Das Anti-Aggressivitäts-Training als Impulsgeber für neue Lernformen an Schulen?


Diplomarbeit, 2001

83 Seiten, Note: sehr gut


Leseprobe


1. Einleitung

Im Kontext der rasanten gesellschaftlichen Veränderungen, der Auflösung von sozialen Milieus, der zunehmenden sozio- ökonomischen Unsicherheiten und der daraus resultierenden Bewältigungsmuster, vor allem bei Kindern und Jugendlichen, sehen sich Jugendhilfe und Schule vor neue Aufgaben, Herausforderungen und Probleme gestellt. Insbesondere vor dem Hintergrund der erhöhten Sensibilität gegenüber gewalttätigen Übergriffen von und zwischen Kindern und Jugendlichen entstanden seit Anfang der 90‘er Jahre eine Vielzahl von Modellen, Projekten und Programmen mit dem Fokus auf die Anti–Gewalt-Arbeit oder die Gewaltprävention.

Ein Modell, welches seit etwa Mitte der 90‘er Jahre in und außerhalb Deutschlands zunehmend öffentliche Beachtung findet und an dessen Inhalten, Methoden, Zielformulierungen und Ergebnissen sich die vollzugsbehördlichen und fachwissenschaftlichen Geister zu scheiden scheinen, ist das in der Jugendstrafvollzugsanstalt Hameln entwickelte Anti-Aggressivitäts-Training.

Mit der hier vorliegenden Arbeit werde ich der Frage nachgehen, ob die fachtheoretischen Hintergründe, die methodischen Elemente und praktischen Erfahrungen dieses Modells für eine gewaltpräventive Arbeit mit Kindern und Jugendlichen genutzt und auf die Bedingungen und Probleme von Jugendarbeit und Schule heruntergebrochen werden können – ob dieses Modell also Impulse für ein „neues Lernen“ gibt und somit zur Förderung von solidarischem Verhalten, von Fürsorge und Empathie, für neues männliches Rollenverhalten und letztlich zur Reduzierung von Gewalt beitragen kann.

Zu Beginn dieser Arbeit wende ich mich zunächst dem öffentlichen Gewaltdiskurs zu, werde im Anschluß verschiedene Definitionsansätze und Erklärungsmodelle für Aggression und Gewalt betrachten und, vor dem Hintergrund der Feststellung, daß körperliche Gewalt in erster Linie Jungen und Männer betrifft, den Erwerb der Geschlechterrollen, die daraus resultierenden Probleme von Jungen und einige Aspekte von Jungenarbeit betrachten. In den Punkten 6 und 7 gehe ich näher auf das Anti-Aggressivitäts-Training, auf die Entstehung des klassischen Modells und dessen zentrale Phasen sowie auf einige abgewandelte Formen dieses Modells ein. Dabei erscheint es mir sinnvoll, auch auf den eher distanzierten Blick einiger Kritiker hinzuweisen. Desweiteren werde ich die weiterentwickelte Form des „Hamelner Modells 2000“, und hier besonders die Elemente des sogenannten „Attraktivitätstrainings“ und die diesem Modell zugrundeliegenden Leitideen betrachten. Braucht Schule „neues Lernen“ und kann das neue „Hamelner Modell“ auch hier Impulse geben? Dieser Frage nachgehend halte ich es für notwendig unter Punkt 8 etwas näher auf die gegenwärtige Situation der Schule einzugehen, um anschließend die, auf dem „Hamelner Modell“ basierenden, Vorstellungen und Vorschläge zu betrachten.

2. Aggression, Aggressivität, Gewalt

2.1. Gewaltdiskurse in der Öffentlichkeit

Gewalt von und unter Kindern und Jugendlichen ist seit Beginn der neunziger Jahre sowohl in den Medien als auch in der (fach-) öffentlichen Diskussion zum „Leitlinienthema“ (Simon 1996, S.17) geworden. Vor allem durch die fremdenfeindlichen Anschläge in verschiedenen Städten der alten und neuen Bundesländer, ist die Öffentlichkeit seit dieser Zeit, gegenüber allen Formen von Jugendgewalt und jugendlicher Devianz, in erhöhtem Maße sensibilisiert. Der Umgang mit und die Reaktionen auf diese(r) Thematik ließen den Eindruck entstehen, als ginge es um eine noch nie dagewesene Problematik. Devianz von Jugendlichen und insbesondere Jugendgewalt ist jedoch kein Phänomen der neunziger Jahre und beschäftigt auch nicht erst seit der „Wendezeit“ Politiker, Medien und Öffentlichkeit. Vielmehr ist Jugendgewalt ein „zeitloses Phänomen“, wie Titus Simon in seiner eingehenden Betrachtung der „Sozialgeschichte aggressiver Jugendkulturen“ aufzeigt, und „in unserer Gesellschaft mindestens so alt wie das Automobil“ (Simon 1996, S. 15-23). In seinen historisch differenzierten Vergleichen verschiedener Jugendkulturen und deviant-aggressiver Gruppen – von den „Edelweißpiraten“ im Dritten Reich bis zu den Hooligans, Punks und Skinheads in der heutigen Zeit – weist Simon darauf hin, daß gewalttätige Handlungen in allen Jugendkulturen mit den jeweiligen gesellschaftlichen Verhältnissen „korrespondierten“. Sie gingen zu allen Zeiten einher mit den, aus gesellschaftlichen Wandlungsprozessen resultierenden, Verunsicherungen und Krisen. Sie waren seit jeher Ausdruck jugendspezifischer Auflehnung und Abgrenzung, von Anpassungsdruck in Cliquen, von Reizsuche und nicht zuletzt auch Bestandteil „maskuliner Orientierung“, sowie der Pflege eines tradierten Männlichkeitskults. Ebenso wenig neu ist, so Simon, der Einfluß der Sensationsberichterstattung durch die Medien, die damals wie heute wesentlich zur Gewaltförderung- und nachahmung beitrug und beiträgt (Simon 1996, S. 15-23).

