Vollstreckungsrechtliche Fragestellungen bei Betäubungsmittel-Abhängigen (§ 35 BtMG)


Seminararbeit, 2018

31 Seiten, Note: 13,0

Anonym


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

A. Themeneinführung und Problemdarstellung

B. Hauptteil
I. Sinn und Zweck des § 35 BtMG
1. Rehabilitationsziel
2. Adressatenkreis
3. Strafbedürfnis
II. Die Betäubungsmittelabhängigkeit
1. Definition
2. Psychische und Physische Abhängigkeit
3. Zwischen BtM-Konsum und BtM-Abhängigkeit
4. Abhängigkeitsarten
a. Cannabisabhängigkeit
b. Medikamentenabhängigkeit
c. Alkoholabhängigkeit
d. Polytoxikomanie
e. §35 BtMG und der Gleichbehandlungsgrundsatz
5. Zeitpunkt der Abhängigkeit
III. Kausalität zwischen BtM-Abhängigkeit und Straftat
1. Grundsätzliche Voraussetzungen
2. Kausalität bei Verstößen gegen das BtMG
3. Einzelfalle
a. Verkehrsdelikte
b. Gewalt- und Sexualdelikte
c. Kausalitätbei Gesamtfreiheitsstrafen
IV. Nachweis von der BtM-Abhängigkeit und Kausalität
1. Nachweis aus den Urteilsgründen
2. SonstigeFeststellungen
3. Abweichen von Urteilsgründen
V. Weitere Voraussetzungen des §35 BtMG
1. Einer der Rehabilitation dienenden Behandlung
2. Therapiebereitschaft
3. Gewährleistung des Therapiebeginns
VI. Weitere Vollstreckung nach Therapieabschluss, § 36 BtMG

C. Fazit

Literaturverzeichnis

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

A. Themeneinführung und Problemdarstellung

Die jährliche Polizeiliche Statistik des Bundeskriminalamts umfasste zuletzt eine Anzahl von 330.580 Rauschgiftdelikten für das Jahr 2017.1 Mittlerweile sitzen mehr als die Hälfte der Verurteilten aufgrund von Verstößen gegen das Betäubungsmittelgesetzt in Haft.2 Mehr als zwei Drittel der Verstöße belaufen sich dabei auf konsumnahe Delikte, die vor allem den Besitz, Anbau, Erwerb sowie Abgabe und Handel mit BtM umfassen.3 Die Statistik macht deutlich: Bei der Mehrzahl der Strafgefangenen wegen Verstößen gegen das BtM- Gesetz handelt es sich regelmäßig um Drogenkonsumenten und abhängige Kleinhändler.4 Hinsichtlich einer effektiven Bekämpfung der Betäubungsmittelkriminalität muss konsequenterweise also an diesen Umstand angeknüpft werden - an die BtM-Abhängigkeit. Eine wirksame Therapierung der Suchtkranken ist dafür unerlässlich. Die Erkenntnis, dass im Rahmen des Strafvollzugs selbst eine erfolgreiche Therapie aufgrund der Haftbedingungen kaum möglich ist, bewegte den Gesetzgeber 1982 letztendlich dazu, die § 35 ff. BtMG des 7. Abschnitts in das BtMG einzuführen.5 Durch diese Vorschriften soll straffälligen Betäubungsmittelabhängigen die Möglichkeit einer Behandlung ihrer Suchterkrankung außerhalb des Strafvollzugs gewährt werden.6 Dies erfolgt durch eine Zurückstellung der Strafvollstreckung, die in § 35 BtMG geregelt ist.

