Strittmatter, Erwin - Der Wundertäter - Zur Erzählweise und Figurengestaltung


Referat / Aufsatz (Schule), 1994

17 Seiten, Note: 1


Leseprobe


Gliederung

1. Strittmatter und sein Roman im Blickpunkt von Ost und West

2. Die Gestaltung des Erzählanfangs

3. Zur Zeichnung ausgewählter Figuren
3.1. Der die Welt verschönernde Sonderling Stanislaus
3.2. Marlen, die Schmetterlingskönigin
3.3. Der Dichterfreund Pöschel

4. Stilistische Besonderheiten im ersten Teil des "Wundertäters"

5. Literaturverzeichnis

1. Strittmatter und sein Roman im Blickpunkt von Ost und West

Entgegen den Erwartungen und Forderungen der Kulturpolitiker der DDR wagte es Erwin Strittmatter bereits in den 50er Jahren, von den Kriterien einer dem sozialistischen Realismus verpflichteten Literatur abzuweichen und keinen vordergründig klassenbewußten Arbeiter zur Hauptgestalt seines Romans zu wählen, sondern einen gewitzten Helden, der sowohl Züge des klassischen Schelmen als auch des romantischen Taugenichts trägt.1 Strittmatter äußerte 1973 seinen Widerwillen gegen jederlei Schematismus in der Literatur und gestaltete seine Figuren Zeit seines Lebens "nach den inneren Gesetzen der Individualität".2 Demzufolge stoßen seinen Figuren nicht alle in der erzählten Zeit denkbaren historischen Geschehnisse zu, sondern "jeder erlebt ... das, was sein Charakter ihm vorschreibt, oder anders ausgedrückt: Es stößt den Helden nur etwas zu, was ihrem Charakter entspricht."3 Während ich als "heutiger Leser" von Strittmatters Sprachstil und Weisheit begeistert bin und mich hervorragend mit der Hauptfigur, Stanislaus, identifizieren kann und das Buch einen so tiefen Eindruck in mir hinterlassen hat, daß ich mich auch Monate nach der Lektüre an viele Szenen genau erinnern kann, stießen sich zeitgenössische Kritiker daran, daß Stanislaus nur die Väterlichkeit seiner sozialistischen Mitmenschen spürt, jedoch ihren Winken nicht folgt4, daß er in seiner sich in ihm aufbauenden Romantik bis zum Ende des Krieges apolitisch bleibt5 und von den Faschisten bedrohten Menschen nur emotional motiviert Hilfe leistet. Diese scheinbar kritikwürdige Haltung hat Stanislaus mit seinem Schöpfer gemeinsam, der am 7.August 1992 in einem Interview mit der "Wochenpost" bekannte: "In Wirklichkeit bin ich apolitisch, ein poetischer Mensch" und "Ich bin der, der ich bin, und ich entschuldige mich nirgendwo für meine Existenz". Deshalb wurde Strittmatter nicht nur in der DDR mißtrauisch beäugt, sondern auch in der BRD, wo der "Fischer"-Verlag nach dem Bau des Antifaschistischen Schutzwalls (der Mauer) 25000 Exemplare des "Wundertäter" einstampfte, weil sich der Autor nicht ausdrücklich gegen den Mauerbau gewandt hatte. Wenn auch dieser und mit ihm weitere umstrittene Romane Strittmatters künftighin in der BRD erscheinen sollten, so erlangten sie doch noch keine solche Ausstrahlung wie in der DDR, in der Strittmatter zu den meistgelesenen Autoren zählte. Dennoch mußte selbst der renommierte "Bertelsmann"-Verlag nach der Wende den Bestsellerautor des Ostens schließlich zur Kenntnis nehmen und wußte ihn mit der "Laden"-Trilogie erfolgreich zu verkaufen. Aus dieser unterschiedlichen Aufnahme des Autoren, der einerseits 1982 vom Literaturzerfleischer Marcel Reich-Ranicki als "Heimatdichter"6 milde belächelt wurde, andererseits von Tausenden Lesern als ihr Autor, ihre Stimme, als "Meisterfaun" betrachtet wurde, erwächst die Frage nach den Gründen für diese unterschiedlichen Wertungen. Übereinstimmend äußerten sich Kritiker in Ost und West zur Schönheit und Originalität seines Stils, den ich deshalb auch zum Gegenstand meiner Semesterarbeit machen möchte.