Auch die Gewaltdebatte seit Beginn der 90‘er wurde maßgeblich durch die Medien angeheizt. Gewalt wurde zunehmend problematisiert und skandalisiert (vgl. Schnack / Neutzling 1997b, S.68). Gewaltszenarien wurden und werden umsatz- und auflagensteigernd vermarktet und führen auch heute vielfach zur Nachahmung. So führte die Sensationsberichterstattung, insbesondere über die fremdenfeindlichen Anschläge zu Beginn der 90‘er, bei den „Akteuren“ zu einem (für viele bisher unerreichten) Wirksamkeitserleben und „Wahrgenommenwerden“ was letztlich einen Aufforderungscharakter in Richtung „mehr vom Selben“ hatte. Der Angriff galt der Politik und der von ihr zu verantworteten sozio – ökonomischen Verhältnisse. Tatsächlich (heimtückisch) angegriffen wurden hingegen die Asylunterkünfte. Der „Erfolg“ brachte die Täter und ihre Anhänger (besonders in den neuen Bundesländern) von der bisherigen Situation der „policy-takers“ zurück in die Position der „policy-makers“ (Merten / Otto 1993, S.25)

Daß auf den Zug der öffentlichkeitswirksamen und fremdenfeindlichen Gewaltexzesse meist auch Jugendliche aufsprangen, deren politische und kulturelle Rechtfertigung von Gewalt eher einen Vorwand darstellte und deren eigentliche Motivation eher im fehlenden Selbstwertgefühl, in Langeweile, in einer allgemeinen Orientierungslosigkeit, in Geltungsstreben, sowie als probate subkulturelle Auseinandersetzungsform zu verorten ist, wurde u.a. im Ergebnis der Auswertung des „Aktionsprogrammes gegen Aggression und Gewalt“ in Frankfurt deutlich (vgl. Stüwe 1995, S.74).

Diese Einschätzung wird auch durch die Feststellung von Böhnisch / Winter gestützt, die rechtsextremes Verhalten vor dem Hintergrund männlicher Sozialisation und Lebensbewältigung, als das männliche Prinzip „Externalisierung“ in übersteigerter Form einordnen und mithin als extremes Männlichkeitsverhalten betrachten (Böhnisch / Winter 1997, S. 130). Die Autoren beziehen sich darüber hinaus auf Heitmeyer (1987), der in rechtsextremistischem Verhalten eine Form alltäglicher Lebensbewältigung als „Äquivalent für negative Alltagserfahrungen“, wie Statusverunsicherung, Erlebnisse sozialer Isolation und Ohnmachtserfahrungen sieht (Böhnisch / Winter, ebd.).

Darüber hinaus schürte das von den Medien gezeichnete Bild von der „wachsenden Welle der Gewalt“ Ängste unter der Bevölkerung. Diese Ängste wiederum prägten nicht unwesentlich die öffentliche Diskussion und ließen die Forderung an den Staat, nach umfassendem Schutz, nach Gesetzesänderungen und härteren Strafen, laut werden. Daß sich häufig populistische Politiker diese Ängste innerhalb der Bevölkerung zum Nutzen machten und versuchten daraus politisches Kapital zu schlagen, sei hier nur am Rande erwähnt.

Stiels-Glenn verweist darauf, daß durch die Schilderung der Täter und Taten in den Medien ein Klima geschaffen wurde, in welchem die objektive Kriminalitätsbelastung in Deutschland und die subjektive Furcht vor Kriminalität unter der Bevölkerung weit auseinander klaffen (vgl. Stiels-Glenn, in: Weidner, J. / Kilb, R. / Kreft, R. 1997, S.239). Eben auf diese Entwicklung macht auch Brusten (1997) aufmerksam, mit einem Verweis auf die Kriminalitätsstatistik des Europarates (vgl. Brusten, in: Albrecht, G. / Groenemeyer, A. / Stallberg, F.W. 1999, S.529).

So erinnerte z.B. die „Bild-Zeitung“ am 27.12.2000 mit der Überschrift: „Jugendkriminalität – größte Angst der Deutschen“ ihren Leserkreis an die Bedrohung, die von kriminellen Jugendlichen für den deutschen Bürger ausgeht.

Auf die Rolle von Bedrohungsgefühlen und Ängsten verweist auch Simon mit Hinweis auf Rothgang (1992). So werden Bedrohungen und Ängste zeitweise bei Einzelnen aber auch im gesellschaftlichen Kontext aufgebaut, um „die kollektive Verdrängung anderer, wesentlich größerer Bedrohungen und Ängste aufrechterhalten zu können.“ (Simon 1996, S.19)

Einen weiteren Aspekt in diesem Zusammenhang beleuchten Stiels-Glenn und Witt. Durch das von den Medien geschürte Bedrohungsgefühl werden alle Beteiligten beeinflußt. Zum einen die Täter, für die eine derartige Medienpräsenz inzwischen „verhaltenssteuernden Einfluß besitzt“ und zum Teil regelrecht erwartet wird. Zum anderen (potentielle) Opfer, welche befürchten durch ihre Angst aufzufallen und potentielle Täter zu ermutigen. Welchen Einfluß das Bedrohungsgefühl insbesondere auf (scheinbar) unbeteiligte Zeugen und ihr (Nicht-) Eingreifen ausübt, welche Funktion Angst im öffentlichen Diskurs hat, wie Angst das sozialarbeiterische Vorgehen beeinflußt und welche Folgen ein Nichteingreifen der Zeugen für die Zeugen selbst, für die Opfer und auch für die Täter hat, wird von den Autoren eingehend betrachtet. Vor dem Hintergrund ihrer Auffassung, daß das Gewaltproblem niemals endgültig zu lösen sein wird, plädieren die Autoren für einen „pragmatischen Umgang“ mit der Gewaltproblematik und für eine gezielte Einbeziehung und Stärkung der Zeugen (vgl. Stiels-Glenn / Witt, 2000, S.18 ff.).