Wichtigste Voraussetzung für diese Privilegierung ist, dass der Betroffene eine Straftat aufgrund einer Betäubungsmittelabhängigkeit begangen hat. Abhängigkeit und Kausalität zur Straftat bilden also die prägenden Merkmale, die auf den Verurteilten zutreffen müssen. Eine entsprechende Abhängigkeit liegt dabei nur vor, wenn der Drogenkonsument ein komplexes Konstrukt aus verschiedenen Anforderungen erfüllt. Die Feststellung einer Suchterkrankung und die davon ausgehende Kausalität zur Straftat im Rahmen des § 35 BtMG kann sich aufgrund der verschiedensten Hintergründe und Umstände, die jeder Drogenabhängiger aufzeigt, dabei oft schwierig gestalten. Handelt es sich aber tatsächlich um eine Abhängigkeit, so bleibt eine grundsätzliche Frage offen: Wieso soll ein Suchtkranker, der Straftaten begangen hat und zu angemessenen Strafen verurteilt wurde, überhaupt eine solche Privilegierung erfahren? Schließlich kann er dadurch den Vollzug seiner Freiheitsstrafe zurückstellen, um eine Therapie außerhalb der Haft zu machen, die er grundsätzlich auch nach vollendetem Strafvollzug antreten könnte. Infolge der Einführung der §§ 35 ff. BtMG hat deshalb die Devise „Therapie statt Strafe“ allgemeine Verbreitung gefunden, die die fragwürdige Prämisse zu enthalten scheint, dass Therapie die Sanktionierung eines Straftäters wortwörtlich ersetzen könne.7 Gegenstand dieser Seminararbeit ist es daher, die Zurückstellung der Strafvollstreckung nach § 35 BtMG zunächst hinsichtlich ihres Sinn und Zwecks darzustellen. Weiter sollen vor diesem Hintergrund die Voraussetzungen der Zurückstellung, insbesondere die Abhängigkeit der Verurteilten in Verbindung mit dem Kausalitätserfordernis des § 35 BtMG, in Bezug auf die damit verbundene Problematik in der Praxis erörtert werden.

B. Hauptteil

I. Sinn und Zweck des § 35 BtMG

Dass es sich bei der Zurückstellung um eine Privilegierung drogenabhängiger Straftäter handelt, konnte bereits festgestellt werden. Der anfangs erwähnte Grundsatz „Therapie statt Strafe“, scheint dabei die zweifelhafte Annahme zu enthalten, dass zugunsten einer Drogentherapie von der eigentlichen Verhängung einer Strafe abgesehen werden könne. Dass diese Konsequenz nicht im Sinne des Gesetzgebers gewesen sein kann, ist offensichtlich. Dennoch bedarf die Einführung dieser Privilegierung einer standfesten Rechtfertigung.

1. Rehabilitationsziel

Der Ermöglichung einer Drogentherapie außerhalb des Strafvollzugs liegt eine wesentliche Erkenntnis des Gesetzgebers zugrunde: Hinsichtlich einer effektiven Bekämpfung der Betäubungsmittelkriminalität darf nicht nur die Verfolgung und Sanktionierung entsprechender Straftaten im Vordergrund stehen. Vielmehr kann nur die tatsächliche Resozialisierung eines drogenabhängigen Straftäters zu einer wirksamen Verbrechensprophylaxe führen.8 In sofern soll die Betäubungsmittelabhängigkeit auch aus einer gesellschaftskritischen Perspektive betrachtet werden.9 Dem abhängigen Straftäter mit dem §35 BtMG eine wirkliche Heilungsmöglichkeit zu bieten, stellt somit eine Kompromisslösung zwischen Strafverfolgung und Resozialisierung dar.10 Dies bildet das allgemeine Rehabilitationsziel der Vorschrift.

