Medea - Zur Adaption eines mythologischen Topos in den Dramen Hans Henny Jahnns und Heiner Müllers


Seminararbeit, 2000

26 Seiten


Leseprobe


I Einleitung

Es ist eine ebenso simple wie bemerkenswerte Tatsache, daß der Mensch heute, als Gesellschaftswesen der (Spät-)Moderne, nach wie vor im Bannkreis der mythologischen, vornehmlich in der griechischen Antike wurzelnden Überlieferung steht. Die alten Fabeln haben in vielfacher Gastalt und Ausdeutung Eingang in die Literatur gefunden, das Interesse an ihnen scheint ungebrochen. Freuds ,Ödipus` ist im Zuge der Diskussion und Präzisierung seiner Theorie zu einem gesunkenen Kulturgut1 geworden und als solches auch dem Laien ein Begriff. Noch in der sprichwörtlichen Wendung vom ,panischen Schrecken` zeigt sich die fortdauernde Wirkung der urzeitlichen Kosmologie.

Die Geschichte der Medea, als Teil des Geschehens um den mythischen Seefahrer und Eroberer Jason, ist ein immer wiederkehrendes Motiv der europäischen Literaturgeschichte seit fast zweieinhalbtausend Jahren. Zwei aktuelle Gestaltungen dieses Motivs sollen Gegenstand der Untersuchung sein: die Medea-Tragödie von Hans Henny Jahnn aus dem Jahr 1926 und ein Text, der vielleicht nur in Teilen dem dramatischen Genre zugerechnet werden kann - Heiner Müllers Stück »Verkommenes Ufer Medeamaterial Landschaft mit Argonauten«. Das Stück kam 1982 zur Drucklegung, ist also ohne Zweifel Gegenwartsliteratur. Was bewegt moderne Autoren zum Rückgriff auf Geschichten, die nicht einmal dem Anspruch genügen, tatsachengenau, verbürgte Geschehnisse zu sein? Die schon zur Blütezeit der antiken Polis in den Verruf der Lüge gerieten2, der phantastischen Projektion, wie es heute heißt? Zur literaturwissenschaftlichen Definition der Sage gehört, daß sie als Ereignis Fiktion, in geographischen und ergonomischen Details jedoch stimmig ist - wäre das Interesse der Zeitgenossen vom Wohlgefallen an den Phantastereien ihrer Vorfahren oder schlicht am Lokalkolorit bestimmt? Das alles ist möglich, für die ganannten Autoren aber nicht ganz richtig. Denn die Entscheidung beider zugunsten des mythologischen Themas gilt nicht dem Phantastischen oder Abgelebten, sondern seiner beunruhigenden Gegenwart. Der Aufsatz möchte einen Beweis für diese Behauptung liefern. Zunächst soll ein Begriff des Mythos gegeben und eine Erklärung gewagt werden, warum er sowohl für die Kunst wie in der Wissenschaft einen dauerhaft hohen Kurswert besitzt.

II Gebrauchsweisen des Mythos

Bei der Suche nach einem Begriff des Mythos stößt man zwangsläufig auf zwei extreme Zugriffsweisen, die ihn einmal konkret, ein andermal abstrakt fassen. Zwischen den beiden Polen, die den Mythos mit Roland Barthes ,,als semiologisches System"3 und mit dem Religionswissenschaftler Klaus Heinrich ,,als Göttergeschichte"4 definieren, eröffnet sich freilich ein weites Feld möglicher Ausdeutungen. Barthes schreibt: ,,der Mythos ist eine Aussage", und präzisiert sogleich, daß er nicht ,,irgend eine beliebige Aussage", sondern eine spezifische ,,Weise des Bedeutens"5 ist. Die Wissenschaften, die sich unter dem Dach der Semiologie zusammengefunden haben, ,,begnügen sich nicht damit, das Faktum zu treffen: sie definieren und erforschen es als ein als etwas Geltendes."6 Dannach ist der Mythos im Prinzip nichts anderes als eine mit suggestiver Bedeutung aufgeladene Aussage, wir sind jederzeit von selbstproduzierten und reproduzierten Mythen umstellt. Nicht nur die diskursive Schrift, jedes beliebige Medium - die Photographie, der Film, Schauspiele, Reklame - kann Träger der mythischen Aussage sein, jedes und alles kann Mythos werden. Die Semiologie bestimmt lediglich formale Grenzen, für deren Explikation hier allerdings kein Raum ist. Jean Pouillon rekurriert auf eine Art flexibles Gebrauchsgut, wenn er meint, ,,daß man nicht nur aus dem Mythos Geschichte machen kann [...], sondern daß auch das Umgekehrte möglich ist, nämlich aus der Geschichte einen Mythos zu machen."7 Die Rede des Politikers, sofern sie nicht offensichtlich Lügen verbreitet, ist schon dann eine mythologische, wenn sie spezifisch gewichtet und durch Auslassungen bestimmt ist. Sie muß nicht einmal Tatsachen entstellen oder absolute Geltung beanspruchen wollen. Dem Mythos reicht eine relative Geltung, er ist eine Zweckform, sein überragender Wert ist, ,,nicht widerlegt werden [zu können], er wird angenommen oder abgelehnt."8 Wenn seine Diskursmacht ein gewolltes Ziel zu erreichen half, hat er seinen Zweck erfüllt.