Die Abhandlung der Gewaltthematik in den Medien zu Beginn der 90‘er Jahre war, wie bereits erwähnt, zweifelsohne sensations- und gewinnorientiert und trug ihrerseits vielfach zur Verunsicherung der Bevölkerung und zur oberflächlichen Betrachtung der Thematik bei. Darüber hinaus wurde vermieden, den eigenen Beitrag an der Gewaltentwicklung, an der Brutalisierung gewalttätiger Auseinandersetzungen, das permanente Präsentieren gewalttätiger Lern- und Konfliktlösungsmodelle, kritisch zu reflektieren. Dies ist auch heute, zu Beginn des neuen Jahrzehnts, nicht anders. So wird bei der Gewaltdiskussion in der Öffentlichkeit schnell ge-und verurteilt und wenig differenziert, vor allem was den Begriff und die Ursachen von Gewalt angeht. Die Ursachen werden zumeist im individuellen Fehlverhalten der fast ausnahmslos männlichen Jugendlichen und jungen Erwachsenen gesucht, die schnell auch als die allein Schuldigen abgestempelt werden. Der Beitrag und die Verantwortung des Systems, unter dem diese Jugendlichen aufwachsen, wird verdrängt. Indirekt wies schon Galtung 1975 auf diese Tatsache hin: „Die Opfer der direkten Gewalt gehen in die Nachrichten ein, die Opfer der strukturellen Gewalt dagegen in die Statistiken“ (Galtung 1975, S. 46) – oder, so sei vor diesem Hintergrund zu ergänzen – in den Knast.

Die Sichtweise vom individuellen Fehlverhalten führt zwangsläufig zur Notwendigkeit einer „eindeutige(n), repressive(n), autoritäre(n) Tugenderziehung mit Law-and-order-Mitteln der Strafe und Strafandrohung (sowie des Strafrechts)...“ womit letztlich „...normalisiert, in die Gesellschaft (re-)integriert oder auch zeitweise ausgegrenzt werden...“ (Hafeneger 1996, S.80) soll.

Trotz des meinungs- und verhaltenssteuernden Einflusses, den die Medien innerhalb der Gewaltdebatte hatten, wäre es eine zu einseitige Betrachtung, allein die Medien für die permanente Präsenz der Gewaltthematik verantwortlich zu machen, denn die „...Medien allein können ein solches Thema nicht ‚machen‘ und schon gar nicht so lange in der Diskussion halten. Es muß auch eine gesellschaftliche Realität geben, sich mit dieser Thematisierung verbindet.“ (Tillmann, in: Holtappels et al. 1997, S.11 ff.)

Bei der Betrachtung dieser gesellschaftlichen Realität wird deutlich, daß „die Ursachen von Gewalt komplexer und vor allem in den Lebensbedingungen (und) Milieuerfahrungen der Jugendlichen (zu) verorten“ (Hafeneger 1996, S.80) sind. Auf diese gesellschaftlichen Hintergründe und Ursachen, insbesondere die Probleme der zunehmenden Individualisierung und Pluralisierung und der, aus den gesellschaftlichen Veränderungen resultierenden, Desorientierung der Jugendgeneration, wird unter Punkt 3 dieser Arbeit detaillierter eingegangen.

Jedoch soll an dieser Stelle darauf hingewiesen werden, daß Jugendgewalt, bei aller Ablehnung und Empörung, die sie bei einem Großteil der Erwachsenengeneration auslöst, von eben dieser häufig nicht nur vorgelebt, sondern auch toleriert und, bewußt oder unbewußt, funktionalisiert wird.

So blieb, insbesondere bei den fremdenfeindlichen Anschlägen gegen Asylunterkünfte und Einzelpersonen häufig außer Betracht, daß fremdenfeindliches Gedankengut und Rechtsradikalismus nicht ein ausschließlich jugendspezifisches Phänomen darstellt, sondern daß sich diese Gewalt „aus der ‚Mitte der Gesellschaft‘ entwickelt und sich – wie die applaudierenden Passanten zeigen – von dieser ‚Mitte‘ getragen weiß...“ (Merten / Otto 1993, S.25), und daß letztlich diese Jugendlichen und jungen Erwachsenen ihre Verhaltensweisen „in einer Welt von Älteren und Erwachsenen“ gelernt haben und sich der Toleranz der Nachbarn sicher sind (Hennig 1993, S. 74). Somit sind sie sicherlich auffällige Akteure einer Kultur von Gewalt, aber eben auch die Repräsentanten einer „Lebensform der Ausländerfeindlichkeit“ (Hennig, ebd.). Und schließlich weist Simon darauf hin, daß die reale Gewalt nicht nur für Jugendliche etwas Faszinierendes hat. Vielmehr kann das starke Interesse an den gewalttätigen Übergriffen von Jugendlichen damit zusammenhängen, „daß sie vordergründig empörte Erwachsenen mit ihrer eigenen unbewältigten, verdrängten Gewalt konfrontiert“. (Simon 1996, S.18)

Im Zuge der Debatte über rechtsextremistische Gewalttaten zu Beginn der 90er Jahre wurde in den folgenden Jahren der Blick auch vermehrt auf andere Lebensbereiche gerichtet. Vor allem auf die Schule, als der Institution, in der sich die Mehrheit der Jugendlichen tagtäglich aufhält (vgl. Tillmann, in: Holtappels et al. 1997, S.12). Im Mittelpunkt standen Fragen wie: Wird die Schule ihrem Auftrag noch gerecht? Genügt sie noch den neuen marktwirtschaftlich und global-politischen Sozialisationsansprüchen? Wie sieht die (Gewalt-) Situation an den Schulen aus? Was weiß die Erziehungswissenschaft über Gewalt an Schulen?

Seit Beginn der 90‘er wurde dieses Themas von professioneller Seite (Schulbehörden, Jugendämter, Pädagogen, Psychologen, schulische Sozialisationsforscher etc.) und besonders auch von der empirisch ausgerichteten Erziehungswissenschaft aufgegriffen .

