlechtigkeit, das Initiieren von Konflikten und das Scheitern der damit verbundenen Absichten [...]" (Schneider 1995, 193)
"Dieser feste Konnex läßt das Auslösen von Konflikten insgesamt wenig attraktiv und schmeichelhaft für denjenigen erscheinen, der den sozialen Mut hat, beste- hende, als unbefriedigend erlebte Verhältnisse mit Veränderungsabsicht offen an- zusprechen oder gar aktiv handelnd anzugehen. Die Rolle, die das Medienangebot Zeichentrickserie für diesen Fall bereithält, ist die des 'Bösewichts'. Und nur, wer bereit ist, die angestrebten Veränderungen zu verhindern, darf sich in der Rolle des 'Helden' wohlfühlen." (Schneider 1995, 193)Macht, Gewalt und der Erhalt des Status quo seien im Zeichentrick-genre wesentliche Merkmale der dargestellten Konfliktlösungsmus- ter.
Schneider, dessen Analyse über die Betrachtung der violenten Inhalte hinausgeht, zieht somit eine negative Bilanz hinsichtlich der sozialen Verträglichkeit der Cartoons. Seinen Ausführungen liegen allerdings Wirkungsannahmen zugrunde, die sich weitgehend auf Banduras frühe Lerntheorie stützen und somit hinsichtlich aktueller Ansätze der Medienforschung zu relativieren sind.
5. Medienwirkungsforschung
Die bisher dargelegten Studien zeigen, daß Zeichentrickfilme einen hohen Grad an Gewalthandlungen beinhalten. Außerdem wird die Form der Darstellung als bedenklich eingeschätzt, da die Gewalt als probates und legitimiertes Mittel zur Konfliktlösung dargestellt wird. Daher scheint eine ablehnende Haltung hinsichtlich dieses von Kin- dern so geliebten Programmgenres berechtigt. Eine solche Ableh- nung beinhaltet aber stets die Annahme einer konkreten negativen Wirkung auf den Rezipienten, sei es, daß eine Übernahme von vio- lenten Verhaltensmustern im Sinne der Lerntheorie vermutet oder daß zumindest eine Herbeiführung oder Verstärkung ängstlicher bzw. aggressiver Weltbilder antizipiert wird (vgl. Groebel 1993, 130).
5.1 Thesen zur Wirkung von Mediengewalt
Über 5.000 Studien haben sich bisher mit den Auswirkungen medialer Gewaltdarstellungen befaßt, so daß der "(unzutreffende) Eindruck entsteht, dieses Problemfeld gehöre zu den am besten untersuchten Bereichen der Wirkungsforschung" (Kunczik 1994, Vorwort). Tat- sächlich weise die Forschung aber in bestimmten Bereichen sehr große Lücken auf und die Befunde seien zusammenhanglos und widersprüchlich (Kunczik 1988, 74).
Es entstanden verschiedene Thesen zur Wirkung massenmedialer Gewaltdarstellungen, von denen hier einige kurz genannt werden sollen:
Der Katharsisthese liegt die Annahme zugrunde, daß beim Zuschau-er eine Aggressionsminderung durch die Rezeption medialer Ge-waltdarstellungen hervorgerufen werden könne. Der Aggressions-trieb könne in der Phantasie ausgelebt werden und vermindere somit das Auftreten aggressiven Verhaltens in der Realität. Die Katharsis- these geht zurück auf Gedanken Aristoteles, der von einer reinigen- den Wirkung von Gewaltbetrachtungen ausging und sie hat ihren theoretischen Hintergrund in Freuds Projektionsannahme. Eng mit dieser These verbunden ist die Inhibitionsthese, wonach das Be- trachten von Gewaltdarstellungen Aggressionsangst hervorrufe, die zur Hemmung aggressiven Verhaltens führe. Sowohl die Katharsis- these als auch die Inhibitionsthese gelten inzwischen als empirisch widerlegt und werden praktisch nicht mehr vertreten. (vgl. Kunczik 1994, 59 ff.)
Die auf der Frustrations-Aggressions-These basierende Stimulations- these besagt, die Betrachtung medialer Gewalt könne bei einem be- reits bestehenden Aggressionspotential zu violentem Verhalten füh- ren. Die Gewaltdarstellungen werden in dieser These als Auslöser in- terpretiert.
Die Habitualisierungsthese betont langfristige Prozesse beim Rezi- pienten und geht davon aus, daß fortgesetzter Konsum von Gewalt- darstellungen zur einer Desensibilisierung des Zuschauers führe. Gewöhnung und Abstumpfungseffekte seien zu beobachten, auch reale Gewalt werde in der Folge als alltägliches Phänomen akzeptiert und toleriert.