2. Die Gestaltung des Erzählanfangs

Ein auktorialer Erzähler stürzt den Leser gleich zu Beginn des ersten Kapitels mitten ins Geschehen, als er ihm wie Gustav Büdner einen gewaltigen Schreck einjagt, der von der erhobenen Hand des Försters und dessen gebieterischem "Halt!" herrührt. Der Leser ist sogleich bis zum Rand mit Spannung erfüllt und erwartet nun unter Umständen einen Abenteuerroman, da Ort, Zeit und handelnde Figuren verdunkelt werden. Selbst der Förster wird nicht sofort als solcher erkennbar, sondern als "Herr der Wälder" eingeführt, dessen hagere Hand "zwischen den Baumzweigen wie eine gespenstische Frucht"1 pendelt. Dennoch wird die Situation in kürzester Form gut vorstellbar beschrieben, indem mehrere Aussagen originell und bildlich miteinander verknüpft werden: "Der Kuckucksruf wehte ungehört an seinem Ohr vorüber."2 Im nächsten Absatz klärt sich die Situation noch mehr, weil der Förster und der bis dahin namenlose Glasmacher Gustav Büdner vorgestellt und der Grund für dessen Furcht aufgehellt werden. Durch den Wechsel zur Innensicht Gustavs wird die Sympathie des Lesers auf den Glasmacher gerichtet. Das auf dem Strafzettel eingetragene Datum 12.Juli 1909 bestimmt für den Leser den Beginn der erzählten Zeit. Gleichzeitig erfährt er, daß dieser Förster, dessen Blicke unerbittlich das unerlaubt gesammelte Holz auf dem Handwagen "auseinanderzukratzen" schienen, den ihn charakterisierenden Namen Duckmann trägt, der ihn als strengen Diener des Grafen ausweist. Gustavs liebevolle gedankliche Verabschiedung vom Straftaler und seine besorgte Hinwendung zu den Folgen für seine schwangere Frau Lena heben dem Leser die prekäre Situation des Büdnerschen Haushalts ins Bewußtsein. Der Erzähler bezieht den Leser in die Entscheidungsfindung Gustavs ein, wenn er fragt: "Sollte Gustav Büdner den Taler rollen und das Holz des Trockenstammes, die letzte Fuhre Leseholz, liegen lassen, wo sie lag?"3 Auf diese Weise wird die humorvolle Schilderung der Revanche eingeleitet. Anschließend kommentiert der Erzähler die Verknüpfung Gustavs mit seinen Vorvätern und erzeugt dadurch die Vorstellung eines Tod und Verderben trotzenden Mannes. So bereitet er den Leser auf das Eintreffen der Hauptfigur, Stanislaus`,vor. Einen komischen Effekt erzeugt Strittmatter dadurch, wie er Gustav zornig die Verprassung seines "teuren, umständlich erworbenen Winterholzes"4 beobachten läßt, mit dessen Feuer Stanislaus`Ankunft auf diesem Erdenrund gewärmt wird. Der Erzählanfang klingt mit einer gleichfalls Komik beinhaltenden turbulenten Kampfszene zwischen der Hebamme und Gustav vor dem Zimmer der Entbundenen aus.

3. Zur Zeichnung ausgewählter Figuren

3.1. Der die Welt verschönernde Sonderling Stanislaus

Zum ersten Mal wird die werdende Hauptfigur erwähnt, als der zornige Gustav über den Hof stapft und eines seiner Kinder ihm zuruft: "Brauchst nicht zu sputen; er ist noch nicht da!", woraufhin er fragt: "Wer ist nicht da?" und zur Antwort erhält: "Der Neue."5 Der Neue ist der kleine Stranislaus, der bei Gustavs Ankunft im Haus schon neunpfündig und schön die Bühne des Lebens betreten hat. Doch bekommt ihn der Leser noch nicht zu Gesicht, da sich der Vater, aus dessen Sicht man das Geschehen beobachtet, erst einmal mit der drallen Hebamme prügeln muß.