Der Mythos ist also nicht nur eine Form, er hat auch eine Funktion. Von der zeitgemäßen politischen kann man die historisch- oder ethnologisch-religöse unterscheiden. In diesem Zusammenhang wird die Begriffsbestimmung Klaus Heinrichs, die sich mit der des Dudens und des common sense deckt, interessant. ,,Göttergeschichte" meint hier vor allem Theogonie, das heißt die ,,mythische Lehre o. Vorstellung von der Entstehung und Abstammung der Götter"9. Die Abstammungslehre, die ,,Genealogie im Mythos ist die zentrale Funktion des Mythos."10 Zwar existiert der Götterkosmos im Glauben der archaischen Griechen zeitlich parallel, als Schöpfungsgeshichte repräsentiert er jedoch eine mündlich tradierte Prähistorie - von der Gaia-Uranos-Welt über die Kronos-Welt bis hin zur Zeus-Welt. Die ,,besondere Geisteslage, in der jene Erzählungen ein unbedingtes, d.h. religiöses Interesse finden", bezeichnet Heinrich als eine ,,ursprungsmythische"11. In ihr und durch sie realisiere die Genealogie ihre zentrale Aufgabe: ,,die Macht der heiligen Ursprünge zu übertragen auf das von ihnen Abstammende, aus ihnen Abgeleitete."12 Freilich handelt es sich hierbei nicht allein um Herrschaftslegitimierung oder die geltungssüchtige Selbstvergewisserung von Stämmen, Nationen oder Dynastien. ,,Die genealogische Rückbindung an den Ursprung antwortet auf die Leben zerstörende Bedrohung, mit nichts identisch zu sein."13 Diese Bedrohung ist eine durchaus gegenwärtige, auch das moderne Individuum kennt das Gefühl der Heimatlosigkeit oder empfindet irgendwann einmal das Losgerissensein vom mütterlichen Schoß der Familie, vom väterlichen Schutz. Die mythologische Genealogie gibt Antwort auf allgemeine Fragen des personen- und welthafen Seins: sie ermißt die Spanne, die uns vom deklarierten Ursprung trennt und sie leistet eine eingedenkende Rückbindung an ihn. Sie tut freilich beides zugleich und es liegt im Ermessen des Einzelnen, die Entfernung vom Ursprung als degenerierenden oder revolutionären Geschichtsprozeß zu beurteilen.

Mit der Identitätsfrage ist eine Funktion des Mythos berührt, die der Systemfunktionalismus Kontingenzbewältigung nennt. Leszek Kolakowski zufolge bleibt der Mythos präsent, weil er Fragen, die in der dehumanisierten, vom technisch-wissenschaftlichen Fortschritt bestimmten Welt unbeantwortbar bleiben, einer Antwort zuführt, in der das Wißbare nicht mit dem Wissenschaftlichen verwechselt werden will.14 Treffend illustriert Franz Fühmann15 diesen Sachverhalt am Beispiel der menschlichen ,,Elementarereignisse" Liebe und Tod: Als Fakten oder Eigenschaften der Gattung Mensch haben beide zwar eine objektive, biologisch erklärbare Relevanz; sie sind aber zugleich subjektive Erfahrungen, deren innerpsychische Realität der Einzelne nach außen transferieren und gleichsam materialisieren muß. Nur so kann er sich als unverwechselbares Selbst und - im Vergleich - als Exemplar seiner Gattung begreifen. Hier wirkt der Mythos als Medium der Selbstverständigung und intersubjektiven Vermittlung von Erfahrung: Amor, dessen bohrender Pfeilschuß allein ein adäquates Gleichnis für die Urgewalt plötzlicher Leidenschaft ist; oder Hiob, der in seiner Klage über Besitzverlust und Aussatz beschwört, sein Leid wöge schwerer als aller Sand, der an den Küsten der Meere liegt.16 Das Bild wird zum Mittler, der Inneres am fiktiven Äußeren abbildbar und Vergangenes gegenwärtig macht. Sich verstehen lernen und verstanden wissen: ,,Jener leidet so wie ich. Wie ich: Ich bin nicht mehr allein; das Gleichnis ist der dritte Ort, wo sich meine und seine Erfahrung als gemeinsame treffen."17

Fühmann begreift die Mythologie als Arsenal mythischer Elemente, deren ,,Gültigkeit [...] weit über die Entstehungszeit hinaus, ja vielleicht bis ans Ende des Menschengeschlechts"18 reicht. Aber sind Mythen im Sinne komplexer Erzählungen wirklich von ewiger Dauer?