Während die bisher erwähnten Wirkungsthesen in der Forschung sehr umstritten sind bzw. als widerlegt gelten, findet die Imitations- these und die damit verbundene Theorie des Lernens am Modell nach Bandura größere Anerkennung in der wissenschaftlichen Dis- kussion. Die Imitationsthese besagt, daß die Perzeption von Medien- gewalt und der dargestellten aggressiven Verhaltensmuster zu Lern- effekten beim Zuschauer führe. Insbesondere bei "erfolgreichen" (i. e. S. belohnten bzw. nicht bestraften) violenten Verhaltensmodel- len bestehe eine hohe Wahrscheinlichkeit der Imitation durch den Rezipienten. In der Theorie des Beobachtungslernens wird in diesem Zusammenhang zwischen dem Erwerb und der Ausführung des Ver-haltens unterschieden. Während der Erwerb des Verhaltens unabhängig von den gezeigten Konsequenzen für das Modell sei, werde das Ausführen des Verhaltens stark durch positive (bzw. das Ausbleiben von negativen) Sanktionen begünstigt.
Bandura verifizierte seine Theorie in einem Experiment mit Kindern im Vorschulalter. Den Kindern wurde ein Film vorgeführt, in dem ag- gressives Verhalten in der Variante A positiv sanktioniert bzw. erfolg- reich, in der Variante B negativ sanktioniert und nicht erfolgreich ge- zeigt wurde. Er stellte fest, daß die Kinder, die die Variante A gese- hen hatten, das aggressive Verhalten eher imitierten als die Kinder, denen die Variante B gezeigt wurde. In einem weiteren Experiment wurde Kindern ein Film gezeigt, in dem sich eine erwachsene Ver- suchsperson verbal und physisch aggressiv mit einer Puppe be-schäftigte. Nach der Vorführung des Filmes wurden die Kinder frustriert (man nahm ihnen Spielzeug weg) und ihr Verhalten beobachtet. Es zeigte sich, daß die Kinder das vorher im Film gezeigte aggressive Verhalten imitierten.
Banduras Experimente wurden (und werden heute noch) als Beweis der schädigenden Wirkung medialer Gewaltdarstellungen interpretiert, obwohl Bandura später selbst durch die Konstruktion und Einbettung des reziproken Determinismus in seine Theorie die Bedeutung der Wechselwirkungen zwischen Persönlichkeit und Umwelt stärker betont und sich damit vom eher nomologischen Ansatz seiner Experimente in den 60er Jahren entfernt.
5.2 Zur Wirkung von Gewaltdarstellungen in Cartoons
In Hinblick auf Gewalt in Zeichentrickfilmen faßt Kunczik die bisherigen Forschungsergebnisse wie folgt zusammen:
"Zeichentrickfilme [...] enthalten zwar Gewaltakte, aber diese fiktive Gewalt hat, wie alle andere fiktive massenmedial verbreitete Gewalt auch, keinerlei negative Effek- te auf die Rezipienten - und zwar auch nicht auf Kinder." (Kunczik 1983, 341 und 1994, 50)
Gerade bei Zeichentrickfilmen sage die reine Anzahl der Gewaltdar- stellungen nichts über die Wahrnehmung der Rezipienten aus. Da Kinder zumeist in der Lage seien, zwischen realer und fiktiver Gewalt zu unterscheiden, würden Zeichentrickfilme mit einer "objektiv" ho-hen Gewaltrate von ihnen nicht als violent, sondern als lustig einge- stuft. Das von den Forschern entwickelte Kategorienschema weiche häufig von den Einschätzungen der Rezipienten ab. Daher müsse bereits im Vorfeld der eigentlichen Wirkungsforschung bei der In- haltsanalyse eine Umorientierung erfolgen: Bei der Bildung inhalts- analytischer Kategorien solle die Perzeption der Inhalte zugrunde ge- legt werden (Funktionale Inhaltsanalyse). Unter Hinweis auf Überle- gungen von Piaget müsse berücksichtigt werden, daß Kinder je nach Alter die Fernsehinhalte unterschiedlich wahrnähmen (Kunczik 1994,47 ff.). Besonders bei jüngeren Kindern seien kurzfristige aggressive Reaktionen nach dem Ansehen violenter Filme beobachtet worden, die jedoch als Folge allgemeiner Erregung zu interpretieren seien und auch durch andere Inhalte bewirkt werden könnten (Kunczik 1983, 340). Selbst "kindgerechte" Zeichentrickfilme wie "Pinocchio" oder "Heidi" bewirkten bei Kindern stark emphatische Reaktionen und könnten unter dem Gesichtspunkt emotionaler Störungen "ge- fährlicher" sein als violente Filme (ebenda, 341). Kunczik resümiert, die Ergebnisse der empirischen Forschung wiesen eindeutig auf das Nichtvorhandensein einer Kausalbeziehung zwischen Cartoons und befürchteter negativer Wirkung (Angst, gesteigerte Violenz etc.) hin (Kunczik 1994, 50).
"Wenn bereits Cartoons als sozialschädlich eingestuft werden, bliebe in logischer Konsequenz nur die Einstellung des gesamten Fernsehprogramms." (Kunczik 1983, 341)
Groebel (1991) hingegen befürchtet, die in den Cartoons gezeigten Gewaltszenen würden trotz ihres hohen Irrealitätsgrades von den Kindern als Aggression wahrgenommen und würden "durch Genera- lisierungsprozesse in das Gesamtsystem langfristiger Gewaltein- schätzungen aufgenommen [...]" (Groebel 1991, 130). Für junge Kin- der habe man Imitationswirkungen feststellen können, eine starke physiologische Wirkungswahrscheinlichkeit könne hier als gegeben angesehen werden (ebenda, 108).