Stanislaus` Status als Sonderling wird bereits beim Streit um seinen Vornamen festgelegt. Während die Mutter einen trendgerechten Namen wünscht: "Wir brauchen einen Günther. Alle Leute haben schon Günthers."1, beharrt Vater Gustav auf dem im Kalender verzeichneten "Stanislaus", der überdies der Name eines berühmten Glasfressers ist. Folglich erwartet der Vater von seinem siebenten Kind auch entsprechend sensationelle Aktionen. Diese deuten sich an, als der junge Stanislaus in der Schule einen Bibeltext wiedergeben soll und statt dessen seine eigene Version zum Besten gibt, so daß der Lehrer Gerber geneigt ist zu glauben, er habe einen Heiligen vor sich, und ihn deshalb nicht für seine mangelhafte Pflichterfüllung prügelt. Auf dem Weg ins Leben haben die Patinnen Stanislaus kaum mit dem so nötigen Geld ausgestattet, sondern mit Versprechen für Vergünstigungen beim Krämer, Gutsvogt und Bauern. Sehr viel lockerer sitzt ihnen das Geld allerdings, als sich Stanislaus nach und nach durch einige besondere Gaben hervortut, die ihm den Ruf eines Wundertäters einbringen und des Vaters Hoffnung nähren, daß von seinem Sohn noch größere Wunder zu erwarten wären, "wenn er erst Bierseidel frißt"2. Zunächst verblüfft er Eltern und Nachbarn mit Vorhersagen solcher Ereignisse, die sich dann erfüllen: So prophezeit er Elsbeths Schwangerschaft, klärt den Mord am Förster Duckmann auf, benennt den Vater eines im Dorfbach gefundenen Neugeborenen und hilft der Gräfin, der Spur ihres Schürzen jagenden Gatten zu folgen. Mutter Lena bangt, ob Stanislaus "hintergesichtig" wäre, die Dorfbewohner diskutieren seine "Hellsichtigkeit", während Lehrer Klügler nach einer wissenschaftlichen Erklärung für das Wunder sucht und herausfindet, "daß eine gute Beobachtungsgabe, gepaart mit enormer Phantasie ... eine Art von Hellsichtigkeit an den Tag fördern kann."3 Dank dieser Phantasie und seines Interesses an den Vorgängen in Wald und Wiese sieht und hört Stanislaus mehr als andere und steigt in den Augen der Dorfbewohner in den Rang eines Wundertäters auf. Diese Ansicht kräftigt sich, als es Stanislaus gelingt, Stare zu zähmen, Hühner in den Scheintod zu versetzen und einem alten Weiblein die Kreuz-Pein zu vertreiben. Als aber der stolze Vater Gustav den Bogen überspannt, indem er die große Stube der Familie in eine Wundertäterei verwandelt, greift Gendarm Hornknopf ein und sorgt für Stanislaus` Aussendung in die Stadt, damit er dort das Bäckerhandwerk erlernt. Der Versuch, Stanislaus`Wundertätigkeit im Mehlstaub zu ersticken, scheitert an einem Buch über Hypnose, welches ihm auf dem Bäckerboden begegnet, wo er sich vor lauter Einsamkeit eine junge Maus zähmen will. Überwältigt von seinem Entdeckungsdrang, erprobt er seine gerade aus dem heißhungrig verschlungenen Hypnoseheftchen erworbenen Kenntnisse am Hausmädchen Sophie und der Meisterin. Während sein Zentraler Blick aus Sophie die traurige Geschichte einer Abtreibung hervorlockt, löst er unabsichtlich in der Meisterin heftiges Begehren aus. Solchermaßen aus dem Bäckertage-Allerlei aufgeschreckt, entläßt der Meister seinen Lehrling. Für Stanislaus beginnt eine abenteuerliche Reise von Bäckermeister zu Bäckermeister, bei der er unterschiedlichen Konfessionen und Überzeugungen begegnet, ohne sie zu verstehen oder anzunehmen. Stanislaus erhält sich den naiven Blick seiner blanken Kinderaugen und kleidet seine erste Liebe in blumige Vorstellungen ein. Diese Sichtweise auf die Welt wirkt angenehm und verbindend, besonders für mich als Jugendlicher, der danach trachtet, sich Teile aus der Kindheit so lange wie möglich zu erhalten. "Nur das, was Stanislaus Büdner unmittelbar erlebt und erfährt, erlebt und erfährt auch der Leser (wenn man von kurzen Lebensläufen einiger Randfiguren absieht), und so sieht der Leser vordergründig die Welt, wie sie sich Stanislaus darbietet: unscharf und voller Wunder, solange Stanislaus Kind ist; sehr langsam sich klärend, als er heranreift; voller Poesie und beglückendem Gefühl, wenn er verliebt ist; grau und voller Trauer, wenn Enttäuschung ihn anfällt."4