Die Frage soll am Beispiel des Medea-Mythos präzisiert werden. Es ist durchaus möglich, Medeas Liebes- und Leiderfahrung im Spiegel eigener, besonders tragisch erlebter Verhängnisse zu betrachten. Sich verraten zu sehen, eifersüchtig zu sein, sind jederzeit mögliche Empfindungen, die die mythische Heldin zur geeigneten Projektionsfläche machen. Wie aber verhält es sich mit dem Kindermord? Es ist möglich und geschieht immer wieder, daß das Motiv einer Frau, sich für den Verrat des Mannes an demselben zu rächen, mit (oft unbewußten) Impulsen verbunden ist, ihn durch die Tötung gemeinsam gezeugter Kinder tieferes Leid erfahren zu lassen. Aber der Mord hat im Mythos noch eine andere Funktion. Dazu ist ein kleiner Exkurs nötig, beginnend mit der von Franz Fühmann negativ beschiedenen Frage, ob es einen ,,Urmythos" gebe. Fühmann schreibt, man könne ,,nur aus den verschiedenen Fassungen die übereinstimmenden Elemente herauspräparieren"19, gesteht aber zu, daß es einige Invarianzen geben muß, bestimmte Gestalten, Handlungen und m.E. auch bestimmte Attribute betreffend. Katharina Keims Begriff ,,Mythologem" meint genau dasselbe, nämlich die ,,Bezeichnung der kleinsten, semantisch und historisch invariablen, konstitutiven Einheit des Mythos", und sie setzt hinzu: ,,Dies ist z.B. beim Medea-Mythos der Kindermord."20 Nun gibt es aber mindestens eine Fassung, die des Apollonios21, die das Medea-Mythologem im Sinne Keims nicht unterstützt - Medea ist hier keine Kindsmörderin. Entweder also ist der Kindermord kein konstitutives Element, dann würde der Medea-Mythos aus der Perspektive Keims gewissermaßen gegenstandslos. Oder Medea und ihre Tat haben synonyme Geltung, womit die Geschichtslosigkeit des zur Debatte stehenden Mythos widerlegt wäre. Fühmann, sofern er sich auf den Mythenfundus in genere bezieht, hätte unrecht: der Schöpfer des ,,Urmythos" der Medea wäre Euripides - legt man dem neuen Archetyp das Datum seiner ersten schriftlichen Fixierung zugrunde.

,,Ob weit zurückliegend oder nicht, die Mythologie kann nur eine geschichtliche Grundlage haben, denn der Mythos ist eine von der Geschichte gewählte Aussage; aus der ,Natur` der Dinge vermöchte er nicht hervorzugehen."22 Dieser Satz Roland Barthes verweist auf die Möglichkeit, die Mythen zu relokalisieren und ihnen ihren historischen Kontext zurückzugeben. Etliche Historiker und Anthropologen haben ihren Wert längst erkannt. Für sie ist der Mythos keineswegs nur Inbegriff vorwissenschaftlicher Volksphantasie, die zu erklären versuchte, was (noch) nicht verstanden werden konnte. Der Funktionalismus erforscht unter Zuhilfenahme der jeweils überlieferten Mythologie ganze Sozietäten: das soziale Gefüge, Rollen, Herrschaftsmechanismen, Werte und Kommunikationsformen. Der Mythos ermöglicht aber nicht nur die Entzifferung statischer Strukturen, er vermag auch Aufschluß zu geben über real-historische Vorgänge in der frühen Menschheitsgeschichte.

Friedrich Engels liefert das frühe Modell für einen derartigen Zugriff: In Anlehnung an Bachofen begreift er die »Oresteia« des Aischylos als ,,die dramatische Schilderung des Kampfes zwischen dem untergehenden Mutterrecht und dem in der Heroenzeit aufkommenden und siegenden Vaterrecht."23 Wo der Mythos als mimetische Darstellung epochaler Umwälzungen und Zeitenbrüche gelesen wird, hat seine Wertschätzung ihr bislang höchstes Stadium erreicht.

Warum Euripides dem Medea-Mythos die für ihn typische und immer noch gültige Wendung gegeben hat, die Kindstötung von Mutterhand, wird jetzt vielleicht verständlich. Es sind nicht nur die dämonischen Züge der Frau, die der Akt vollends zur Geltung bringen soll und die nach einer Domestizierung innerhalb patriarchalischer Institutionen verlangen. Das schreckliche Ende kehrt vorwegnehmend hervor, wogegen sich die neue Herrschaft unbedingt verwahren muß. Denn die Frau, die sich zur Gebieterin über Leben und Tod macht, trifft das Männerrecht an seinem verwundbarsten Punkt: dem der Erbfolge, die seine Fortexistenz garantiert. Im Fall der Medea hat die Tragödie den Mythos geschaffen. Er bringt wirklich zum Ausdruck, was die kathartische Wirkung der Inszenierung zugleich hervorrufen und bannen will - Jammer und Schaudern.24 Eine zeitgemäße Interpretation würde vielleicht hinzusetzen - kollektive Angst.

Ihre historische Bedeutung und ihr fast alltäglicher Gebrauch sind es, die den Mythen bleibendes Interesse für die Kunst wie für die Wissenschaft sichern. Dennoch soll die Frage nach ihrer Dauer als komplexe Erzählungen wiederholt und präzisiert werden: Ist eine Zeit denkbar, in der sie uns nicht mehr betreffen oder betroffen machen?