Inzwischen liegen Berichte und Auswertungen einer Reihe von aussagekräftigen empirischen Untersuchungen zum Thema Kinder- und Jugendgewalt vor: u.a. zu Gewalt an Schulen (z.B. Schwindt / Roitsch / Gielen 1994/1997), Gewalt und Kriminalität im außerschulischen Bereich (z.B. Pfeiffer,1996) sowie schriftlich standardisierter Befragungen an Schulen (z.B. Meier et al. 1994).

Diese Beispiele stellen nur einen Bruchteil der inzwischen erfolgten Untersuchungen in den verschiedenen Bundesländern dar. „Allein zwischen 1993 und 1995 wurden aus rund einem Dutzend Forschungsprojekten (zur Gewaltfrage in Öffentlichkeit und Schulpraxis, d. Verf.) umfassende und seriöse Befunde vorgelegt.“ (Holtappels et al. 1997, S.7) Tatsächlich ist, seit Beginn der 90‘er Jahre, eine Veränderung der Gewaltbereitschaft und der tatsächlichen gewalttätigen Übergriffe von Schülern zu verzeichnen. Dies bestätigen u.a. auch die Untersuchungen (Universität Bielefeld /SFB 227) von Mansel / Hurrelmann zur Delinquenz von Jugendlichen (gemeint ist hier nicht die Gewalt in Schulen). Hier wurde zwischen 1986 und 1996 ein deutlicher Anstieg der Delinquenzhandlungen in den Bereichen Sachbeschädigung, Körperverletzung, Diebstahl, Einbrüchen etc. festgestellt (vgl. Mansel / Hurrelmann, in: Holtappels et al. 1997, S.19).

Kritisiert wird bei deren Auswertung, u.a. von Krumm, der undeutliche und zum Teil verwirrende Umgang mit den Begriffen Aggression und Gewalt. Neben einigen konzeptionellen und methodischen Schwächen, sowie „fragwürdigen Interpretationen“ stellt er fest, daß Lehrer in etlichen Arbeiten zwar als Opfer auftauchen, die Schule, insbesondere die Rolle der Lehrer, findet bei der Betrachtung der Gewaltgenese von Kindern und Jugendlichen jedoch kaum oder gar keine Berücksichtigung. (vgl. Krumm, in: Holtappels 1997, S.63 ff.)

Vor allem in den letzten Jahren ist schließlich auch eine Veränderung bei der Behandlung des Gewaltthemas in den Medien zu beobachten, die sich inzwischen weitaus häufiger auf die Ergebnisse seriöser Untersuchungen und Aussagen von tatsächlichen Spezialisten beziehen. Da keine der verwendeten Untersuchungen das „aufgeregte Bild von der überbordenden Gewalt in der Schule bestätigen konnte“, wirkten viele der Presseberichte eher „entdramatisierend“ (Tillmann 1997, S. 14) .

2.2. Begriffserklärungen und Definitionen

In der öffentlichen Diskussion werden die Begriffe Aggression, Aggressivität und Gewalt selten unterschieden und je nach Kontext mit subjektiven Vorstellungen und Gefühlen besetzt. Trotzdem wurde und wird „der Begriff Gewalt benutzt, als sei klar, was gemeint ist.“ ( Stiels-Glenn, in: Weidner / Kilb / Kreft 1997, S. 239) Aggression abgeleitet vom lateinischen Verb ad-gredere bedeutet zunächst, im wertneutralen Sinne, auf etwas zugehen, etwas in Angriff nehmen (vgl. Petri 1997, S. 55). Nach Bründel und Hurrelmann bezeichnet Aggression „... eine Handlung, die auf die Verletzung eines Menschen zielt...“. ( Bründel / Hurrelmann 1994, S.23) Konkretisierter findet sich eine Begriffsbestimmung bei Selg. Nach seiner Auffassung beschreibt Aggression ein Verhalten oder Handeln, welches als das gegen einen „...Organismus oder ein Organismussurrogat gerichtetes Austeilen schädigender Reize...“ (Selg / Meers 1988, S. 14) zu verstehen ist. Dies beinhaltet, daß neben einer konkreten Handlung auch ein Verhalten, welches auf Verletzung, Schädigung oder Kränkung eines Organismus oder eines/einer Ersatzojektes/ Ersatzperson gerichtet ist und sowohl „...offen (körperlich verbal) oder verdeckt (phantasiert)...“, als auch „... positiv (von der Kultur gebilligt) oder negativ (mißbilligt)... sein kann (Selg / Meers 1988, S.14).

Die Vielzahl von Begriffserklärungen und Definitionen für Aggression, so die bio-genetischen, physiologischen, aber auch die sozialen und ökologischen, erklären Aggression zu einseitig und würden den Rahmen dieser Arbeit bei weitem sprengen. In jedem Falle jedoch ist Aggression eher auf dem Hintergrund sozialer Interaktionen und weniger als Ausdruck individueller, von den Lebensbezügen losgelöster Störungen oder Einstellungen zu betrachten.

Während Aggression also ein Verhalten oder eine Handlung meint, beschreibt der Begriff Aggressivität die Absicht und Bereitschaft zur Ausübung bestimmter Handlungen und Verhaltensweisen, „...bezieht sich Aggressivität auf eine Disposition oder Persönlichkeitseigenschaft“. (Hoppe-Graff / Engel 1999, S. 334)

Selg nennt Aggressivität „...eine erschlossene relativ überdauernde Bereitschaft zu aggressivem Verhalten“. ( Selg 1974, S. 20, zit. n. Weidner 1997a, S.8)

Aggressivität, losgelöst von den gewalttätigen körperlichen Übergriffen und somit den schweren Schädigungen durch Normverletzungen betrachtet, gehört zum grundlegenden menschlichen Verhaltensrepertoire, das ihn befähigt, seine Bedürfnisse und Interessen durchzusetzen und „...sich unbekannten, Angst machenden Erscheinungen zu nähern und sie zu meistern“. (Stiels-Glenn, in: Weidner / Kilb / Kreft 1997, S. 239) In bestimmen Kontexten (z.B. Sport, Wirtschaft, Politik) ist Aggressivität erwünscht, gar verlangt und wird, je nach kulturellem und gesellschaftlichen Hintergrund, in der ein oder anderen Form, Ausprägung und Intensität akzeptiert.