2. Adressatenkreis

Der Rechtsanspruch auf Zurückstellung zugunsten einer Therapie sollte dabei allerdingsnichtjedembetäubungsmittelabhängigen Straftäterzustehen. Vielmehr entspricht es der Vorstellung des Gesetzgebers, dass nur derjenige eine Therapie erfolgreich abschließen könnte, der auch bereit ist, an der Behandlung seiner Sucht selbst mitzuwirken und sich freiwillig der Therapie unterzieht.11 Durch was genau die nötige Motivation bei verurteilten Straftätern angeregt werden soll, wird deutlich, wenn man sich den §36 BtMG vor Augen führt. Dieser regelt, welche vollstreckungsrechtlichen Maßnahmen den Verurteilten nach einer erfolgten Zurückstellung und Therapie erwarten. § 36 BtMG sieht nämlich nicht nur vor, dass die Zeit, die in der Therapie verbracht wurde, auf die noch zu vollstreckende Strafe angerechnet wird, die Vorschrift gewährt darüber hinaus die Möglichkeit, den Strafrest unter gewissen Voraussetzungen auf Bewährung auszusetzen.12 Beides bedeutet letztendlich eine Verkürzung der Haft und somit Aussicht auf vorzeitige Freiheit für den Täter.13 Andererseits soll dem Verurteilten klar gemacht werden, dass bei fehlender Therapiebereitschaft die Verbüßung der Freiheitsstrafe unumgänglich ist.14 Den Abhängigen für seine mitwirkende Bereitschaft zu belohnen, wird dabei vor allem damit gerechtfertigt, dass die Therapierung seiner Sucht keine erholsame Alternative zur Haft darstellt. Vielmehr erwartet ihn ein langwieriger Prozess, der unvermeidbare Rückfälle und entsprechende therapeutische Verarbeitung mit sich zieht.15 Drogenabhängigen, die freiwillig zu der schwierigen Überwindung ihrer Sucht bereit sind und an ihrer Rehabilitation bewusst mitarbeiten wollen, soll die Privilegierung des § 35 BtMG deshalb gewährt werden.

3. Strafbedürfnis

Auf die Verhängung einer Strafe im Rahmen des §35 BtMG wird somit keineswegs verzichtet. Stattdessen wird der Druck der drohenden Verbüßung einer bereits verhängten Strafe genutzt, um die Therapiebereitschaft des Verurteilten zu fördern. Der Grundsatz „Therapie statt Strafe“ verfehlt hier also gänzlich den Rehabilitationsgedanken des § 35 BtMG. Stattdessen kommt ein Grundsatz mit der Devise „Therapie und Strafe“ oder „Therapie statt Strafvollzug“ der Regelung des § 35 BtMG und seinem Sinn und Zweck schon viel näher.16

II. Die Betäubungsmittelabhängigkeit

§35 BtMG setzt materiell zunächst voraus, dass jemand aufgrund einer begangenen Straftat zu einer Freiheitsstrafe von unter 2 Jahren rechtskräftig verurteilt wurde, die er aufgrund einer Betäubungsmittelabhängigkeit begangen hat. Primäre Voraussetzung für eine Zurückstellung der Strafvollstreckung nach § 35 BtMG ist also die behandlungsbedürftige Betäubungsmittelabhängigkeit des Verurteilten.

1. Definition

Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) definiert Drogensucht als „psychischen und zuweilen auch physischen Zustand, der sich aus der Wechselwirkung zwischen einem lebendigen Organismus und einer Droge ergibt und sich äußert im Verhalten und in anderen Reaktionen, die stets den Zwang einschließen, die Droge dauernd oder in Abständen zu nehmen, um deren psychische Wirkungen zu erleben und das durch ihr Fehlen mitunter auftretende Unbehagen zu vermeiden“17 Daraus formulierte die WHO im Einzelnen die folgenden, international anerkannte Kriterien für das Vorliegen einer Drogenabhängigkeit:

- Ein unbezwingbares Verlangen nach der Droge
- Kontrollschwierigkeiten bzgl. Beginn, Beendigung, Menge des Konsums
- Die seelische und/oder körperliche Abhängigkeit von der Wirkung
- Eine Tendenz zur Dosierungssteigerung
- Konsum wird zum Lebensmittelpunkt; andere Verpflichtungen, Aktivitäten und Interessen werden vernachlässigt
- Eintretende gesundheitliche Folgen für das Individuum bei fortdauernder Einnahme der Droge wider besseren Wissens18