III Die Überzeichnung des mythischen Terrors bei Hans Henny Jahnn und Heiner Müller

»Verkommenes Ufer Medeamaterial Landschaft mit Argonauten«25 ist kein Stück konventionellen Zuschnitts. Innerhalb des _uvres Heiner Müllers markiert es einen neuen Schritt im ,,rigoros vorangetriebenen Prozeß der Entdramatisierung des Dramas"26. Daß dabei der Aufführungspraxis immer höhere Hürden gesetzt werden, vermerkt Müller ausdrücklich positiv: ,,Ich glaube grundsätzlich, daß Literatur dazu da ist, dem Theater Widerstand zu leisten."27 Kennzeichen seiner späten Stücke sind entsprechende Montage-Techniken und eine Poetik des bewußt Fragmentarischen, die die Stücke zu vielschichtigen Texturen und zugleich zum Rohmaterial erst zu entwickelnder szenischer Arrangements macht. Im genannten Stück, das als dreiteiliges einem Triptychon gleicht, bilden die beiden umschließenden Teile derartige Texturen. Es sind rein deskriptive Tableaux'28, Texte, die sich keinem identifizierbaren Sprecher mehr zuordnen lassen. Zwar hat der Mittelteil noch eine dialogische Struktur, seine Qualifizierung zum Dramolett geht aber in die Irre: es fehlt jede autorisierte Handlung, die über einen verbalen Schlagabtausch hinausgeht. Außerdem besteht der Abschnitt zu gut drei Vierteln aus einem langen Monolog - Anklage und Schuldgericht Medeas, die ihr Gegenüber Jason noch nennt, aber nicht mehr zu Wort kommen läßt. Zur Entstehung des mittleren Teils gibt der Autor folgende Auskunft:

Der Dialogteil von »Medeamaterial« ist fast das Stenogramm eines Ehestreits im letzten Stadium oder in der Krise einer Beziehung. Das habe ich in Lehnitz geschrieben. Den Monologteil zwei Jahre später in Bochum, vor dem Ende einer anderen Ehe, als ich schon mit einer anderen Frau zusammenlebte, das war 1982. Das Material, von meinem Leben mit Frauen abgesehen, kam von Euripides, Hans Henny Jahnn und Seneca vor allem.29

Müller selbst erläutert anschließend seine Bezugnahme auf Senecas Medea-Bearbeitung. Wie weit der Einfluß der gleichnamigen Tragödie von Hans Henny Jahnn reicht, darüber findet sich in seinen eigenen Texten und publizierten Interviews nichts. Ein Vergleich lohnt allemal. Jahnns Drama ist, unter formalen Aspekten betrachtet, durchaus konventionell. Es thematisiert einen tragischen Konflikt, beschreibt die typisch tragische Verlaufskurve und wahrt streng die Einheit von Ort, Zeit und Handlung. Einige Unterschiede zum antiken Vorbild fallen aber doch auf: die Tatsache, daß Jahnn auf die Segmentierung des Geschehens durch (in der Regel fünf) Akte verzichtet, verleiht ihm etwas Atemloses - es gibt und kann kein Innehalten und Eingedenken im schicksalhaften Ablauf geben. Das Fehlen des Chores mag seine Dysfunktionalität für das moderne Theater bestätigen, die genaue Lektüre zeigt aber eher, daß Jahnn ihn - modifiziert - wieder ins Recht setzt: so wiederholt ein ,Sklavenchor` zweimal an zentraler Stelle die langen Beschwörungsformeln, mit denen der Knabenführer den ,,Jungstier", den ,,Urahnen dieses Hauses"30, nämlich Helios als Großvater Medeas, anruft. Und obwohl in Versen gehalten, hat Jahnn - und Müller folgt ihm darin - die ,Jambifizierung` seines Stücks weitgehend vermieden. Der so gewonnene Reichtum der Sprache an ,,gestischen Elementen"31 wird durch einen eigenwilligen Stil noch unterstützt, bei beiden Autoren freilich auf verschiedene Weise. Jahnns ekstatische Expressionen: ,,Ausbrachen Knochen/ widerlich aus ihrem Sitz/ einfiel der Leib. Und wo die Spangen saßen,/ aufzüngelte ein spratzend Feuer" (Med 66f.), korrespondieren mit den verkürzt- komplizierten Fügungen Müllers:

Das Brautkleid der Barbarin feiert Hochzeit

mit deiner Jason jungfräulichen Braut

Die erste Nacht ist mein Es ist die letzte

Jetzt schreit sie Habt ihr Ohren für den Schrei

So schrie als ihr in meinem Leib lag Kolchis

Und schreit noch Habt ihr Ohren für den Schrei (VML 97)

Ist Jahnns Sprache wesentlich durch Archaismen, eine barocke Formgebung und gelegentliche kühne Bilder geprägt (,,der Goldstrom seiner Lenden", ,,deines Handelns Schwefelberg" - Med 52 u. 53), bestechen Müllers Bilder durch Prägnanz: ,,Die Asche deiner Küsse" (VML 94) ist ein ebenso knapper wie erinnerlicher Ausdruck für die erloschene Liebe Jasons; und wenn Medea die ihr auferzwungenen Rollen ins Bild profaner Alltagsexistenz(en) übersetzt: ,,Ich war die Milchkuh eure Fußbank jetzt" (VML 95), so ist dies von um so ergreifender Genauigkeit. Müller verzichtet vollständig auf Interpunktionen, wobei gleichzeitig die Les- bzw. Sprechbarkeit seiner Verse durch häufige Enjambements und syntaktische Vor- und Rückbezüglichkeiten erschwert wird. Eine solche Textgestaltung ist aber insofern gerechtfertigt, als sie der Haltlosigkeit des Monologs entspricht, in dem Erinnerung und visionäre Schau, Gedanken und die sie vollziehenden Taten Medeas zu einer Einheit verschmelzen. Für beide Autoren gilt: das Tragische wird durch die affektive Bewegtheit vermittelt und überzeichnet, die den Texten konsequent den erhabenen Ausdruck und alle Formenstrenge austreibt. Was die Rasanz der Handlung bei Jahnn, bewirkt bei Müller der sich überstürzende stream of conciousness Medeas.