Eine vielfältige und teilweise unklare Begriffsbestimmung besteht auch hinsichtlich des Gewaltbegriffes. Das ist nicht neu, denn so wie es Gewalt in allen Epochen der Menschheitsgeschichte gab, waren auch schon früher verschiedene Ansätze menschlichen Handelns und Verhaltens unter den Gewaltbegriff zu subsumieren.

Gewaltbereitschaft und Gewaltempfinden ist schwierig zu messen, da es sich um subjektive Faktoren handelt. Jedoch ist eine Begriffsbestimmung auf dem Hintergrund kultureller Normen und einer wachsenden kulturellen Sensibilität möglich und notwendig (vgl. Bründel / Hurrelmann 1994, S. 25).

Weidner verweist zur Erläuterung des Gewaltbegriffes u.a. auf Neidhardts Analyse, in deren Mittelpunkt der Aktionsbegriff von Gewalt steht, durch den „...mit Zwang ein Widerstand gebrochen wird...“(Weidner 1997a, S.8) und der sich als strafrechtlich bedeutsame Form der sozialen Konfliktaustragung deutlich von staatlich legitimierter und struktureller Gewalt (siehe auch Punkt 3.2.1.) abgrenzt. In eben dieser Abgrenzung definiert Heilemann den Begriff der „destruktiven Gewalt“ als „...ein Verhalten, das die Gegenwehr, den Willen sowie das Selbstbestimmungsrecht des Opfers brechen will, entweder durch Hervorrufen von Angst, durch Hervorrufen von Schmerzen oder durch Hervorrufen von beidem“. (Heilemann / Fischwasser v. Proeck 2000, S.12) Während Weidner mit dem Verweis auf die Zielgruppe des Anti–Aggressivitäts–Trainings (gewalttätige Wiederholungstäter) den Gewalt- und Aggressionsbegriff als „feindselige (hostile) Aggression“ (Buss, in: Singer, in: Weidner 1997a, S.8), als „explizit destruktiv orientierte Handlung“ ( Werbik, in: Weidner 1997a, S.8), sowie als einen gegen einen „Organismus oder ein Organismussurrogat gerichteten Austeilen schädigender Reize“ (Selg 1974, S.8) bestimmt, bezieht sich Hurrelmann mit seiner Begriffsbestimmung von Gewalt auf den schulischen Kontext. Im Hinblick auf die Fragestellung dieser Arbeit erscheint mir diese am deutlichsten:

„Aggressivität, Dissozialität und Gewalt in der Schule umfassen das Spektrum von vorsätzlichen Angriffen und Übergriffen auf die körperliche, psychische und soziale Unversehrtheit, also Tätigkeiten und Handlungen, die physische und psychische Schmerzen oder Verletzungen bei Schülern und Lehrern innerhalb und außerhalb des Unterrichtsbetriebes zur Folge haben können. Gewalt in der Schule umfaßt auch Aktivitäten, die auf die Beschädigung von Gegenständen im schulischen Raum gerichtet ist“(Hurrelmann / Rixius / Schirp 1999, S.129).

Aggression und Gewalt (als deren extreme Form) liegen nah beieinander und werden inzwischen als Begriffe umgangssprachlich wie auch wissenschaftlich für die gleichen Vorgänge psychischer, physischer, verbaler Gewalt sowie sexistisch, frauenfeindlich und fremdenfeindlich motivierter Unterdrückung, Ausgrenzung, Verletzung und Zerstörung verwendet (vgl. Bründel / Hurrelmann 1994, S.23).

3. Theorien und Erklärungsansätze aggressiven Verhaltens

Was sind die Ursachen und Entstehungsbedingungen für destruktiv aggressives und gewalttätiges Verhalten? Welches sind die aggressionsfördernden Faktoren? Eine Vielzahl von Theorien beantworten diese Fragen vor dem Hintergrund ihres fachspezifischen Zugangs. Auf alle gesellschaftspolitischen, philosophischen, soziologischen, tiefen- und verhaltenspsychologischen, ethologischen und genbiologischen Ansätze in aller Ausführlichkeit einzugehen ist mir weder möglich, noch zentrales Anliegen dieser Arbeit. Aggressionstheorien machen verschiedene Annahmen über die Entstehung aggressiven Verhaltens deutlich, sind jedoch für sich allein genommen, nicht in der Lage das gesamte Ursachen – und Bedingungsgeflecht aggressiven Verhaltens zu erklären.

Bei der nachfolgenden Betrachtung einiger ausgewählter Ansätze beziehe ich mich aus diesem Grund auf Erklärungsmodelle, die mir wesentlich erscheinen, die theoretischen Grundannahmen des AAT zu beschreiben.

3.1. Psychologische Ansätze

Daß jedem Menschen ein Aggressionspotential innewohnt, Aggression und Zerstörung also genetisch bestimmt und angeboren ist und eine triebmäßige Neigung befriedigt, geht zurück auf die Theorie Freuds und bestimmt maßgeblich den psychoanalytischen Erklärungsansatz. Nach ihr werden die Auslöser und Anreger für Aggressionen ausschließlich in der Person selbst gesehen. Obwohl Adlers Weiterentwicklung dieser Theorie u.a. die Nähe des Aggressionstriebes zum Geltungsbedürfnis als Folge von Minderwertigkeitsgefühlen beschreibt (vgl. Weidner 1997a, S.38) und er sich somit der Veränderbarkeit aggressiven Verhaltens nähert, gehen das tiefenpsychologische und triebtheoretische Modell grundsätzlich von einer Unveränderbarkeit, allenfalls von einer Äußerungsreduzierung von Aggressivität aus und sollen aus diesem Grund hier nicht eingehender betrachtet werden.

3.1.1. Operantes Konditionieren

Der Begriff der Lerntheorie ist maßgeblich auf den amerikanischen Psychologen Skinner zurückzuführen, der in seinen Forschungsergebnissen die Bedeutung der sozialen Verstärkung für die Verhaltensbeeinflussung nachweisen konnte.