Trotz der Enttäuschungen durch die Pfarrerstochter Marlen, den Bäckergesellen Guido und die selbstsüchtige Ziegenhüterin und Dirne Mia übersteigen Stanislaus` Wünsche und Träume die Wahrnehmung der Realität. Der häßlichen Umgebung des Lehrlings-"Sonderstalls" beim Bäckermeister Kluntsch, von dessen Decke die Schaben herunterpurzeln, entflieht Stanislaus, indem er Gedichte schreibt, die wie Musik aus seinem Innerem steigen, ihn mit seinen Kindheitsträumen von der Schmetterlingskönigin verbinden und ihn mit einem bisher unbekannten Vergnügen erfüllen. Stanislaus ist ungebildet, wird aber in seiner kunterbunten Geschmacklosigkeit nicht kritisch betrachtet, sondern liebevoll von Episode zu Episode geführt. In seiner Kindlichkeit vertraut Stanislaus mehr auf seine "unverbrauchte Liebeskraft"1 als auf realistische Betrachtungen ihm wohlwollender Menschen. "Mia hatte ihn beschenkt; aber dann hatte sie auch andere mit ihrem Körper freigehalten und mit flinken Füßen nach seiner Liebe gestoßen. Er beschloß, sie von ihren Ausschweifungen zu heilen. Er wollte sie suchen. Er traute seiner unverbrauchten Liebeskraft viel zu. Eine Zeitlang nahm er wieder Zuflucht zu seinen geheimen Kräften. Er dachte und dachte an Mia, bis er sie in einer Stadt vor einem Schaufenster stehn oder bäuchlings auf einem Wiesenrain an seinem Wanderwege liegen sah. Wenn er vor einer Fremden stand, die er angerufen hatte, entschuldigte er sich plump und wurde rot bis in die Ohrmuscheln hinein. Er konnte nicht ewig auf der Landstraße bleiben. Er benötigte wenigstens eine Kammer. Er brauchte den Zuspruch von Büchern und, wenn es sein konnte, Wärme und Menschenliebe."2 Die glaubt er zu finden, als er das "Rehmädchen" Lilian und deren Vater Pöschel kennenlernt. Vorher hatte er ein Fernstudium begonnen, infolgedessen er eine Zeitlang seinen poetischen Blick verliert und nicht mehr Milch trinkt, sondern "Wasser, Eiweiß, Protein und Milchfett"3. Doch sein Sinn für Poesie rettet sich auch über die Nüchternheit der Wissenschaft hinweg und stärkt sich wieder, als er erfährt, daß Vater Pöschel auch ein Dichter ist. Selbst vor dem rohen und lauten Treiben der SA, für welche er gewonnen werden soll, schützt er ihn, so daß er auch jetzt noch von der braunen Flut verschont bleibt. Obwohl sich Lilian profaschistisch betätigt und uniformierte Männer Stanislaus vorzieht, so daß er ständig in Eifersucht und Resignation lebt, trägt er nur einen kleinen Haß gegen die Nazis in sich und verhält sich lange Zeit still. Zum dritten Mal beeinflußt eine Frau in entscheidendem Maße Stanislaus`Entwicklung: Um die Trennung von Marlen zu überwinden, begann Stanislaus zu dichten; auf die Verletzungen durch Mia antwortete Stanislaus, indem er sich auf Wanderschaft begab; den Ausweg aus dem Problem mit Lilian sieht er darin, sich freiwillig zur Hitlerwehrmacht zu melden. Wie der Titel des zweiten Teils dieses ersten Wundertäterbandes verkündet, dauert die Ankunft in der Realität manchmal etwas länger. Strittmatter interessierten nach eigenen Aussagen gegenüber der NDL 1965 vor allem solche Figuren, die nicht fix und fertig ins Romangeschehen eintreten, sondern solche, die sich allmählich entwickeln.4 "Stanislaus wird bei der militärischen Ausbildung unmenschlich geschunden: er läßt es sich gefallen; der Krieg bricht aus: Stanislaus marschiert ins Feld; ein Feldwebel hat seiner Braut Lilian Pöschel ein Kind gemacht: Stanislaus heiratet sie auf Bitte ihres Vaters; Ali, einer seiner sympathischsten Kameraden, wird zu Unrecht füsiliert: Stanislaus schreit dieses Unrecht und seinen Zorn nicht in die Welt, er fällt in ein Nervenfieber; sein Kamerad Rolling, ein Kommunist, bereitet die Flucht zur Roten Armee vor und bietet Stanislaus an, ihn zu begleiten: Stanislaus bleibt."5 erst die Wiederholung des Leidens an Unmenschlichkeit und Ungerechtigkeit führt zum Aufgeben des Stillhaltens: Stanislaus weigert sich in einer Auseinandersetzung mit seinem Feldwebel Zauderer, weiterhin zu den Mördern zu gehören, und flieht mit dem Fabrikantensohn und vermeintlichen Dichter Weißblatt zu griechischen Patrioten.