Rogge (1993) interpretiert diese motorischen Reaktionen jedoch als "[...] Folge der akustischen Elemente, eine Konsequenz aus dem In-halt, die Raum und Zeit, oben und unten, ja die gesamten physikali-schen Gesetze in ihrer Logik aufhebt" (Rogge 1993, 31).
Angst, Verunsicherung und überzogene motorische Akte würden bei jüngeren Kindern nicht durch die Inhalte, sondern durch die extrem schnelle und dynamische Dramaturgie sowie durch die Geräusche und Musik ausgelöst (ebenda, 127). Der Film (angesprochen ist hier eine Folge der Zeichentrickserie "Tom und Jerry") bleibe erträglich, "weil er für die meisten Kinder keine bestimmten Problemkonstellationen des Alltags anspricht" (ebenda, 31).
Faßt man die bisherigen Ausführungen zur Wirkung von Zeichen- trickgewalt auf Kinder zusammen, so ist nicht davon auszugehen, daß Gewaltdarstellungen in Cartoons eine Bedeutung zur Herausbil- dung überdauernder violenter Verhaltensmuster bei Kindern haben.
5.3 Kritik an der traditionellen Wirkungsforschung
Kuncziks Literaturanalyse (1994) stellt letztlich eine Kritik an den An- sätzen und an der Interpretation der Ergebnisse der bisherigen Wir- kungsforschung zur Gewaltproblematik dar. Die in den Studien ermit- telten schwach positiven Korrelationen zwischen Mediengewalt und dem Auftreten realer Gewalt seien von den Forschern im Sinne eines Kausalbeweises überinterpretiert worden. Dabei könne die Bezie-hung auch umgekehrt sein, daß bereits aggressive Persönlichkeiten bevorzugt violente Programme konsumieren (Kunczik 1994, 151). Die festgestellten Korrelationskoeffizienten bewegten sich zwischen 0,1 und 0,2, wobei Koeffizienten mit einer Stärke von weniger als 0,2 zumeist als uninterpretierbar angesehen würden. Zudem seien deut- liche Zusammenhänge zwischen medialer Gewalt und violentem Verhalten meist in Laborexperimenten ohne Einbeziehung der Um- welt und Sozialisationsbedingungen des Rezipienten nachgewiesen worden, in Feldstudien seien die beobachteten Effekte weitaus schwächer ausgeprägt (ebenda, 58 f.). Schließlich seien Massenme- dien nur einer von vielen Einflüssen, die die Persönlichkeitsentwick- lung beeinflussen:
"Auch für das Erlernen von aggressiven Verhaltens gilt, daß zunächst die unmittel- bare familiäre Umwelt, sowie die Subkultur, in der man lebt, und das generelle kul-turelle System die Quellen sind, aus denen aggressives Verhalten erlernt wird. Erst an dritter Stelle treten die massenmedial angebotenen symbolischen aggressiven Modelle hinzu." (Kunczik 1994, 90 f.)
Hinsichtlich der Studien, die sich mit den Auswirkungen von Gewalt- darstellungen auf Kinder und Jugendliche befassen, ist zu kritisieren, daß eine alters- und geschlechtsspezifische Differenzierung häufig nicht stattfindet und die für eine bestimmte homogene Gruppe (z.B. Vorschulkinder) gewonnenen Ergebnisse unzulässigerweise genera- lisiert werden. Angesichts der unterschiedlichen kognitiven und kommunikativen Kompetenzen von Kindern im Verlauf des Sozialisa- tionsprozesses wäre hier eine differenzierte Betrachtung notwendig. Innerhalb der in Abschnitt 5.1 genannten Wirkungsthesen erscheint der Rezipient als mehr oder weniger passives Objekt, auf den violen- te Medieninhalte einwirken, "ohne daß irgend etwas gefiltert bzw. subjektiv gedeutet wird" (Aufenanger 1995, 229). Eine solche Auffas- sung des Rezeptionsprozesses, die die Eigenaktivität und Interpreta- tionsfähigkeit des Rezipienten außer acht läßt, ist wohl kaum be- gründbar und erscheint zu kurzsichtig, um neue Erkenntnisse zum Stellenwert der Medien für die Generierung realer Gewalt zu liefern. Daher entwickelte sich in den 60er Jahren eine Forschungsrichtung, die den Rezipienten in den Mittelpunkt der Betrachtung stellt. Nicht mehr die Untersuchung einfacher Ursache-Wirkungs-Zusammen- hänge, sondern die Analyse von Systemen in Interaktion sollte die Medienwirkungsforschung vom methodischen "Holzweg" abbringen (vgl. Charlton/Neumann-Braun 1992, 39). Im folgenden Abschnitt werden daher rezipientenorientierte Forschungsansätze beschrie- ben, von denen die strukturanalytische Rezeptionsforschung den umfassenderen und in Bezug auf Medienrezeption durch Kinder re- levanteren Ansatz darstellt.