Die unterschiedlichen Betäubungsmittel, von denen ein Straftäter abhängig sein kann, werden dabei in verschiedene Abhängigkeitstypen kategorisiert. Es wird differenziert zwischen dem Morphin-Typ, dem Barbiturat/Alkohol- Typ, den Kokain-Typ, dem Cannabis-Typ, den Amphetamin-Typ, dem Kath- Typ, dem Halluzinogen-Typ (LSD) sowie dem spezifischen Opiat-Antago- nist-Typ.19

2. Psychische und Physische Abhängigkeit

Eine Betäubungsmittelabhängigkeit kann sich sowohl psychisch als auch physisch äußern. Körperliche (physische) Abhängigkeit liegt vor, wenn beim Absetzen einer Droge Entzugserscheinungen auftreten, die Anlass zur erneuten Drogeneinnahme geben.20 Seelische (psychische) Abhängigkeit hingegen äußert sich in einem Zustand der seelischen Zufriedenheit bei zeitweiser oder dauerhaften Einnahme der Droge, sodass Glücksgefühle hervorrufen oder Unbehagen vermieden wird.21 Seelische und körperliche Abhängigkeit können bei einem Suchtkranken gleichzeitig vorliegen. Folgendes ist jedoch in Betracht zu ziehen: Eine physische Abhängigkeit kann infolge einer körperlichen Entgiftung nach der Teilnahme an einem Therapieprogramm zwarbewältigt werden. Die psychische Abhängigkeit kann daneben aber weiter fortbesteht und den Betroffenen erneut zu Drogendelikten wie der illegalen Beschaffung antreiben.22 Aus diesem Grund genügt für die Abhängigkeit im Sinne des §35 BtMG das Vorliegen einer psychischen Abhängigkeit.23

3. Zwischen BtM-Konsum und BtM-Abhängigkeit

Die Übergänge von Drogenkonsum über Drogenmissbrauch zur Drogenabhängigkeit sind fließend.24 Gelegentlicher Betäubungsmittelkonsum sowie regelmäßiger Betäubungsmittelmissbrauch - also die nicht medizinisch indizierte Drogenaufnahme, ohne bereits abhängig zu sein25 - lassen noch nicht auf eine Betäubungsmittelabhängigkeit und entsprechende Behandlungsbedürftigkeit schließen.26 Abzuwarten, bis die Sucht einen ganz besonders schweren Grad erreicht hat, um die Abhängigkeit mit Sicherheit von bloßem Betäubungsmittelmissbrauch abgrenzen zu können, geht dabei sicherlich zu weit und kann vor dem Resozialisierungsgedanken des § 35 BtMG nicht bestehen. Dennoch muss die Behandlungsbedürftigkeit tatsächlich feststehen.27 Eine Betäubungsmittelabhängigkeit im Sinne des § 35 BtMG setzt dabei aber keinen langjährigen Drogenmissbrauch voraus28, ebenso wenig ist erforderlich, dass die Sucht bereits zu Persönlichkeitsveränderungen führt und eine erheblich verminderten Schuldfähigkeit des Abhängigen für seine Straftaten gemäß § 21 StGB begründet.29 Maßgebendes Kriterium wird stattdessen regelmäßig die Frage sein, ob der Verurteilte unter Berücksichtigung seiner individuellen Umstände einer Unterstützung durch Therapie bedarf, um seinem Drogenverlangen dauerhaft entgegenzuwirken oder eine solche nicht notwendig ist.30