3.2. Marlen, die Schmetterlingskönigin

Marlens erstes episodisches Auftreten im 17. Kapitel gleicht ihrem Entschwinden im 25. Kapitel: Sie nimmt keine Notiz von Stanislaus. Dem im Garten des frömmelnden Bäckermeisters grabenden Stanislaus fällt das Mädchen wegen ihrer vornehmen Blässe und ihres schwarzen Samtbandes auf, Attribute, die Stanislaus an Buchillustrationen erinnern und den Wunsch in ihm wecken, ihr nahe zu sein. Der Leser schaut ausschließlich mit den Augen Stanislaus`auf diese Figur. Das bedeutet, daß ein jugendlicher Leser unkritisch Stanislaus`Schwärmerei für die blasse Schöne zu teilen beginnt, während erfahrene Leser wegen der übertrieben romantischen Zeichnung Marlens zu einer distanzierteren Haltung neigen werden. Besonders beeindruckt Stanislaus die "samtne Brücke über den weißen Schneegraben des Haarscheitels"1 über dem zarten Gesicht mit den "taubenblauen Augen". Von Mal zu Mal, wenn Stanislaus Marlens ansichtig wird, steigert sich sein Wunsch, von ihr bemerkt zu werden, so daß er alle ihm zur Verfügung stehenden Gaben einsetzt. Doch nicht die "Ströme seiner geheimen Kräfte" bringen den erwarteten Erfolg, sondern die eher komische Situation, daß Stanislaus stocksteif "wie ein Pfahl im Garten"2 steht. Von Anfang an ist für die Beziehung Stanislaus`zu Marlen charakteristisch, daß ihn jede ihrer Bewegungen, Blicke, Zuwendungen überschäumen läßt. "Stanislaus sah mitten hinein in die taubenblauen Augen. Er war verwirrt, betrunken. Er schien zu schweben und zu unmöglichen Dingen fähig zu sein."3 Die zum "samtenen Engel", später sogar zu seiner "Schmetterlingskönigin" erhöhte Marlen ist, nüchtern betrachtet, eine etwas spießige, wohlbehütete Pfarrerstochter, die mit der rauhen Wirklichkeit, wie sie Stanislaus als Bäckerlehrling erlebt, nicht in Berührung kommt. Daß zwischen den so unterschiedlichen Lebenswelten dennoch eine Brücke geschlagen wird, ist ausschließlich Stanislaus' Verdienst. Er reißt sich darum, die Brötchen allmorgendlich ins Pfarrhaus zu tragen, um Marlen zu begegnen. Jedes neu wahrgenommene Detail ihres schönen Äußeren entfacht in Stanislaus schwärmerisches Feuer: Marlens weiße, kleine Hände erscheinen ihm als "Engelshände"4, "ein Duft von Wildrosen"5 umgibt die "bleiche Heilige", und ihr Mund leuchtet für Stanislaus "wie eine Mohnblume am Feldrain"6. Neben Blicken, die "wie honigbeladene Bienen so schwer"7 zwischen ihnen hin und her "summen", tauschen Marlen und Stanislaus fromme Bücher. Marlen zuliebe erobert sich Stanislaus die Welt der religiösen Literatur, kleidet sich farbenprächtig und beginnt schließlich, für seine Schmetterlingskönigin zu dichten. Die Bezeichnung "Schmetterlingskönigin" zeigt, welchen Rang Marlen in Stanislaus`Leben einnimmt, denn die Schmetterlinge waren es, die ihm in Waldwiesen die liebsten Gefährten, die Hörer und Übermittler seiner Botschaften und Träume waren. Wie deutlich wird, ist es unmöglich, über die Figur Marlen zu schreiben, ohne gleichzeitig auf Stanislaus einzugehen, denn erst die Beziehung Stanislaus`zu ihr verleiht ihr Bedeutung, hebt sie aus der Fülle der Episodenfiguren heraus. Eine andere Sicht auf die "holde Geliebte", die für andere Bäckerlehrlinge nur eine "fromme Ziege" ist, wird selten angeboten, so daß der Leser gutgläubig wie Stanislaus hofft und wartet, daß sich der Zorn des um die Unschuld seiner Tochter bangenden Pfarrers legt und Marlen wieder Stanislaus`Besuche empfangen kann. Außer einem einzigen vorsichtigen Liebesbrief empfängt Stanislaus aber nur Schweigen und gerät schließlich über dem vom Pfarrer ausgesuchten standesgemäßen Bräutigam vollends in Vergessenheit.