In Anlehnung an die Modelle des klassischen Konditionierens (reaktives Konditionieren nach Pawlow, Watson und Guthrie) und dem instrumentellen Konditionieren (nach Thorndike) ging Skinner davon aus, daß Reaktionen nicht nur über bestimmte auslösende Reize zu erklären sind, sondern daß vielmehr das Individuum aktiv auf seine Umwelt einwirkt und die Konsequenzen dieser Einwirkung über die „Auftretenswahrscheinlichkeit“ der „Wirkreaktion“ entscheiden – die „Wirkreaktionen“ quasi positiv oder negativ verstärkt werden. Gelernte Reaktionstendenzen bilden sich demnach zurück (werden „gelöscht“), sobald die gewohnten Verstärkungen nicht mehr erfolgen (Fliegel et al. 1989, S.36). Demzufolge treten Wirkreaktionen dann regelmäßig auf, wenn sie regelmäßige positive Verstärkung erfahren. Jedoch kann eine Verstärkung nur dann wirksam werden, wenn sie auch als solche empfunden wird und „wenn eine Deprivation von diesem Verstärker vorliegt, das heißt Verstärkung ist motivationsspezifisch“. (Fliegel et al. 1989, S.37) Erfolgen Verstärkungen nur unregelmäßig auf bestimmte Wirkreaktionen, dann wird von einer sog. „intermittierenden Verstärkung oder Bestrafung“ (Fliegel et al. 1989, S.37) gesprochen, welche den Lernprozess verlangsamt, ein weiteres Auftreten des bisherigen Verhaltens und eine größere Resistenz gegen Löschungen bewirkt.

Nach diesem Modell lassen sich, über positive und negative Verstärkung, Verhaltensweisen in Richtung auf ein gewünschtes Zielverhalten systematisch aufbauen (Differenzierungslernen). Dazu wird jede Annäherung auf dieses gewünschte Zielverhalten zunächst verstärkt und schließlich durch systematische Erhöhung der Anforderungen gefestigt (vgl. Fliegel et al. 1989, S.37).

3.1.2. Imitationslernen - Lernen am Modell

Während die klassische behavioristische Lerntheorie lediglich von der Reaktion des Individuums auf Reize und Verstärkungen ausgeht und Persönlichkeit ausschließlich als Summe offener und verdeckter Reaktionen ansieht (vgl. Hoppe-Graff / Keller 1992, S.417), vertritt die Theorie des sozialen Lernens den Ansatz, daß menschliches Handeln, also auch Aggression, über die aktive Auseinandersetzung mit der Umwelt, über Beobachtung, Erfahrung und Veränderung entwickelt und erworben wird. Bandura, einer der bekanntesten Vertreter dieser Theorie ging davon aus, daß („in einem doppelseitigen Kausalprozess“) Verhalten teilweise Umwelt hervorbringt und die resultierende Umwelt wiederum das Verhalten beeinflußt (Bandura 1979, S.59). Er erforschte weiterführend, daß Lernen auch über Modelle, d.h. durch das vorgelebte Verhalten von Mitmenschen, durch die Beobachtung und die Nachahmung dieses Verhaltens, erfolgt.

Demzufolge werden, neben einer Vielzahl alltäglicher positiver und gesellschaftlich akzeptierter Verhaltensweisen und Handlungen, auch Ellenbogenmentalität, das gewaltsame Durchsetzen von eigenen Interessen, aber auch die Gewalt als Befriedigung von Lust, Machttrieb und Dominanzstreben erlernt.

Modelle stehen Kindern und Jugendlichen allerorten und zu jeder Zeit zur Verfügung:

So z.B. die Familie, in der aggressive und gewaltsame Auseinandersetzung und Konfliktlösungen zwischen den Eltern untereinander oder zwischen den Eltern und den Kindern (von 12% bis fast 50% der Eltern stehen körperlicher Züchtigung nicht ablehnend gegenüber) selbstverständlich sind (vgl. Bründel / Hurrelmann 1994, S.65). Auch die Medien, die nicht nur die Lebens- und Freizeitgewohnheiten der Kinder und die Kommunikation innerhalb der Familien beeinträchtigen, sondern permanent Gewalt als probates Konfliktlösungsmodell präsentieren (24,8 Prozent aller neun bis zehnjährigen Großstadtschüler schauen täglich bis zu fünf Stunden fern) haben Modellfunktion (vgl. Brüdel / Hurrelmann 1994, S. 187). Darüber hinaus stellen die Cliquen, die den Jugendlichen außerhalb der Familie Zugehörigkeit, Sicherheit Anerkennung und Gemeinschaft bieten und gleichzeitig häufig einen hohen Anpassungsdruck, auch hinsichtlich der gewalt- und kriminalitätsbejahenden Regeln und Normen ausüben, ein zentrales Lern- und Verhaltensmodell dar (vgl. Bründel / Hurrelmann 1994, S.155).

Nach Bandura werden jedoch nicht alle Modelle nachgeahmt, denn die Anwendung des erworbenen Verhaltens wird dann unwahrscheinlich, wenn es nur einen geringen funktionalen Wert hat oder ein hohes Risiko besteht, bestraft zu werden. Im Umkehrschluß bedeutet dies, daß aggressives Verhalten besonders dann nachgeahmt wird, wenn es erfolgreich ist, das heißt, wenn es positive Verstärkung erfährt (vgl. Bründel / Hurrelmann 1994, S.262 ff.).