6. Rezipientenorientierte Medienforschung
6.1 Uses and Gratifications Approach
Der Uses and Gratifications Approach7 kehrt den traditionellen An-satz der Wirkungsforschung um. Dabei wird von einem aktiv selektie- renden und reflektierenden Rezipienten ausgegangen, der Medien- inhalte für seine Zwecke nutzt und - in welcher Weise auch immer - persönlichen Gewinn aus ihnen zieht. Die Medien sind innerhalb die- ses Ansatzes kein Beeinflussungsfaktor für menschliches Handeln, sondern Objekt zielgerichteter Bedürfnisbefriedigung. Entwickelt wurde dieser Ansatz bereits in den vierziger Jahren von dem Me-dienforscher Paul Lazarsfeld, theoretisch hergeleitet und begründet wurde er erstmals von Blumler/Katz 1974. Der Uses and Gratificati- ons Approach beschreibt den Rezipienten in einem funktionalen Mo- dell, das den Menschen als ein sich selbst regulierendes soziales System auffaßt. Die Rezeption dient dabei als Mittel zur Herstellung des Gleichgewichts in einem komplexen Mensch-Umwelt-System, wobei der Zusammenhang des Rezeptionsprozesses mit der Verän- derung des Gesamtsystems mit Hilfe von Kausalgesetzen erklärt wird (vgl. Charlton/Neumann-Braun 1992, 47). Der Nutzen-Ansatz, eine in Deutschland entwickelte Variante des Uses and Gratifications Approach, untersucht ebenfalls den Mediengebrauch, betont jedoch stärker die aktive Realitätsverarbeitung des Subjekts. Kritisiert werden die auf dem Nutzen-Ansatz basierenden Untersu- chungen wegen der unzureichenden Klassifikation und Operationali- sierung von Bedürfnissen, die häufig durch Befragungen ermittelt werden und so einen adäquaten theoretischen Bezugsrahmen ver- missen lassen (vgl. Charlton/Neumann-Braun 1992, 49; Kunczik 1994, 55). Außerdem würden Bedürfnisse "[...] oft zirkulär definiert, wenn die Existenz eines Bedürfnisses aus einem Verhalten er- schlossen und ebendieses Verhalten dann mit Hilfe des Bedürfnisses erklärt wird" (Kunczik, 1994, 55 f.). Schließlich wird kritisiert, daß der Blick auf den einzelnen Rezipienten gerichtet sei, wodurch vernach-lässigt werde, daß sich Kommunikationsbedürfnisse und -erwar-tungen in sozialen Lebenszusammenhängen entwickeln. Besonders problematisch sei der Nutzen-Ansatz innerhalb von Untersuchungen zum Mediengebrauch von Kindern, da diese vermutlich noch weniger als Erwachsene dazu in der Lage seien, ihre mit der Medienrezeption verbundenen Bedürfnisse zu benennen (vgl. Charlton/Neumann- Braun 1992, 51).
6.2 Ethnomethodologischer Ansatz
Ethnomethodologische Forschungsansätze beschäftigen sich mit der Frage, wie Menschen Medien dazu benutzen, ihre die eigene Le- benswelt, das soziale Miteinander zu gestalten und zu interpretieren. Nach Charlton/Neumann-Braun erfüllen die Medien vier wichtige so- ziale Funktionen:
a) Medieninhalte/-geschichten dienten dem Rezipienten als Liefe- rant für Gesprächsstoff und als Wissensquelle.
b) Der Rezipient nutze Medien zur Selbstversicherung und Identi- tätsbildung.
c) Der formale Aufbau der Medieninhalte diene der Rahmenbildung, d.h. der Einordnung bestimmter Einzelereignisse in einen Erklä- rungszusammenhang. Dies führe zur Konstituierung bestimmter Wahrnehmungsmuster und unterstütze damit die aktive Reali- tätskonstruktion des Menschen.
d) Der Mediengebrauch koordiniere gemeinsames Handeln, die Mediennutzung bilde einen Handlungsrahmen, der den Alltag koordiniert und organisiert.
(vgl. Charlton/Neumann-Braun 1992, 58 ff.)
Ethnomethodologische Studien untersuchten bislang vorrangig Re- zeptionsgewohnheiten und Kommunikationsmuster in Familien. Da- bei kristallisierten sich zwei verschiedene Familientypen heraus, die von Barthelmes/Sander 1990 in einer Metaanalyse dargestellt wur- den: Sozio-orientierte Familien und Konzept-orientierte Familien. So- zio-orientierte Familien sehen mehr fern, treffen eine diffuse Pro-grammauswahl und nutzen Medien bevorzugt zur Organisation und Aufrechterhaltung des Familienlebens sowie zur Verdrängung und Vermeidung von unerwünschten Stimmungen. Konzept-orientierte Familien sehen insgesamt weniger und selektiver fern und nutzen Medien vorwiegend zur Vermittlung von Werten und Normen, sowie zur Wissenserweiterung (ausführlich: Charlton/Neumann-Braun, 1992, 64 f.)
