1 DAS LERNEN AM MODELL
1.1 Einführung
„Nach Bandura (1969) liegt Modelllernen dann vor, wenn ein Individuum aufgrund der Beobachtung des Verhaltens anderer Individuen und der darauf folgenden Konsequenzen neue Verhaltensweisen aneignet oder schon bestehende Verhaltensweisen weitgehend verändert werden." (Baade et al. 1982, S. 111)
In der Literatur wird das Lernen am Modell (oder Modell-Lernen, Beobachtungslernen, Imitationslernen) zu den kognitiven Lerntheorien gezählt (vgl. Edelmann 1996, S. 282). Das heisst, dass davon ausgegangen wird, dass der Mensch am Lernprozess aktiv beteiligt ist. Er nimmt Informationen und Reize auf und verarbeitet sie gedanklich, bevor er reagiert (Innensteuerung).1 Im Gegensatz dazu stehen behavioristische bzw. verhaltenspsychologische Lerntheorien, die nur den sichtbaren Aspekt des Lernprozesses beschreiben, nämlich die Auslösung von Reaktionen durch Reize bzw. Belohnung oder Bestrafung des Verhaltens durch nachfolgende Konsequenzen. Der Mensch wird bei diesen Theorien (der klassischen und der instrumentellen Konditionierung) relativ passiv und von aussen gesteuert dargestellt. In einer Studie zum Modelllernen ist A. Bandura, der damals noch behavioristische Ansichten hatte, darauf gekommen, dass der Mensch nicht nur durch direkte Verstärkungen lernt (Belohnung und Bestrafung), sondern dass es genügt, wenn er eine andere Person beobachtet, die für eine bestimmte Verhaltensweise belohnt oder bestraft wird. Ein Experiment, in dem verschiedenen Gruppen von Vorschulkindern Filme gezeigt wurden, in denen aggressives Verhalten mehr oder weniger erfolgreich dargestellt wurde, führte zum Ergebnis, dass die Kinder dann aggressives Verhalten nachahmten, wenn sie im Film beobachtet hatten, dass aggressives Verhalten zum Erfolg führte (vgl. Bandura et al. 1963 zit. in Angermeier 1991, S. 142). Diese und viele andere Erkenntnisse führten Bandura zu einem erweiterten Verständnis des menschlichen Lernens.
Ein anderes Experiment hat gezeigt, dass es beim Lernen am Modell hinsichtlich aggressiven Verhaltens nicht darauf ankommt, ob das Modell als Person anwesend ist (Life-Modell) oder ob es über ein Medium vermittelt wird (z. B. Film, Buch) (vgl. Bandura et al.zit. in Edelmann 1996, S. 283).
Das Modell-Lernen ist besonders in den Bereichen des sozialen und sprachlichen Verhaltens wirksam und effizient. (vgl. Edelmann 1996, S. 283)
1.2 Die Lerneffekte beim Modell-Lernen (vgl. Bandura 1976, S. 13f)
1.2.1 Der Lerneffekt durch Beobachtung
Beobachter können neue, vorher noch nicht beherrschte Verhaltensmuster erlernen, wenn sie die Leistungen anderer wahrnehmen.
Beispiel: „Ein zehn Jahre alter britischer Junge hat sich und seinen Vater vor dem Er- frieren gerettet, indem er mitten in einem Schneesturm eine Art Iglu baute. Er konnte sich an eine Fernsehsendung erinnern, in der die Konstruktion eines Iglus beschrieben worden war. Die beiden hatten eine Wanderung durch ein einsames Hochmoor gemacht, als sie plötzlich in einen Schneesturm gerie- ten" (Basler Zeitung, 10.03.99).
1.2.2 Der Hemmungs- und Enthemmungseffekt
Diese Lerneffekte können schon gelernte, aber gehemmte Reaktionen quantitativ verstärken oder abschwächen, je nachdem, ob Belohnung oder Strafe als Folge der Handlungen beobachtet werden kann. Voraussetzung für diesen Lerneffekt sind Ansätze von bestimmten Verhaltensweisen, die dann durch Beobachtungen von Modellen verstärkt oder geschwächt werden können.
Beim Enthemmungseffekt zeigen Beobachter einen Leistungsanstieg in vorher gehemmten Verhaltensweisen, nachdem sie beobachtet haben, wie Modelle ohne negative Folgen Handlungen ausführen, die bedrohlich erschienen oder mit Verboten belegt waren.