Inhaltlich ist das Stück von Hans Henny Jahnn weit mehr als eine Abschilderung der Vorgänge bei Euripides. Anders als im »Medeamaterial« Müllers, das das mythische Szenario auf sein tragisches Ende verkürzt, wird in Jahnns Drama, wie in dem des Euripides, die sukzessive Abkehr Jasons von seiner Helferin und einstigen Geliebten zur dramentechnischen Exposition. Beide thematisieren Medeas Versuch, sich als Fremde in Korinth zu behaupten. Doch während bei Euripides Medeas Kenntnis von der bevorstehenden Vermählung Jasons und Kreusas bereits vorausgesetzt ist, gewinnt Jahnns Fassung Kontur durch ein neues, den tragischen Verlauf entscheidend abänderndes Detail.

Erstmals in der Rezeptionsgeschichte des mythologischen Stoffs bekommen die Söhne Medeas eine über die Statistenrolle hinausreichende handlungsbestimmende Bedeutung. Für Jahnn verkörpern sie göttliche Unberührtheit, eine in sich ruhende Selbstverständlichkeit, eine Reinheit und Sicherheit des Gefühls, die sie gegen irremachende Einflüsse feit. So wird die Mißachtung der gleichsam geheiligten inneren Stimme der Liebe zu einem die tragische

Entzweiung Medeas und Jasons verstärkenden Hauptmotiv: Der ältere Knabe bekennt dem Vater seine Liebe zu Kreusa und bittet ihn um Fürsprache beim König. Doch statt für seinen Sohn zu intervenieren, hält Jason selbst um die Hand der Königstochter an. Thematisch liegt damit der neuen Verbindung Jasons ein doppelter Verrat zugrunde; formal führt dieser Akt mit der von Aristoteles eingeforderten ,,Notwendigkeit" zum tragischen Umschlag, der die kommenden Taten Medeas funktional besser begründet, als es in der Vorlage des Euripides - die ohne Peripetie auskommt - der Fall ist.32

Doch damit ist Jahnns ,,Medea" in seiner besonderen Qualität noch nicht erfaßt. Denn diese Rationalisierung, die den Mythos motivational und in seiner tragischen Gestaltung sinnfälliger macht, ist nur eine Dimension des Stücks. Wolfgang Emmerich hat auf das ,,scheinbar[e] Paradox" vieler Mythenadaptionen zeitgenössischer Schriftsteller - besonders von DDR- Autoren und explizit Heiner Müllers - hingewiesen: sie enthielten ,,regelmäßig eine Dimension der Vernunft und eine solche des Schreckens." Gewiß trifft diese Einschätzung auch das Wesen des Dramas von Hans Henny Jahnn. Nicht von ungefähr wird die Auseinandersetzung mir seinem Werk bis heute weitgehend vermieden, lassen sich die Idiosynkrasien der Kritiker an den Ausfällen gegenüber der Person des Autors ermessen. Sicher war Jahnn ein Unerbittlicher, rückhaltlos Ehrlicher, mehr noch - ein bekennender Outlaw, der seine Außenseiterrolle nicht als privates (Miß-)Geschick verstand und wohl gerade deshalb zum idealen Interpreten mythischer Figurationen werden konnte. Den Nationalisten und Sittenwächtern seiner Zeit wurde er so zum ,,Kulturschänder", indem er sich gleich dreifach an der antiken Überlieferung ,,verging": in der Deutung der Motive ihrer Protagonisten, die an soziale und sexuelle Tabus rührt, in der Darstellung, die eben jene Dimension des Schreckens weder bannt noch verklärt und schließlich in einer ostentativen Parteinahme zugunsten Medeas. Auf einige Aspekte der Deutung und Darstellung bei Jahnn soll im Vergleich mit dem Medeateil des Müller-Stücks näher eingegangen werden. Eine entscheidende Differenz zunächst formaler Art ist augenscheinlich: Während Jahnn ein klassisches Entwicklungsdrama mit kausalem Handlungsstrang vorlegt, worin alle Figuren gleichermaßen von Gewicht sind, fokussiert Müller den mythischen Konflikt auf die Titlefigur: es entsteht so ein Traktat, ein Pasquill, eine Anklageschrift. Das dem Stückteil trotzdem eine eminent dramatische Qualität eignet, ist dem poetischen Vermögen des Autors zu verdanken, in wenigen Versen den tragischen Antagonismus tiefgreifend zur Darstellung zu bringen. Die Dominanz des Monologs erinnert fern an ,,Hamlet", über den Müller einmal schrieb: ,,Das Stück selbst ist ein Versuch, eine Erfahrung zu beschreiben, die keine Wirklichkeit hat in der Zeit der Beschreibung. Ein Endspiel in der Morgenröte eines unbekannten Tags."33 Dramatisch wird der Medea-Jason-Konflikt durch seine vergangenen Ursachen und seine künftigen Wirkungen, beide präsent nur im Geiste der monologisierenden Medea. Irritierend ist dabei nur ein sich unmerklich vollziehender modaler und temporaler Wechsel. Wenn Medea zu Jason spricht, ihn erinnert, Anklage gegen sich selbst erhebt, ihm Vorwürfe macht, in beschwichtigt34, scheint sie noch Antworten zu suchen und zu erwarten. Noch die an ihre Kinder gerichtete Frage: ,,Wollt ihr sie brennen sehn die neue Braut" fordert zur Gegenrede auf. Zehn Zeilen später weicht die Frage dem entschlossenen Vorsatz: ,,Vor Mitternacht wird sie in Flammen stehn" und kurz darauf folgen jene Verse, in der Medea ihre Taten in visionärer Vorausschau wirklich vollzieht, eingeleitet durch ein fünfmaliges ,,Jetzt". Nachdem sie gegen Ende des Textes den Mord an ihren Kindern zitiert, ist denn auch ,,alles still", der Text selbst gibt die Frage nach der ,,Realität" des Geschehens - Präsenz, Konjunktiv, Futur - an die Leser weiter. Scheinbar bestätigt Müller zugleich die mythische Inferiorität Medeas - als Hexe, die, indem sie über Macht und Magie der Gedanken verfügt, zugleich das populäre Porträt einer Voodoozauberin abgibt. Der Botenbericht findet bei Müller seine Entsprechung in einer Vision Medeas.