Der Nachteil von ethnomethodologischen Untersuchungen wird darin gesehen, daß zuwenig gesichertes Wissen über die einzelnen Motive und Bedürfnisse der Handelnden existiere (ebenda, 67).
6.3 Medienbiographischer Ansatz
Medienbiographische Forschungsansätze versuchen in Einzelfallstudien Erkenntnisse über den Zusammenhang von Mediengeschichten und Lebensgeschichten zu gewinnen. Der Lebenslauf und die individuelle Biographie des Medienrezipienten sollen darüber Aufschluß geben, welche Bedeutung der Mediengebrauch zur alltäglichen Lebensbewältigung des Individuums hat und welche Spuren Medienbotschaften im Leben des Rezipienten hinterlassen.
Obwohl im Bereich der Medienforschung verstärkt für die Biographie- forschung plädiert werde, finde sie noch kaum Verbreitung. Der Grund hierfür sei im großen ökonomischen Aufwand derartiger Mik- roanalysen zu sehen. Außerdem zeige sich, daß die notwendige sprachanalytisch-theoretische Auswertung des durch die Methode des narrativen Interviews gewonnenen Materials de facto häufig auf dem Niveau einer illustrierten Nacherzählung verbleibe (ebenda,67 f.).
6.4 Strukturanalytische Rezeptionsforschung
Die strukturanalytische Rezeptionsforschung nach Charlton/Neu- mann-Braun ist eine relativ junge Forschungsrichtung, die sich vor- nehmlich mit der Medienrezeption von Kindern befaßt. Innerhalb die- ses theoretisch und methodisch interdisziplinären Ansatzes wird der Mediengebrauch aus der sozialen Situation und aus dem Entwick- lungsstand des Kindes erklärt. Die wichtigsten Ansatzpunkte der strukturanalytischen Rezeptionsforschung sollen hier kurz dargestellt werden:
Der Mediengebrauch wird als eine aktive, realitätsverarbeitende
Handlung der Rezipienten verstanden, die der "Vermittlung zwischen ihrer individuell erlebten Einzigartigkeit und allgemeinen sozialen Deutungsmustern [diene, G.K.] (Charlton/Neumann 1986, 20). Me- dienhandeln wird als Spezialfall sozialen Handelns angesehen. Zwar sei die soziale Interaktion zwischen Medium und Zuschauer durch technische Bedingungen eingeschränkt (Einwegkommunikation), doch bestünde für den Zuschauer die Möglichkeit zur Auseinander- setzung mit dem "gesellschaftlichen Anderen". Diese para-soziale In- teraktion entlaste den Rezipienten vom Handlungsdruck und biete somit eine erweiterte Möglichkeit zur Selbstkonfrontation. Der Zu- schauer ziehe somit einen dreifachen Gewinn aus der Medienrezep- tion:
1) Er lernt soziale Spielregeln (patterns of conduct)
2) Er kann neue Handlungsmöglichkeiten entdecken (role possibilities)
3) Er kann stellvertretend mit dem Akteur an Handlungen teilhaben, die in seiner
Lebenswelt nicht möglich sind (compensatoric function) (Charlton/Neumann 1986, 21)
Die kindliche Medienrezeption sei im Verlauf der Persönlichkeitsent- wicklung von bestimmten Themen geleitet. In den verschiedenen Le- bensabschnitten habe das Kind Entwicklungsaufgaben zu leisten (z.B. Erwerb der Geschlechts- und Altersrolle), die handlungsmotivie- rend für die Medienrezeption seien. Das Kind suche in den Medien- inhalten oder in der Rezeptionssituation nach Szenen, die das kindli- che Thema symbolisch repräsentieren. In dieser Auseinanderset- zung mit dem Thema eröffne sich die Möglichkeit zu dessen Bewälti- gung. Kinder nutzten Medien somit aktiv zur Lebensbewältigung (Aufenanger 1995, 228 f.).
Ziel der strukturanalytischen Rezeptionsforschung sei es, "den Re- zeptionsprozeß aus den strukturellen Bedingungen der Situation heraus, in der sich der Rezipient befindet, rational zu erklären" (Charlton/Neumann 1986, 12). Die Autoren stellen fest, daß die kommunikative Kompetenz sowie die soziale Situation und die dar- aus resultierende Bedürfnislage von Kindern die entscheidenden Gesichtspunkte seien, unter denen der Rezeptionsprozeß von Kin-dern betrachtet werden müsse (Charlton/Neumann-Braun 1992, 80). Entgegen populärer kulturpessimistischer Haltungen, wie sie etwa von Neil Postman u.a. vertreten werden, sehen Charlton und Neumann-Braun im kindlichen Medienkonsum eher eine Chance zur Entwicklung der Persönlichkeit.