4. Abhängigkeitsarten

§35 BtMG setzt keine Abhängigkeit von ausgewählten Betäubungsmitteln voraus, vielmehr muss sie sich auf ein oder mehrere illegale Betäubungsmittel beziehen, die in den Anlagen I bis III zum BtMG genannt sind.31 Im Folgenden werden entsprechende Problemfälle aufgezeigt und erörtert, die sich bezüglich einiger Betäubungsmittel ergeben.

a. Cannabisabhängigkeit

Da im Rahmen des § 35 BtMG nicht zwischen bestimmten Betäubungsmitteln der Anlagen I bis III differenziert wird, ist auch eine Unterscheidung zwischen „harten“ und „weichen“ Drogen hinsichtlich ihrer Gefährlichkeit grundsätzlich hinfällig.32 Insofern kann nicht nur eine Opiatabhängigkeit, sondern auch eine Abhängigkeit von Cannabis die Zurückstellung nach § 35 BtMG rechtfertigen.33

Der regelmäßige, begrenzte Konsum von „weichen“ Drogen wie Haschisch oder Marihuana, die auch als Alltagsdrogen bekannt sind, kann dabei erst einmal nicht ausreichen, um eine behandlungsbedürftige Cannabisabhängigkeit zu begründen.34 Zu beachten ist jedoch, dass die Droge Cannabis einige Besonderheiten hat. So besteht weitgehend Übereinstimmung darüber, dass eine physische Abhängigkeit mit körperlichen Erscheinungen durch die Einnahme von Cannabis kaum hervorgerufen werden kann.35 Auch treten weder unmittelbare gesundheitliche Schäden durch Cannabis beim Konsumenten in Erscheinung, noch besteht bei Cannabisabhängigen eine auffällige Tendenz zur Dosierungssteigerung.36 Diese Umstände scheinen zunächst alle den allgemeinen Kriterien der WHO hinsichtlich einer Abhängigkeit zuwiderlaufen. Allerdings wurde zuvor festgestellt, dass eine seelische und körperliche Abhängigkeit nicht gleichzeitig beim Betroffenen vorliegen müssen, sondern psychische Abhängigkeit für die Anwendung des § 35 BtMG ausreichend ist. Hinsichtlich des Cannabiskonsums entfaltet diese Unterscheidung praktische Relevanz: Würden beide Abhängigkeiten verlangt werden, könnten Cannabiskonsumenten fast nie die Vorteile der § 35 ff. BtMG zugutekommen, weil regemäßig keine physische Abhängigkeit von Cannabis entsteht.37 Trotz dessen kann der dauerhafte Konsum von Cannabis bei den Betroffenen zu psychischen Abhängigkeitssymptomen führen, die sich beispielsweise in Verhaltensstörungen wie Gleichgültigkeit, Ängsten, Schläfrigkeit oder gar Realitätsverlust äußern können und vor allem die Persönlichkeitsentwicklung von jugendlichen Abhängigen erheblich beeinflussen.38 Hinzu tritt, dass die Gefahr einer späteren Schizophrenieerkrankung bei Cannabiskonsumenten 6- mal höher ist, insbesondere wenn der Betroffenen bereits als Jugendlicher mit dem regelmäßigem Missbrauch angefangen hat.39 Gleichzeitig sind zwar unmittelbare gesundheitliche Schäden untypisch bei Cannabiskonsumenten, allerdings ist zu bedenken, dass jeder Stoff, der in den Stoffwechsel der Gehirnzellen eingreift, nicht ungefährlich sein kann und mögliche körperliche, kaum abschätzbare Langzeitschäden mit sich zieht.40 Diese könnten sich nach bisherigem Wissensstand nicht nur in Herz-Kreislauf-Störungen oder Leberschäden äußern, sondern infolge der andauernden Einnahme durch das Rauchen auch zu chronischen Schädigungen der Atemwege wie Asthma führen.41 Insgesamt verdeutlichen diese Gefahren, dass der Dauermissbrauch von Cannabis ohne körperliche Abhängigkeit dennoch eine behandlungsbedürftige Abhängigkeit der Betroffenen begründen kann, die die Anwendung des § 35 BtMG ermöglicht.42 Zieht man also die Kriterien einer Suchterkrankung nach der WHO heran, ist an dieser Stelle festzuhalten, dass bei der Beurteilung einer Abhängigkeit von Cannabis die Kriterien der körperlicher Abhängigkeit, die Toleranzbildung sowie unmittelbare Gesundheitsschäden eine wesentlich kleinere Rolle spielen, als bei anderen Drogen. Damit wird der Kriterienkatalog der WHO bei einer Abhängigkeit von Cannabis in gewisser Hinsicht erleichtert. Am Beispiel Cannabis wirdjedoch deutlich, dass die unterschiedlichen Substanzen, die eine Abhängigkeit verursachen können, jeweils individuell hinsichtlich ihrer verschiedenen Wirkungsweisen, Wirkungen und Gefahren zu betrachten sind. Dann kann unter Berücksichtigung der allgemeinen Kriterien das Vorliegen einer Abhängigkeit angemessen beurteilt werden. Insofern können die Kriterien der WHO keine strengen Voraussetzungen darstellen, sondern nur einen grundsätzlichen Rahmen zur Beurteilung einer Abhängigkeit stellen. Nur eine solche Beurteilung der behandlungsbedürftigen Abhängigkeit kann dem Rehabilitationsziel des § 35 BtMG gerecht werden.