Bei der letzten Begegnung im Stadtpark empfindet die fügsame Marlen an der Seite des für sie Auserwählten, jenes "Sägebügel(s) von einem werdenden Pastor"1, nur noch Scham gegenüber dem aufdringlichen Verfolger Stanislaus. Dieser fühlt sich so verspottet und verletzt, daß er verzweifelt auf den Studenten einschlägt und mit stolzer Geste von Marlen Abschied nimmt, ihr sein Gedichtpaket in die zitternden Hände legend. Doch Marlen ist wohl kaum in der Lage, den Wert der Büdnerschen Dichtkunst zu schätzen, so daß auch diese letzte Hoffnung Stanislaus` zerstiebt. Stanislaus` Abschied von Marlen ist auch der Abschied des Lesers von ihr. Die Konzentration auf Stanislaus, mithin die Einnahme seiner personalen Perspektive, erlaubt es nicht, einen Blick in das Innere Marlens zu werfen. Sie bleibt dem Leser als das im Gedächtnis, was sie Stanislaus war: die erste hell auflodernde Liebe, der erste Schmetterling auf der zur Liebe erblühten Blume, der heruntergescheucht2 wurde vom "Agenten Gottes"3.

3.3. Der Dichterfreund Pöschel

Bei Stanislaus` und des Lesers erster Begegnung mit Rehmädchen-Vater Pöschel präsentiert dieser sich in einer braunen Strickweste mit grüner Kante, blauen Kinderaugen und einem Klecks Bart unter der Nase, und seine schüchtern die Zeitung faltenden Hände behandeln diese, "als wäre sie aus Seidenpapier"4. Stanislaus fühlt sich sofort heimisch und hat das Gefühl, "endlich ein Zuhause gefunden zu haben"5. Auch Vater Pöschel ist von Stanislaus begeistert und weiht den sich auf dem Familiensofa vor kommunistischen Büchern fürchtenden Gast in sein Lebenswerk ein - 223 allerhöchst kitschige Gedichte -, ein dickes Rotsiegel von der Gedichtmappenschale entfernend, das ein Zettelchen mit der Inschrift "Erst nach meinem Ableben zu öffnen!"6 trägt. Nicht einmal Pöschels Frau weiß um seine Dichterei, aus gutem Grunde: "Am besten, Männer sind unter sich, wenn sie von Dichtung reden. Frauen haben in der Regel keine Ader für diese"7, sagt er. Nach einem Glas Erdbeerwein Lilians Freund umarmend, ruft er sentimental aus: "Freund, mein Freund"8, und es ist fragwürdig, ob Pöschels Engagement für eine Hochzeit Lilians und Stanislaus`mehr aus Tochterliebe als aus Zuneigung zu Stanislaus resultiert. In Stanislaus sieht er nicht nur einen Freund, sondern seinen Dichternachfolger, seinen Sohn, überhaupt alles, was einem leicht spießigen, nur mit einer Tochter beschenkten Mann noch fehlt. Jene Tochter entfremdet sich ihm auch noch, als sie Stanislaus`Beine als "vorschriftsmäßige Judenbeine"9 klassifiziert, weshalb der insgeheim kommunistische Pöschel seiner nazistischen Tochter eine Ohrfeige erteilt und dafür die Beschimpfung "Roter Sozi!" erntet. Trotzdem klammert er sich an der Beziehung Stanislaus-Lilian fest und versäumt nicht, auf ihn einzudringen, sie doch zu heiraten. Ihren Höhepunkt erreicht Pöschels Euphorie, als Lilian schwanger wird. Er sendet Stanislaus vor Freude über seine kommende Großvaterschaft ein neues Gedicht in die wehrmächtliche Quälerei, ohne zu wissen, daß das Kind nicht Stanislaus`Verdienst ist.