7. Kindliche Rezeption von Zeichentrickfilmen
Die strukturanalytische Rezeptionsforschung bietet aufgrund ihres vielschichtigen Untersuchungsansatzes eine Grundlage für den Zu- gang zur kindlichen Rezeptionsweise von Medienangeboten. Wie Kinder mediale Gewaltdarstellungen (und insbesondere Gewalt in Zeichentrickfilmen) auffassen und verarbeiten, ist auf der Basis die- ses theoretischen Ansatzes bislang leider kaum untersucht worden.
Allerdings existieren einige Studien, die sich aus der Perspektive der strukturanalytischen Rezeptionsforschung interpretieren lassen. Ei- nerseits liegen Erkenntnisse zu kindlichen Präferenzen bei Zeichen- trickserien vor (Schorb u.a. 1992), anderseits erklärt Rogge (1993) den Fernseh- und Trickfilmkonsum auf dem Hintergrund der Lebens- bewältigung und Persönlichkeitsentwicklung von Kindern.
7.1 Welche Zeichentrickfilme präferieren Kinder?
Bernd Schorb u.a. führen 1991 eine Befragung von 1032 Kindern im Alter zwischen 4 und 14 Jahren zu deren Vorlieben für (und Abnei- gungen gegen) bestimmte Zeichentrickserien durch. Je nach Alter und Geschlecht der Kinder ermitteln sie unterschiedliche Präferen- zen, der Wohnort oder die Familienverhältnisse erbringen kaum sig- nifikante Unterschiede. Lediglich das intellektuelle Anregungsmilieu der Eltern und die Schulbildung (bei den älteren Kindern) führe manchmal zu unterschiedlichen Einschätzungen. Trotz der alters-und geschlechtsspezifischen Unterschiede in den Antworten der Kin- der können Schorb u.a. Angaben über generelle Tendenzen zur Be- liebtheit bestimmter Zeichentrick-Gattungen machen. So würden Se- rien des Typs "gerechte Kämpfe" (= gewalttätige Auseinanderset-zung mit dem Bösen; Weltraumschlachten etc.) von den Kindern deutlich abgelehnt, lediglich ein Teil der jüngeren, männlichen Kinder zögen diesen Typus vor; mit zunehmendem Alter der Jungen sinke jedoch dessen Beliebtheit. Bei Mädchen stellten die Forscher eine strikte Ablehnung der "gerechten Kämpfe" fest, sie favorisierten eher Serien, in denen soziales Verhalten thematisiert wird. Die Ablehnung der Gewaltserien könne zum Teil auf den Einfluß des Elternhauses zurückzuführen sein, da Kinder aus einem höheren intellektuellen Anregungsmilieu die Gewaltdarstellungen stärker ablehnten.
Beliebt hingegen seien Serien, die den "bewegten Alltag" (= das Zu- sammenleben in einer Gemeinschaft mit all seinen Tücken und Freuden, z.B. "Die Simpsons") behandeln. Hinsichtlich der Zeichen- trickfiguren seien diejenigen am beliebtesten, die die größte Nähe zu den Kindern selbst haben. Schorb u.a. bezeichnen diese Figuren als "[...] liebenswerte Chaoten, die in ihrer sozialen Umgebung für Unru- he sorgen, Streiche aushecken und auch mal auf die Nase fallen, aber nie hinterlistig sind, sondern ihre Umgebung lieben und von die- ser geliebt werden" (Schorb u.a. 1992, 79). "Überlegene Retter" hin- gegen seien bei den Kindern äußerst unbeliebt, die gewaltvollen Herrschertypen würden von über der Hälfte der Kinder abgelehnt. Insgesamt gäben Kinder solchen Zeichentrickserien den Vorzug, "[...] die sich im weitesten Sinne mit den Fragen ihres Alltags auseinan- dersetzen" (ebenda, 78). Die deutliche Abhängigkeit der Vorlieben und Abneigungen vom Alter und Geschlecht der Kinder sei ein Hin- weis darauf, daß Kinder sich diejenigen Zeichentrickserien heraus- picken, die Themen behandeln, die sie aufgrund ihres Alters und Ge- schlechts gerade beschäftigen (Schorb 1992, 135).
Diese Feststellung deckt sich mit den Annahmen von Charlton/Neu- mann, die bei der kindlichen Medienrezeption von einer themati- schen Voreingenommenheit ausgehen. Für Kinder haben Weltraum- kämpfe wohl kaum eine Relevanz für die Bewältigung ihres alltägli- chen Lebens. Die dargestellte Gewalt steht in keinem Zusammen- hang mit dem kindlichen Gewaltverständnis, dessen Hintergrund e- her im Lebensumfeld, den Alltagserfahrungen und den hier erworbe- nen Orientierungen zu sehen ist (vgl. Schaar 1992, 141).