Mit der These der „differenziellen Assoziation“ lehnt sich Sutherland (1938/1968) stark an die psychologischen Lerntheorien an und verweist darauf, daß abweichendes Verhalten grundsätzlich nach den gleichen Prinzipien gelernt wird wie konformes Verhalten, und daß dieses Lernen am Modell stattfindet, nämlich über die interpersonalen Beziehungen und die Kommunikation mit normabweichenden Akteuren sowie über den „Kontakt mit deren Situationsdefinition“. (vgl. Brusten 1999, S.538)

3.1.3. Frustrations-Aggressions-Theorie

Mit diesem Erklärungsansatz für aggressives Verhalten stellte ein Psychologenteam um Dollard (1939) I eine vermittelnde Betrachtungsweise zwischen der Triebtheorie und den lerntheoretischen Erklärungsansätzen auf. Nach Dollard et al. ist Aggression ein erworbener Trieb und tritt immer als Folge von Frustration auf, wobei Frustration immer dann auftritt, wenn angestrebte „Zielreaktionen“ ausbleiben. Darüber hinaus ist die Aggressionstärke proportional zur vorangegangenen Frustrationsstärke. In Anlehnung an die Freud ‘sche Katharsisannahme wird, nach Dollard, aggressive Energie durch aggressives Verhalten abgeführt, wodurch sich eine weitere Aggressionbereitschaft reduziert. Wird die Aggressionsausübung gestört, kommt es zur Verschiebung auf andere Personen oder Objekte (vgl. Weidner 1997a, S.20 ff.).

Die Annahme, daß jeder Aggression eine Frustration vorausgeht und jede Aggression in Frustration mündet wurde später dahingehend relativiert, daß zwar jede Frustration zu einer emotionalen Erregung führen kann, jedoch die Erregung zu schwach sein kann, um tatsächlich in aggressives Verhalten zu münden. Weidner verweist auf Selg, der von der Frustration-/Antriebs-Hypothese“ spricht und davon ausgeht, daß „Frustration zu einer Erregung führt, die »nachfolgendes Verhalten intensiviert«“. (Weidner 1997, S.24) Rommelspacher bezieht sich ebenfalls auf die relativierte Sicht der Frustrations-Aggressions-Theorie und gibt zu bedenken, daß Frustration nicht automatisch zu Aggressionen führt, denn „...sonst könnten ganz andere Leute (als nur männliche Jugendliche, d. Verf.) gewalttätig werden, etwa Frauen; aber vor allem auch die Flüchtlinge und Migrantinnen selbst“. (Rommelspacher, in: Otto / Merten 1993, S.201) Die Autorin betont, in Anlehnung an Berkowitz’ II „Theorie der Aggression als provozierte Bereitschaft“, daß Frustration nur dann zu Aggression führt, wenn sogenannte „Hinweisreize“ vorhanden sind, worauf an dieser Stelle nicht detaillierter eingegangen werden soll.

Kinder und Jugendliche sind in ihrem Alltag einer Vielzahl von Erlebnissen und Erfahrungen ausgesetzt, die zu Frustrationen führen können. Dies können z.B. Überforderungs- und Mißerfolgserlebnisse sein – insbesondere in der Schule, die als „Instanz für die Steuerung des Ausleseprozesses und für die Platzierung in der Sozialstruktur eine außerordentlich hohe Bedeutung“ (vgl. Bründel / Hurrelmann 1994, S.281) hat und in die zunehmend die Ansprüche unserer Leistungsgesellschaft Einzug halten. Viele Schüler ahnen bereits, daß sie nur geringe oder keine Chancen für ein Vorankommen im späteren Leben haben oder sie fühlen sich einfach ungerecht behandelt und bestraft. Sie empfinden sich als Opfer des Schulsystems und der Gesellschaft und laden ihren Frust und die Enttäuschung auf Sündenböcke, Schwächere und/oder auf angepaßte und leistungsstärkere Mädchen ab.

Außerdem verfügen viele Kinder und Jugendliche über eine nur niedrige Kränkungsschwelle und eine stark ausgeprägte Feindlichkeitswahrnehmung. Weidner verweist in diesem Zusammenhang auf Schmidt-Mummendy, wonach Frustration die Folge des durch Beleidigungen bedrohten Selbstbildes darstellt (vgl. Schmidt-Mummendey, in: Weidner 1997a, S.21). Häufig ist zu beobachten, daß bereits harmlose Hänseleien oder der Anblick „gegnerischer Attribute“ subjektiv als Kränkung, Beleidigung oder Angriff bewertet und zur Herausforderung für aggressive Übergriffe interpretiert werden. Diese Übergriffe stehen häufig in keinem Verhältnis zum Anlaß (vgl. Bründel / Hurrelmann 1994, S.260). Sanktionen auf derartiges aggressives Verhalten durch Erwachsene (Lehrer, Eltern, etc.) führen nicht selten zu Gefühlen von ungerechter Behandlung, Kränkung und häufig zu erneuter Aggression.

Weidner verweist in diesem Zusammenhang und vor dem Hintergrund der Begriffe Ideal- und RealselbstIII auf die Verstärkung und Verfestigung eines negativen Selbstbildes bis hin zur Pflege eines Negativ-Images (vgl. Weidner 1997a, S.149).

Heilemann betont, unter Berücksichtigung der geschlechtspezifischen Perspektive, daß sich bei Jungen und Männern aus der Differenz zwischen „Idealselbst (männlichem Anspruch) und Realselbst (meine heutige persönliche Situation)“ häufig „eine extrem hohe Frustrationsbereitschaft und ein hohes Frustrationsaufkommen“ ergeben, welche wiederum schnell zu aggressivem Verhalten führen. „Jede kleine Zurückweisung oder Kränkung (...) führt zu einer tiefen Verletzung, die nach Kompensation (Gewaltanwendung) schreit“. (Heilemann, in: Wieden 1995, S.7)

3.2. Gesellschaftliche Bedingungen und soziologische

Erklärungsansätze

Die soziologischen Theorien betrachten die Merkmale von sozialen Gruppen und der Gesellschaft, die Aggressionen und Gewalt bei Kindern hervorbringen können (vgl. Bründel / Hurrelmann 1994, S.267).

„Gesellschaftliche Dinge entziehen sich immer vereinfachenden Formulierungen“ (Galtung 1984) und Betrachtungen gesellschaftlicher Hintergründe und Ursachen in konzentrierter Form laufen Gefahr wesentliche Aspekte nicht berücksichtigen zu können. Dies gilt sicher auch für die Betrachtung gesellschaftlichen Bedingungen und Ursachen für gewalttätiges und kriminelles (also abweichendes) Verhalten. Dennoch möchte ich, zur Verdeutlichung der Problematik, auf einige gewalt- und aggressionsfördernde Aspekte kurz eingehen.