b. Medikamentenabhangigkeit

Grundsätzlich muss es sich bei der Substanz, von der der Betroffene abhängig ist, um ein in den Anlagen I bis III zum BtMG genannten Betäubungsmitteln handeln. Ist das konsumierte Mittel nicht selbst, wohl aber der im Mittel enthalte Wirkstoff in den genannten Anlagen aufgelistet, wird eine Abhängigkeit im Sinne des § 35 BtMG dennoch angenommen. Grund dafür ist, dass es für die Behandlungsbedürftigkeit einer Person nicht darauf ankommen kann, in welcher Form die Substanz aufgenommen wurde, die letztendlich zur Abhängigkeit geführt hat.43

Auch Arzneimittel als Konsummittel mit solchen Wirkstoffen werden in der Anlage III zum BtMG genannt. Allerdings handelt es sich dabei um verkehrsfähige, verschreibungsfähige Substanzen, die zwar grundsätzlich Betäubungsmittel darstellen, in bestimmten, ausgenommenen Zubereitungen aber über ein gewöhnliches Rezept an Stelle eines Betäubungsmittelrezepts verschrieben werden können.44 Auf solche Zubereitungen finden die betäubungsmittelrechtlichen Vorschriften keine Anwendung. Hintergrund ist die Systematik des BtMG, wonach nur die als solche in den Anlagen I bis III aufgeführten Stoffe und Zubereitungen als Betäubungsmittel im Sinne des Gesetzes gelten sollen, um Rechtssicherheit und Klarheit schaffen zu können. Insoweit sei eine weitgehendere Ausdehnung des Anwendungsbereichs der § 35 ff. BtMG weder zulässig noch im Interesse des Gesetzgebers.45 Etwas anderes gilt nur, wenn das Gesetz selbst eine Rückausnahme für eine der ausgenommenen Zubereitungen wie z.B. DHC-Saft (Dihydrocodein) enthält.46 Hier weist das Gesetz ausdrücklich daraufhin, dass für ausgenommene Zubereitungen von DHC, die für betäubungsmittel- oder alkoholabhängige Personen verschrieben werden, die Vorschriften des BtMG gelten. Darüber hinaus ermöglicht eine Abhängigkeit von Medikamenten jedoch keine Zurückstellung der Strafvollstreckung zugunsten einer Therapie.

[...]