Obwohl ihn Stanislaus über den eigentlichen Vater aufklärt, wünscht Pöschel eine Heirat, zu der sich Stanislaus angesichts der grauenvollen Ereignisse in Polen entschließt, "um eine Heimat und eine Herdflamme in dieser Welt zu haben, in der Menschen wie Wölfe umhergingen"1. Dieser nur der Angst entsprungene Entschluß wird fern von der Braut und ohne Beisein jeglicher Eltern in einer Kompanieschreibstube in ein dürftiges Hochzeitszeremoniell umgewandelt, dessen Kulisse zuvor die Verurteilung Ali Johannsohns umrahmte. Als Stanislaus im Pöschelschen Hause seine Hochzeit nachfeiert, begegnet der Leser dem guten Pöschel wieder, der Stanislaus hindert, "sein" Kind zu betrachten, indem er fragt: "Dichtest du noch?"2. Dies zeigt, was für Pöschel das Wichtigste ist: nicht seine Frau, nicht seine Tochter, nicht sein Enkel, sondern seine Dichtung. Wie in diesem Beispiel wird Pöschel ausschließlich durch eigene Handlungen und Worte charakterisiert, während sich andere Figuren und der ihn liebevoll zeichnende Erzähler jeglicher Wertungen enthalten. So wie Stanislaus seine Frau und seine Schwiegereltern aus den Augen verliert, erfährt auch der Leser im ersten Teil des "Wundertäters" nichts mehr vom glücklichen Großvater Pöschel.

4. Stilistische Besonderheiten im Ersten Teil des "Wundertäters"

Bei Strittmatter "herbstelt"3 es, ticken die Holzwürmer im Gebälk4, "wallen die Düfte von Gebackenem auf und ab"5, "knispelt" es in den Lindenkronen6, spielen die Bienen "in den Blumen am Straßenrand ihre große Orgel"7, "klippert" ein Fuhrwerk über die Straße8 und "tropfen" die Tage "wie Sirup in das große Faß Vergangenheit"9. Diese Beispiele zeigen, welches Gefühl Strittmatter vor allem für Verben hat. Er versagt sich selbst die Benutzung des Wortes "machen" und setzt statt dessen "anfertigen" ein, was nicht selten zu komischen Effekten führt: Gedanken anfertigen, Unrecht anfertigen. Mit seiner Wortwahl verleiht der Autor dem Erzählten Farbe und Klang. Während diese Wendungen nicht allerorts auf Bewunderung stoßen (Reich-Ranicki stellt z.B. ihre Poesie in Frage10 ), finden satirische Akzente mehr Beifall. Ironisch merkt der Erzähler an, daß "der Besorger Marschner ... polnische Bauern von ihrem Überfluß an landwirtschaftlichen Naturalien" befreite11. Eine besondere Kostprobe satirischen Erzählens liefert die Beschreibung des Heimatfestes in Winkelstadt: Lilian "marschierte beim Bund deutscher Mädchen. Echt deutsche Mädchen, Nachkommen der Himmelsfrau Frigga nach der Verpaarung mit dem Donnergott und Hammerwerfer Donar. Wohin werden sie noch klettern in ihren braunen Kletterwesten? Die schwarzen Halstücher flatterten, und die blauen Ziegenblicke ruhten auf den breit-breiten Schleifen der Kränze für die gefallenen Helden. Eine Herde gebärfreudiger Stuten; die Haarflechten nach vorn über die Brüste gelassen. Die schwarzen und die dunkelhäutigen Arierinnen neben den krummbeinigen, strohhaarigen, den geradlinigen Nachkommen der Ausklopferinnen altgermanischer Bärenfelle."12

Neben solchen spöttischen Tönen und Früchten liebevoller Sprachpflege verleihen sprechende Namen ihren Trägern typische Züge: Kolonialwarenhändler Knappwieger, Professor Obenhin, Fabrikdirektor Drückdrauf, Werkmeister Treter, Bürgermeister Bleibtreu, Hebamme Schnappauf, Lehrer Klügler, Bäckermeister Dumpf, Dichter Weißblatt. Durch Personifikationen werden dem Leser die Augen für die Schönheit der Dinge geöffnet und der Blick für den Wert lebloser Körper geschärft: "Die Brötchen hatten eine lustige Stunde, bevor die gegessen wurden"1, "Die Bäume schüttelten sich."2, "Der Wald verpackte den Wutausbruch des verrückten Bierbrauers in sein Rauschen."3. Auch die originell gewählten Vergleiche und Metaphern tragen zur Zeichnung scharf konturierter Bilder bei und liefern lustige Effekte: "Das Mädchen nahm die Wimpern hoch, als wären sie seidene Fransenröcke."4, "Er dachte an den Meister, der Gott als dünne Geschäftshaut trug."5, "Der Meister war nicht der freundlichste. Sein Mund sah aus, als hätte er lebenslang Klarinette geblasen. Seine Worte waren wie Salzkörner auf Stanislaus`schneckenweicher Verliebtenseele"6, "Das Mahlwerk seiner Gedanken war wieder in Gang gekommen, rumpste, schnurrte und stieß Grobschrot aus"7. Solchermaßen bereitete Strittmatter mir eine vergnügliche Lektüre, die mich auf die Fährte weiterer Strittmatter-Geschichten lockte.