3.2.1. „Risikogesellschaft“ und „Soziale Desintegration“

Die frühere – wenn auch vielfach beklagte – Stabilität gesellschaftlicher Verhältnisse löst sich mehr und mehr auf. Durch den Wegfall des Konkurrenzmodells des Sozialismus, die Öffnung der Grenzen und die Globalisierung insbesondere von Handels- und Informationsbeziehungen besteht die Gefahr, daß die soziale Seite der Marktwirtschaft immer mehr abgebaut wird und sich der „Kapitalismus pur“ zunehmend durchsetzt. Der einzig potente „Gegner des Kapitalismus ist – der Nur-noch-Gewinn- Kapitalismus selbst“. (Beck 1996, S.140 ff.) Die Konzentration des Kapitals bei einer verschwindend geringen Minderheit, die permanente Orientierung an Gewinnmaximierung, die rasanten Produktivitäts- und Gewinnsteigerungen mit der Folge des massenhaften Abbaus von Arbeitsplätzen – all dies sind deutliche Zeichen von grundlegend veränderten wirtschaftspolitischen Bedingungen. Diese wiederum haben massive sozio-ökonomische Veränderungen zur Folge.

Dieser rapide soziale Wandel wird begleitet und forciert durch den Umbau der Industriegesellschaft in eine Dienstleistungs- und Informationsgesellschaft, der zu weiterem Rationalisierungsdruck und zu ständig steigenden Ansprüchen an Ausbildung, Anpassungsfähigkeit, Verfügbarkeit von Wissen und zu „spezialisierter Teilqualifikation auf Kosten (einer) allseitiger Persönlichkeitsentwicklung führt“ ( Weber 1965 zit. n. Biermann, in: Biermann et al. 1994, S.49).

Der globale Kapitalismus in den hochentwickelten Ländern ist dabei, den „Wertekern der Arbeitsgesellschaft“ aufzulösen und somit ein „historisches Bündnis zwischen Kapitalismus, Sozialstaat und Demokratie“ (Beck 1996, S.142) zu zerbrechen.

Die Produkte dieses globalen Kapitalismus sind Entsolidarisierung, Pluralisierung und Individualisierung der Gesellschaft. Produkte, die sich wiederum auf sämtliche Lebensbereiche (Arbeit, Wohnung und Wohnumfeld, Eltern- Kind- Beziehung) auswirken, auf die hier im einzelnen nicht eingegangen werden soll.

Das Individuum wird zunehmend stärker zur zentralen Instanz der eigenen Lebensgestaltung, wobei das Leben als „Projekt“ selbständig und verantwortungsvoll zu entwerfen ist. Entscheidungsfreiheiten nehmen zu (alles ist erlaubt, was nicht ausdrücklich verboten ist) und individuelle Lebenslagen driften auseinander. Mit der Zunahme der Wahlmöglichkeiten wächst der Entscheidungsdruck, die Verhaltenssicherheit reduziert sich (vgl. Doehlemann, in: Biermann et al. 1994, S.8). Stützende soziale Systeme zerfallen, die Sicherheit dauerhafter und verläßlicher familiärer und sozialer Bindungen fehlt: In dieser Realität

„...muß der einzelne (...) bei Strafe seiner permanenten Benachteiligung lernen, sich selbst als

Handlungszentrum, als Planungsbüro in bezug auf seinen eigenen Lebenslauf, seine Fähigkeiten, Orientierungen, Partnerschaften usw. zu begreifen (...). Dies bedeutet, daß (...) für die Zwecke des eigenen Überlebens ein ich- zentriertes Weltbild entwickelt werden muß, daß das Verhältnis von Ich und Gesellschaft sozusagen auf den Kopf stellt und für die Zwecke der individuellen Lebensgestaltung handhabbar denkt und macht“. (Beck 1986, S.217 f.)

Zurückgeworfensein auf sich selbst und das unmittelbare soziale Umfeld sowie Selbstorganisation und Selbststeuerung sind somit auch zu zentralen Merkmalen der Biographie von heute aufwachsenden Kindern und Jugendlichen geworden. Besondere Bedeutung fällt dabei den individuellen Fähigkeiten zu, mit denen Kinder und Jugendliche versuchen (müssen) auf den „leistungsbezogenen Außendruck“ zu reagieren und sich, entsprechend der kultur- und schichtspezifischen Werte und Normen, mit Lebensanforderungen, Entwicklungsaufgaben und Belastungssituationen auseinanderzusetzen (vgl. Hurrelmann / Rixius / Schirp 1999, S.13). Nach Hurrelmann / Rixius / Schirp entscheidet der individuelle Stil der Verarbeitung und Bewältigung von Lebensanforderungen darüber, wie effektiv Jugendliche mit Risikokonstellationen umgehen und wie aktiv sie sich um die Gestaltung der Situation zu ihren Gunsten bemühen.

[...]

Ende der Leseprobe aus 83 Seiten

Details

Titel
Das Anti-Aggressivitäts-Training als Impulsgeber für neue Lernformen an Schulen?
Hochschule
Frankfurt University of Applied Sciences, ehem. Fachhochschule Frankfurt am Main  (Fachbereich Sozialarbeit)
Note
sehr gut
Autor
Jahr
2001
Seiten
83
Katalognummer
V9728
ISBN (eBook)
9783638163521
ISBN (Buch)
9783638697811
Dateigröße
686 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Schlagworte
Gewalt, Kinder- und Jugendgewalt, Gewaltprävention, Anti-Aggressivitäts-Training, Coolness-Training, Schulsozialarbeit
Arbeit zitieren
Raik Lößnitz (Autor:in), 2001, Das Anti-Aggressivitäts-Training als Impulsgeber für neue Lernformen an Schulen?, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/9728

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