Es gibt freilich eine bis auf die Syntax gleiche Konvergenz beider Stücke in einer kurzen, aber wichtigen Passage des Dramas; in ihr erschließt sich zugleich, was Müller an der Jahnnschen Bearbeitung interessiert haben mag. Die beiden Konfliktparteien - bei Jahnn zum erstenmal, bei Müller einmal und nie wieder - begegnen sich, die Abschnitte beginnen mit einer jeweils wortgleichen Anrede:

Medea. Jason!

Jason. Was für eine

Stimme, Weib, entreißt sich der Brust dir!

Medea. Ich bin nicht erwartet. Ich störe dein Wohlsein. Weh mir, o weh mir, zerbräch´ mich der Tod doch! [...]

Seit dreimal fünf Tagen hast du verlangt nicht, gerufen mit eigener Stimme mich nicht, und durch den Mund eines Sklaven nicht. (Med. S. 17f.)

MEDEA

[...]

Jason

JASON

Weib was für eine Stimme

MEDEA

Ich

Bin nicht erwünscht hier Daß ein Tod mich wegnähm Dreimal fünf Nächte Jason hast du nicht

Verlangt nach mir Mit deiner Stimme nicht Und nicht mit eines Sklaven Stimme noch Mit Händen oder Blick (VML, S. 93)

Die Szenen fungieren jeweils als Exposition, in denen die Gründe für die Entfremdung der beiden gegenüber der antiken Vorlage um eine wesentliche Dimension erweitert werden. In der Lesart des Euripides veranlaßt eine als Staatsraison verstandene Heiratspolitik die Trennung - für den geprellten Königssohn aus Jolkos, wie für den Fortbestand der Korintherdynastie gleichermaßen, ist die Verbindung Jasons mit Kreusa wünschenswert. Die Feindseligkeit der Gemeinde vor der Zauberin aus Kolchis tritt als reziproke Folge hinzu; sie versteht sich als Angst, der entgegenzuwirken die Verbannung Medeas als umsichtiger (und milder) Ratschluß des Königs erscheint. Hingegen tritt bei Jahnn und Müller ein Motiv in den Vordergrund, welches den antiken Fassungen fehlt: zwar gilt dort Kinderlosigkeit, mithin Unfruchtbarkeit als ,,herbes Los"35, das Alter jedoch - weil nicht zwangsläufig mit dem Verlust der Schönheit einhergehend - erfährt keine Abwertung. Diese Abwertung jedoch, vermittelt durch eine beide Texte dominierende, hochmoderne Libidomotivik, liegt den zitierten Dialogen zugrunde. Medea, die aus Liebe zu Jason bereits zur zweifachen Mörderin geworden war, ist zwar mit der magischen Fähigkeit begabt, dieser Liebe durch die Gewähr ewiger Jugend und Kraft Ausdruck zu verleihen; die Macht, Jasons Gegenliebe zu erzwingen, hat sie nicht. Für sich selbst kann sie keine Verjüngung erwirken, sie lebt, wie die gewöhnliche Amme, ,,in den Trümmern" ihres ,,Leibs" (VML, 93). Medea weiß um den sozialen Tod, den die Tatsache der bloßen Duldung durch den Geliebten akzentuiert. Ihm entgehen zu wollen, kann nur in den konsequenten Wunsch münden, stattdessen den realen Tod zu erleiden Bei Müller wird die Verbindung Alter-Tod explizit, wenn Medea die Ermordung ihrer Kinder mit den Worten kommentiert: ,,Was schreit ihr Schlimmer als Tod/ Ist alt sein" (VML 97). Hans Henny Jahnn läßt Jason selbst als Kronzeugen einer Haltung auftreten, für die Liebe lediglich Brunft nach einem simplen Reiz-Reaktions-Schema bedeutet: Jason rechtfertigt seine schwindende Leidenschaft als eine angemessene ,,ganz nach dem Maß/ der fortgeschrittnen Jahre." (Med, 19). Auf dem Höhepunkt seiner Verleugnung setzt er das Alter und die Inferiorität Medeas ineins, sich selbst und seine neue Braut ihr gegenüber:

Befreit ist Jason. Jung ist er.