7.2 Zur kindlichen Wahrnehmung und Verarbeitung von Gewalt in Zeichentrickfilmen
Kinder sehen mediale Gewaltdarstellungen weitaus differenzierter, als allgemein vermutet wird (Rogge 1993, 127). Diese Diskrepanz zwischen "objektiv" meßbarer und wahrgenommener Gewalt wurde bereits in Abschnitt 5.2 geschildert. Nach Rogge ist Gewalt für Kinder dann unproblematisch, wenn sie aus Sicht der Kinder realitätsfern dargestellt wird. Würden die Folgen der Gewalt ausgespart oder ver- harmlost, keine Opfer und kein Leiden gezeigt, so tangierten diese Darstellungen die Kinder nicht besonders. Dies hinge mit dem Ge- waltverständnis der Kinder zusammen, die Gewalt - bedingt durch ih- re realen Erfahrungen - vor allem an der Opferperspektive festmach- ten (Schaar 1992, 141). Würden hingegen Gewaltdarstellungen mit drastischen, sichtbaren Folgen gezeigt oder seien die Gewalthand- lungen nahe an kindlichen Erfahrungen, so führe dies zu emotionaler Betroffenheit, zu Verunsicherung und Angstreaktionen. Zeichentrickfilme sind also hinsichtlich der dargestellten Gewalt diffe- renziert zu betrachten. Die häufig kritisierten Serien des Typs "ge- rechte Kämpfe" (siehe Abschnitt 7.1) können aufgrund ihres hohen Irrealitätsgrades und der Irrelevanz für kindliche Themen i. d. R. als wenig problematisch angesehen werden. Oftmals für harmlos erach- tete Serien (z.B. "Heidi") hingegen rücken unter dieser Sichtweise in ein anderes Licht. Nach Rogge werden in dieser Zeichentrickserie kindliche Grund- und Konfliktsituationen gezeigt, wie etwa der Verlust geliebter Personen, Trennungserlebnisse, die Unterdrückung von Gefühlen oder die Auseinandersetzung mit 'bösen' Erwachsenen. Es würden hier für Kinder relevante Formen psychischer Gewalt gezeigt, die bei Vorliegen bestimmter realer Umweltbedingungen (Störung der Eltern-Kind-Beziehung, Gefühlsdefizite) angstauslösend sein könnten (Rogge 1993, 130). Das Wiederfinden des problematischen Alltags im Medium könne dann zu zwanghaften Zuwendungsformen führen, wenn sich das Kind durch den Medienkonsum immer wieder in eine unangenehme Situation bringe, um dabei unbewußt die nega- tiven Erfahrungen des problematischen Alltags zu wiederholen.
"Die Kinder delegieren ihre Konflikte bzw. die Konfliktsituation an die Medien, kön- nen damit aber die skizzierten Konflikte nicht befriedigend lösen (ebenda, 42).
Am Beispiel der Zeichentrickserie "Heidi" zeige sich, so Rogge, wie problematisch es sei, die Wahrnehmung von Erwachsenen mit der des Kindes gleichzusetzen und als Bewertungsmaßstab einzurich- ten.
So sei das kindliche Spiel bzw. die Nachinszenierung im Anschluß einer Medienrezeption nicht als bloße Imitation zu verstehen, son- dern als "der berechtigte Wunsch und das Verlangen der Kinder, Un- Begriffenes, Abstraktes [...] in ihre eigene Realität umzusetzen" (e- benda, 80). Die dargestellte Brutalität und Gemeinheit erlaube den Kindern Einblicke in Ängste, Wut und Gewaltphantasien, die jedoch wegen des erwarteten guten Endes erträglich seien. Im Nachspielen der violenten Szenen versuche das Kind, sich der realen Angst zu bemächtigen, sie für sich begreifbar zu machen. Nach Rogge stehe hinter der Faszination, die mediale Gewalt auf Kinder ausübt, der Wunsch nach Loslösung und Autonomie, das Streben nach Identität. Indem Eltern bzw. Pädagogen auf diese Bedürfnisse mit Ablehnung oder Verständnislosigkeit reagierten, erlebten Kinder das Streben nach Autonomie als angstbesetzt. Die Unterdrückung der aggressi- ven Persönlichkeitsanteile der Kinder führe zu einer Bindung der Gewalt an die Medien. Dem könne man nur begegnen, "[...] wenn man das Recht der Heranwachsenden auf 'vorsoziale Aggression' anerkennt und verstehen lernt, daß die 'Engelhaftigkeit' der Kinder eine Projektion von Erwachsenen darstellt, um eigenen Aggressio- nen zu begegnen" (ebenda, 134).
8. Resümee
Die zwingende Annahme einer schädigenden Wirkung medialer Ge- waltdarstellungen gerade bei Kindern und Jugendlichen im Sinne des Erwerbs aggressiven Verhaltens wird sowohl in der Öffentlichkeit, in der Politik als auch von bestimmten Autoren (Glogauer u.a.) noch immer vertreten. Über die Gründe für den Fortbestand der monokau- salen Ursache-Wirkungs-These läßt sich nur spekulieren. Vielleicht ist die Popularität dieses Modells durch seine Gradlinigkeit und die extreme Komplexitätsreduktion zu erklären. Andererseits eröffnet es die Möglichkeit zur Medienschelte und lenkt dabei von alternativen Erklärungsansätzen zur Entstehung violenten Verhaltens ab. Zudem liefern sogar die Medien selbst öffentlichkeitswirksame Berichte über vereinzelte Nachahmungstaten.