1 Bundeslagebild 2017, S. 5

2 Bockemühl/Wächtler, Kap. 19 Rn. 17

3 Bundeslagebild 2017, S. 28; Bundeslagebild 2015, S. 3

4 KIP/V/Patzak, § 35 BtMG Rn. 1

5 Vgl. BT-Drs. 8/4283,6 f.

6 MüKo/Kornprobst, §35 BtMG Rn. 1

7 Tröndle, MDR 1982, S. 1 (1)

8 Malek, Kap. 5 Rn. 1

9 K/P/V/Patzak § 35 BtMG Rn. 25

10 MüKo/Kornprobst § 35 BtMG Rn. 2

11 BT-Drs. 8/4283 S. 6

12 Näheres zu § 36 und seinen Voraussetzungen folgt später

13 uMalek, Kap. 5 Rn. 1; Schöfberger, NStZ 2005, 441 (441)

14 BT-Drs. 8/4283 S. 6

15 Kreuzer, NJW 1989, 1505 (1510)

16 MüKo/Kornprobst, § 35 BtMG Rn. 3; Pollähne, StV 2017, 337 (337 f.)

17 Zitat nach Joachimski/Haumer, § 1 Rn. 42

18 WHO, Producing Drugs, 13th Report, S. 9 f.; WHO, ICD-10-Diagnostic guidelines

19 Theune, NStZ 1997, 57 (57)

20 K/P IHIPatzak, § 35 BtMG Rn. 61

21 K/P/V/Patzak, § 35 BtMG Rn. 62

22 Körner, NStZ 1992, 216 (217)

23 OLG Stuttgart, MDR 1989, 85; Weber, § 35 BtMG Rn. 24

24 Vordermayer IKunz, Kap.3 Rn. 249

25 K/P/V/Patzak, § 35 BtMG Rn. 63

26 OLG Hamm, BeckRS 2013

27 BeckOK StPO/Ganter, § 35 BtMG Rn. 9

28 Malek, Kap. 5 Rn. 21

29 BGH NStZ 1989, 17; Theune, NStZ 1997, 57 (60)

30 MüKo/Kornprobst §,35 BtMG Rn. 39

31 Körner, NStZ 1998, 227 (229); K/P/V/Patzak, § 36 BtMG Rn. 66

32 Weber, § 35 BtMG Rn. 27

33 NStE Nr. 6zu §35 BtMG

34 Weber, §35 BtMG, Rn. 28

35 BVerfG, NJW 1994, 1577 (1580 ff.); K/P/V/Patzak, § 35 BtMG, Rn. 67

36 Geschwinde, Rn. 262-266; 370

37 NStE Nr. 6zu §35 BtMG

38 BVerfG, NJW 1994, 1577 (1580)

39 Geschwinde, Rn. 415

40 Geschwinde, Rn. 406 f.

41 Geschwinde, Rn. 408

42 Vgl. BGH, NStZ 1993, 339 (339); NStE Nr. 6zu §35 BtMG

43 Malek, Kap. 5 Rn. 22

44 Vgl. Anlage III zum BtMG

45 Hamm NStZ-RR 2004, 123; MüKo/Kornprobst, § 35 BtMG, Rn. 41

46 OLG Karlsruhe StV 1998, 672; OLG Koblenz BeckRS 2010, 06697

Ende der Leseprobe aus 31 Seiten

Details

Titel
Vollstreckungsrechtliche Fragestellungen bei Betäubungsmittel-Abhängigen (§ 35 BtMG)
Hochschule
Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main
Note
13,0
Jahr
2018
Seiten
31
Katalognummer
V974095
ISBN (eBook)
9783346327437
ISBN (Buch)
9783346327444
Sprache
Deutsch
Schlagworte
vollstreckungsrechtliche, fragestellungen, betäubungsmittel-abhängigen, btmg
Arbeit zitieren
Anonym, 2018, Vollstreckungsrechtliche Fragestellungen bei Betäubungsmittel-Abhängigen (§ 35 BtMG), München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/974095

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