Beispiel: Eine Person hat grossen Respekt vor dem Computer und traut sich aufgrund negativer Erfahrungen nicht mehr daran. Nachdem sie beobachtet hatte, wie ein Modell den Computer bediente, ohne dass der gefürchtete Absturz eintrat, wagt sie sich wieder daran und macht dabei Fortschritte.
Beim Hemmungseffekt vermindern sich Reaktionen und Handlungen der Beob-achter, wenn sie sehen, dass das Verhalten eines Modells bestraft wurde oder negative Konsequenzen hatte.
Beispiel: Ein Bewohner der Wohngruppe, der ab und zu verbale Aggressionen äus- serte, gibt sich eher zurückhaltend, nachdem er beobachtet hatte, wie ein anderer Bewohner wegen massiven, wiederholten Aggressionen die Wohn- gruppe verlassen musste.
1.2.3 Der Auslösungseffekt (Reaktionserleichternder Effekt)
Von einem Auslösungseffekt spricht man, wenn beim Beobachter Reaktionen und Handlungen ausgelöst werden, die er schon vollumfänglich beherrscht und die einer gewissen Gruppenlenkung unterliegen.
Der Auslösungseffekt bewirkt, dass der Beobachter Rückschlüsse auf dahinterliegende Werthaltungen der beobachteten Handlungen zieht. In der Folge lässt er sich zu ähnlichen oder gleichen Handlungen verleiten.
Beispiel: Ein Fan im Fussballstadion beginnt zu pfeifen, weil alle Menschen um ihn herum auch pfeifen.
1.3 Der Vorgang des Modell-Lernens (vgl. Bandura 1976, S. 24ff)
1.3.1 Einführung
Die sozial-kognitive Lerntheorie, oder die Theorie des sozialen Lernens von Bandura, geht einen Schritt weiter als bisherige Reiz-Reaktions-Theorien. Das Entscheidende dabei ist, dass zwischen dem Reiz (Einfluss des Modells auf den Beobachter) und der Reaktion eine Informationsverarbeitung angenommen wird. Das heisst, der Beobachter registriert und verarbeitet die Informationen gedanklich, bevor er darauf reagiert. Diesen Verarbeitungsprozess unterteilt Bandura in zwei Phasen, die er wiederum in je zwei Teilprozesse aufteilt.
- Die Aneignungsphase, bestehend aus Aufmerksamkeitsprozessen und Gedächtnisprozessen.
- Die Ausführungsphase, bestehend aus motorischen Reproduktionsprozessen und Motivationsprozessen.
1.3.2 Aufmerksamkeitsprozesse
Bestimmte Merkmale des Modells wie des Beobachters bestimmen, ob sich eine Beobachterin bzw. ein Beobachter dem Modell tatsächlich aufmerksam zuwendet oder
nicht: Hat das Nachahmen des modellierten Verhaltens überhaupt einen Anreiz? Ist das Modell bei seinen Handlungen erfolgreich? Hat der Beobachter ein positives Beziehungsverhältnis zum Modell? Hat das Modell genügend Prestige und Kompetenz, um die Aufmerksamkeit der Beobachterin zu erregen? usw.
Beispiel: Eine Bewohnerin unserer Wohngruppe lässt sich von einem bestimmten Mit- bewohner nicht sagen, wie man die Abwaschmaschine einräumt, weil ihre Beziehung zu ihm durch verschiedene Konflikte gestört ist. Hingegen schaut sie einem anderen Bewohner aufmerksam zu, wie dieser ihr zeigt, wie sie mehr Geschirr in die Maschine bringen kann.
1.3.3 Gedächtnisprozesse
Viele beobachtete Verhaltensformen werden zeitlich erst viel später reproduziert und müssen vom Beobachter irgendwie gespeichert werden. Damit früher einmal beobachtete Ereignisse später wieder abgerufen werden können, werden sie gedanklich mit Bildern und/oder mit Worten verknüpft.
Beispiel: Um erste Hilfe leisten zu können hilft die Abkürzung ,,GABI". Damit lässt sich eine ganze Reihe von gelernten Handlungen in der richtigen Reihenfolge wieder abrufen und reproduzieren.