Die vorliegende Arbeit hat versucht, am Beispiel von Gewaltdarstel- lungen in Zeichentrickfilmen eine differenzierte Sichtweise zu vermit- teln. Ausgehend von der Tatsache, daß Medienrezeption ein aktiver und interpretierender Prozeß menschlichen Handelns darstellt, wur- den die spezifischen Voraussetzungen erläutert, unter denen Kinder Gewaltdarstellungen wahrnehmen. Es wurde deutlich, daß Kinder bestimmte Konflikte und Probleme (=Themen) ihres Alltags in den Medieninhalten suchen, um aus der Konfrontation mit der symboli- schen Repräsentation des Themas Hilfe zu dessen Bewältigung ab- zuleiten. Unter diesem Blickwinkel wäre die verstärkte Nutzung vio- lenter Programme als Folge eines aggressiven sozialen Umfelds
(Familie, soziales Milieu etc.) anzusehen. Und eben primär aus diesem sozialen Umfeld, der Subkultur erlernen Kinder aggressive Verhaltensmuster.
Allerdings kann nicht ausgeschlossen werden, daß sich bei Kindern in problematischen Lebensumständen zwanghafte Zugangsformen zu violenten Medieninhalten herausbilden und im Sinne eines sich selbst verstärkenden Prozesses die Etablierung aggressiver Verhal- tensmuster unterstützen. Die Ursache ist in solchen Fällen jedoch nicht in den Medien zu sehen, sondern im Fehlen kompensatorischer Einflüsse durch die Eltern oder andere Bezugspersonen.
9. Literatur
Aufenanger, Stefan: Wie Kinder und Jugendliche Gewalt im Fernsehen verstehen. In: Friedrichsen, Mike / Vowe, Gerhard (Hrsg.): Gewaltdarstellungen in den Medien. Opladen 1995
Becker, Beate u.a.: Die neuen Zeichentrickserien: Immer wieder Action. In: Paus-Haase, Ingrid (Hrsg.): Neue Helden für die Kleinen. Das (un)heimliche Programm des Fernsehens. Münster 1991
Charlton, Michael / Neumann, Klaus: Medienkonsum und Lebensbewältigung in der Familie. München-Weinheim 1986
Charlton, Michael / Neumann-Braun, Klaus: Medienkindheit - Medienjugend. München 1992
Groebel, Jo / Gleich, Uli: Gewaltprofil des deutschen Fernsehprogramms. Opladen 1993
Krüger, Udo Michael: Gewalt in von Kindern genutzten Fernsehsendungen. In: Media Perspektiven 3/96, S. 144-133
Kunczik, Michael: Wirkungen von Gewaltdarstellungen in Zeichentrickfilmen. In: Media Perspektiven 5/83, S. 338-342
Kunczik, Michael: Gewalt und Medien. Köln/Weimar/Wien 1994 Rogge, Jan-Uwe: Kinder können fernsehen. Reinbek 1993
Schaar, Erwin: Wie bewältigen Kinder Fernsehinhalte? In: Medien + Erziehung 3/92, S. 139-145
Schneider, Bernd: Cowabunga. Zur Darstellung von Konflikten und ihren Lösungen in Zeichentrickserien. Münster/New York 1995
Schorb, Bernd / Petersen, Dörte / Swoboda, Wolfgang H.: Wenig Lust auf starke Kämpfer. München 1992
Schorb, Bernd: Kinder, Kämpfe und Cartoons. In: Medien + Erziehung 3/92, S. 131-138
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1 Al Eugster war in den 30er Jahren Zeichner für die Fleischer-Studios.
2 Metro-Goldwyn-Mayer
3 Einerseits wurden Zeichentrickfilme in der Tradition der "Tex Avery school of violence" gezeigt; andererseits gelangten erstmals Superhelden-Cartoons japanischer Produktion auf den Bildschirm. Kritisiert wurden nicht nur die violenten Inhalte, sondern auch rassistische und sexistische Darstellungen.
4 Die Kontrollorgane "wachen" noch heute über die Produktion der Cartoons.
5 Beispiele hiefür sind: "Transformers" (1984), "He-Man" (1985), "M.A.S.K." (1985), "Saber Rider" (1987)
6 "Als konservativ sollte danach eine Darstellung von Konflikten einerseits gelten, wenn sie die strukturellen Bedingungen der Entstehung von Konflikten nicht expliziert, und andererseits, wenn Lösungen von Konflikten in einer Weise ausfallen, daß der gesellschaftliche Status quo, insbesondere die bestehenden Machtverhältnisse, davon unberührt bleiben." (Schneider 1995, 189)
7 Die Übersetzung der Begriffe "Uses" und "Gratification" in die deutsche Sprache hat sich wegen der auftretenden Polysemantik als schwierig erwiesen, weshalb die englischen Begriffe auch in der deutschsprachigen Literatur weitgehend beibehal- ten worden sind.
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- Georg Kipping (Autor:in), 1998, Gewalt im Zeichentrickfilm - Zur kindlichen Rezeption massenmedialer Gewaltdarstellungen am Beispiel von Zeichentrickfilmen, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/97003