5.Literaturverzeichnis

1. Karl Heinz Berger : Der Weg des Stanislaus Büdner. In : Erwin Strittmatter. Analysen, Erörterungen, Gespräche. Volk und Wissen Volkseigener Verlag, Berlin 1977.

2. Marcel Reich - Ranicki : Deutsche Literatur in West und Ost. Deutscher Taschenbuch Verlag, München 1993.

3. Erwin Strittmatter : Der Wundertäter. Erster Band. Aufbau - Verlag, Berlin 1957.

4. Erwin Strittmatter : Produktivkraft Poesie. Gespräche. In : Erwin Strittmatter. Analysen, Erörterungen, Gespräche. Volk und Wissen Volkseigener Verlag, Berlin 1977.

5. Eduard Zak : Ein Weg in die Welt. In : Neue Deutsche Literatur, H. 3/ 1958.

[...]


[1] Vgl. Zak, 1958, S.191.

[2] Strittmatter, 1977, S.241.

[3] Ebenda.

[4] Vgl. Zak, 1958, S.192.

[5] Vgl. ebenda, S.194.

[6] Reich- Ranicki, 1993, S. 376.

[1] Strittmatter, 1957, S.9.

[2] Ebenda.

[3] Ebenda, S.10.

[4] Ebenda, S.11.

[5] Ebenda, S.12.

[1] Strittmatter, 1957, S.11.

[2] Ebenda, S.39.

[3] Ebenda, S.45.

[4] Berger, 1977, S.128.

[1] Strittmatter, 1957, S. 228.

[2] Ebenda, S.229.

[3] Ebenda, S.275.

[4] Strittmatter, 1977, S.237.

[5] Berger, 1977, S.130.

[1] Strittmatter, 1957, S.104.

[2] Ebenda, S.106.

[3] Ebenda, S.108.

[4] Ebenda, S. 112.

[5] Ebenda, S. 117.

[6] Ebenda, S. 121.

[7] Ebenda, S.113.

[1] Strittmatter, 1957, S. 170.

[2] Vgl. ebenda, S. 185.

[3] Ebenda, S. 183.

[4] Ebenda, S. 289.

[5] Ebenda, S. 291.

[6] Ebenda, S.296.

[7] Ebenda, S.294.

[8] Ebenda, S. 311.

[9] Ebenda, S. 323.

[1] Strittmatter, 1957, S. 395.

[2] Ebenda, S. 414.

[3] Ebenda, S.27.

[4] Ebenda, S. 196.

[5] Ebenda, S. 99.

[6] Ebenda, S. 105.

[7] Ebenda, S. 218.

[8] Ebenda, S. 84.

[9] Ebenda, S. 227.

[10] Reich - Ranicki, 1993, S.380.

[11] Strittmatter, 1957, S. 401.

[12] Ebenda, S. 303.

[1] Strittmatter, 1957, S.113.

[2] Ebenda, S.427.

[3] Ebenda, S. 452.

[4] Ebenda, S. 109.

[5] Ebenda, S.267.

[6] Ebenda, S. 211.

[7] Ebenda, S. 428.

Ende der Leseprobe aus 17 Seiten

Details

Titel
Strittmatter, Erwin - Der Wundertäter - Zur Erzählweise und Figurengestaltung
Veranstaltung
Deutsch-Profilkurs, 11.Klasse
Note
1
Autor
Jahr
1994
Seiten
17
Katalognummer
V97088
ISBN (eBook)
9783638097635
Dateigröße
420 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Dies ist eine Semesterarbeit, die ich im Deutsch-Profilkurs in der 11. Klasse angefertigt habe.
Schlagworte
Strittmatter, Erwin, Wundertäter, Erzählweise, Figurengestaltung, Deutsch-Profilkurs, Klasse
Arbeit zitieren
Stefan Weise (Autor:in), 1994, Strittmatter, Erwin - Der Wundertäter - Zur Erzählweise und Figurengestaltung, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/97088

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