1.3.4 Motorische Reproduktionsprozesse
Bevor ein früher beobachtetes Verhalten offen ausgeführt werden kann, muss die Beobachtung innerlich repräsentiert werden. Durch häufiges Wiederholen und Nachahmen kann das Verhalten des Modells immer besser dargestellt werden.
Beispiel: Eine Person, die den Handstand lernen will, stellt sich innerlich eine Situation vor, in der sie beobachtete, wie jemand den Handstand machte. Diese reprä- sentierten Bilder versucht sie nun auszuführen.
1.3.5 Verstärkungs- und Motivationsprozesse
Ohne Motivation wird eine Beobachterin, wenn überhaupt, nur schwerlich gelerntes Verhalten nachahmen, obschon sie die Fähigkeit dazu hätte. Förderlich für die Motivation, eine vorgemachte Handlung offen auszuführen, ist externe Verstärkung in Form von Lob, Belohnung etc., stellvertretende Verstärkung (Modell wird belohnt, hat Erfolg) und Selbstverstärkung (selbstgeschaffene Konsequenzen). Demotivierend dagegen sind drohende Sanktionen oder allgemein Umstände, die keinen Anreiz bieten.
Beispiel: Eine Bewohnerin hat die Aufgabe, jede Woche die Kaffeemaschine zu reini- gen. Diese Aufgabe erledigte sie bisher nur ungern und mit viel Murren. Als sie vom Betreuungspersonal für ihre Leistung gezielt gelobt wurde, erhöhte sich ihre Motivation (externe Verstärkung).
1.4 Das Konzept der Erwartung (vgl. Bandura in Baade 1982, S. 135f)
Nach Bandura sind auch die Erwartungen des Beobachters, der Beobachterin massgebend, ob Verhalten imitiert wird oder nicht. Er unterscheidet zwischen der Ergebnis-Erwartung und der Effektivitäts-Erwartung.
1.4.1 Ergebnis-Erwartung
Bei der Ergebnis-Erwartung fragt sich die lernende Person, ob die gefragte Verhaltensweise überhaupt zum gewünschten Ziel führt. Bestehen Zweifel darüber, kann das die Ausführung verhindern, trotz positiver Effektivitäts-Erwartung.
1.4.2 Effektivitäts-Erwartung
Hier ist die Erwartung einer Person an sich selbst gemeint. Traut sie sich zu, eine Handlung auszuführen, die notwendig ist, um ein gewünschtes Ziel zu erreichen? Sind diesbezüglich Zweifel vorhanden, kann das die Ausführung verhindern, trotz positiver Ergebnis-Erwartung.
1.5 Welche Modelle werden imitiert?
Interessant für die Praxis ist nun die Frage, welche Modelle von der lernenden Person nachgeahmt und welche vernachlässigt werden. Oder anders gefragt, welche Kriterien spielen eine Rolle bei der Wirksamkeit der Arbeit als Modellperson? Zum Teil sind die Antworten schon im obigen Text enthalten. Folgende Auflistung soll einen besseren Überblick geben (vgl. Secord und Backman in Angermeier 1991, S. 143 / versch. Autoren in Baade 1982, S. 120).
- Externe Verstärkung (das Modell belohnt den Nachahmenden)
- Stellvertretende Verstärkung (Modell hat bei seinen Handlungen Erfolg / wird belohnt)
- Selbstverstärkung (Beobachterin schafft sich selbst angenehme Konsequenzen)
- Furcht des Lernenden vor Liebesentzug des Modells
- Furcht des Lernenden vor Bestrafung durch das Modell (Strafvermeidung)
- Modell hat soziale Macht und kann Belohnungen kontrollieren und vergeben (ohne dabei zwingend die Beobachterin belohnen zu müssen)
- Modell hat ähnliche Eigenschaften oder soziale Rollen wie die nachahmende Person
- Nachahmende Person antizipiert (gedankliche Vorwegnahme) mögliche Belohnungen
- Beobachter neidet es der Modellperson, dass diese von anderen belohnt wird (Statusneid)
- Beobachter findet das Modell ideal in Alter, Fertigkeit, Sozialprestige oder Persönlichkeitszügen
- Längere Dauer der Beziehung zwischen Modell und Beobachterin
- Freundlich-warme Behandlung, Einfühlungsvermögen der Modellperson (Empathie)