Und Jason freit ein Weib, ein blühndes Weib,

nicht ein ergrautes Nachtgespenst der Hölle. (Med, 59f.)

Zweifelsohne ist Alter hier mit Häßlichkeit und Siechtum konnotiert. Ihre Darstellung wird von Jahnn bald aller zurückhaltenden Metaphern entkleidet und in eine brutal- anatomisierende Bildsprache gezwungen. Zur vollen Geltung kommt diese nicht in der Beschreibung eines Zustands oder einer Attributierung, sondern in der verdichteten Darstellung eines Vorgangs. Jason - selbst in der Funktion des Boten Medea vom Erfolg ihrer Hexerei berichtend - beschreibt das Sterben Kreusas als einen Prozeß körperlichen Verfalls im Zeitraffer:

Grau erlosch

Des Weibes Farbe. Nicht einer Negrin gleich -:

Wie Asche, verwünschter Boden, stinkend, runzlig, voll dicker Maden, feucht dann, dörr dann, und feucht und dörr gleichzeitig. [...]

Dann plötzlich, sterbend, blähten

Bauch und Brüste sich, die ganz verborkten, blähten rissig sich und platzten zu eklem Schleim und Blutgerinsel. (Med, 66f.)

Davon abgesehen, daß Jahnn mit solchen Versen, die an ,,Erruptionen, Extasen, Haß" und an ,,Zerschleuderung der Welt"36 gemahnen, expressionistisches Erbe antritt, erreicht seine Sprache auch ohne syntaktische Verkürzungen eine der unmittelbar sinnlichen Wahrnehmung nahekommende Qualität: mit dem wiederholten Gabrauch des Wortes ,,blähen" wird ein Spannungsmoment, eine Retardation verdeutlicht; der Entladung, dem ,,Platzen" folgt ein ereignisgerechtes, weicheres Fließen des Verses, der in ein ebenmäßiges jambisches Maß überführt wird. In Heiner Müllers Textgestaltung wird der gleiche Vorgang zum Kulminationspunkt der Tragödie37. Durch die Anaphorisierung, den fünfmaligen Einsatz des Wortes ,,Jetzt" wird eine unmittelbare Gegenwärtigkeit suggeriert. Der Sterbeakt Kreusas (ohne die zwischengeschobenen Kommentare und Assoziationen Medeas) stellt sich folgendermaßen dar:

Jetzt spreizt sie sich die Hure vor dem Spiegel

Jetzt schließt das Gold von Kolchis ihr die Poren Pflanzt einen Wald von Messern ihr ins Fleisch [...]

Jetzt schreit sie [...]

Sie brennt (VML, 96f.)

Einmal mehr bleibt der Rezipient mit der Frage, ob es sich um einen realen Vollzug der Handlung oder einen bloß imaginierten handelt, allein: die Szene kann als Metapher gelesen werden, ihre sinnliche Vergegenwärtigung bleibt aber immer möglich. Müller steht Jahnn in seiner bewußten Theatralik der Grausamkeit und extremer Körperefahrung in nichts nach. Metaphysisch läßt sich der Medea-Mythos als eine Problematisierung von Fremdheit und Ausschließung interpretieren. Dieses Grundmotiv kennzeichnet seine dramatischen Fassungen seit Euripides. Müller, besonders aber Hans Henny Jahnn geben diesem Topos einen verschärfenden Akzent, indem beide mit den Bildern des Tiers und der Barbarin die Stigmen hervorkehren, denen Medea unterworfen wird. Das Gewicht, daß diese Zuschreibungen im Kontext beider Dramen haben, ist aber ein jeweils verschiedenes, und - so steht zu vermuten - ebenso die Intentionen, die die Autoren mit dieser Gewichtung verfolgen. In Müllers ,,Medeamaterial" wird das augenscheinlich Andere Medeas, ihre kulturelle Fremdheit nicht explizit. Medea ist randständig, weil sie eine um Asyl bittende Zugereiste ist; ein ,,anderes Ausland" (VML 93) hielte wohl denselben Status für sie bereit. Der soziale Wirkmechanismus der Ausgrenzung bedarf bei Müller keiner rassistischen Begründung. Er verweist eher auf ein zeitloseres und zugleich aktuelleres Phänomen: Ist der innere Friede eines Gemeinwesens gefährdet - und er ist seit Beginn der Geschichtsschreibung stets prekär gewesen - so gelingt eine zeitweilige Befriedung der Beziehungen durch die einmütige Übertragung aller frei kursierenden Aggressionen auf einen Sündenbock.38 Durch ihre fremde Herkunft, ihren Adelsstand, vor allem aber durch die Kunde ihrer Taten, die nach Gutdünken heroisch oder verbrecherisch gewertet werden können, ist Medea zum Opfer prädestiniert. Ein Opferstigma ist bei Müller die Bezeichnung ,,Barbarin". Ein Wort, mit dem sich Medea gleich fünfmal im Text selbst deklariert, das bezeichnenderweise aber erst mit der Schilderung ihres Mordes an Kreusa eingeführt wird. Medea beginnt die mit dem Begriff der Barbarin auf sie projizierten Beschuldigungen zu bejahen - die ja als Gegenpart zu der den Griechen attestierten Kultiviertheit Grausamkeit und Irrationalismus implizieren - und bestätigt sie durch ihr Tun (beziehungsweise dessen gedankliche Vorwegnahme). Dem Stigma des Barbarischen ist das des Bestialischen verwandt, so daß Medea beide in einem Atemzug nennen kann:

Ach

Wär ich das Tier geblieben das Ich war

Eh mich ein Mann zu seiner Frau gemacht

Medea Die Barbarin Jetzt verschmäht (VML 97)

Der Chiasmus in dieser Passage deckt die Zugehörigkeiten auf, denen Medea nicht entkommt. Sie kann die implizite Forderung, Frau an der Seite eines Mannes zu sein, nur negieren. Ohnmächtig gegen die Deutungsmuster derjenigen, die mit ihrer patriarchalen Ideolgie alsbald die ganze Welt erklären und beherrschen werden, muß sie ihren Widerruf mit allen regressiven - und das heißt: Gewalt kenntlich machenden - Konsequenzen tragen. Hans Henny Jahnn hingegen deutet den Mechanismus der Ausschließung rassistisch. Medea ist bei ihm eine Negerin, die ihre Dunkelhäutigkeit als augenscheinlichen Makel auf ihre Kinder vererbt hat. König Kreon selbst ist es, der als Stammhalter des in Frage stehenden Geschlechts eine mischerbige Verbindung für seine Tochter konsequent ausschließt:

Niemals hätt` ich

Gebilligt, daß mein heißgeliebtes Kind `nem halben Neger beigegeben würde. Ausländer lieb ich nicht. (Med, 43)

Schon bei Euripides - wie später auch bei Müller - ist Kreusa nur sprachlose Statistin, eine Art ruhender Pol, um den sich die Szenerie bewegt. In Jahnns Drama wird sie vollends zum willenlosen Mündel degradiert. Als letzte Instanz der Entscheidung triumphiert Kreon gar über Jason, dem er großzügig gestattet, Medea fernerhin als Nebenfrau auszuhalten. Bar aller sanftmütigen Züge, die in der antiken Fassung die politische Taktiererei des Korintherkönigs als menschliche Nachsicht bemänteln, verkörpert Kreon die ordnungsstiftende, aufgeklärte Vernunft - die sich nicht anders als im grausamen Gesetz der Selektion verwirklichen kann. Die Gande des Aufschubs der Verbannung erreicht Medea zusammen mit der Drohung Kreons, sie wie ein Tier aus dem Land zu hetzen:

Ja wärt ihr Tiere,

anstellen eine Jagd auf euch würd er.

Noch zweifelt er, ob dunkelfarb'ge Menschen Den Tieren gleichzusetzen sind

[...]

Trifft man euch morgen hier, wird Kreon wissen, daß Neger und Barbaren Tiere sind,

zu anderm nicht geschaffen, als

daß man mit Pfeilen auf sie schieße (Med, 47)

Immer wieder bezeugen die Griechen ihr Unverständnis gegenüber den Taten und Worten Medeas, so auch Jason: ,,Begriff ich dich, Tier/ wärs mir Linderung." (Med, 72) Die Insistenz, mit der das Unbegreifbare aber Medeas Vertiertheit angelastet wird, ist eine nahezu systematische. Überhaupt ist die Tiersymbolik in Jahnns Drama (die es bei Müller so nicht gibt) eine eingehende Betrachtung wert. Den Griechen sind die Tiere ausnahmslos niedrige Geschöpfe; wo sie nicht domestizierbar sind, werden sie gejagt oder zertreten. Kreons Drohung, eine Jagd ,,anstellen" zu wollen, zeigt deutlich das hierarchisierte Verhältnis zwischen Mensch und Tier, dem das ,,feudale Hobby"39 einer über die Subsistenzzwänge hinausgehenden Jagd symbolischen Nachdruck verleiht. Der Geist der Griechen ist ein moderner, uns vertrauter: einer, der die Natur entzaubert, vereinheitlicht und zum chaotischen Stoff bloßer Einteilung disqualifiziert hat.40 Die Welt Medeas ist eine animistische: die Bittgebete, die die Bediensteten ihres Hauses an den Stammvater Helios und den Stier, als dessen kraft- und fruchtbarkeitspendender Verkörperung richten, bezeugen den Totemcharakter des Tieres. Symbolhaft ist auch die Figur der weißen Stute, die bei Jahnn mehrmals an prominenter Stelle zitiert wird. In dem das Drama einleitenden Gespräch zwischen Medeas Söhnen eröffnet der ältere Knabe stolz seinem Bruder, von Jason ein ,,weißes Pferd", eine ,,milchfarbene Stute" (Med, 5) geschenkt bekommen zu haben. Als Medea die Mordtat an ihren Söhnen rechtfertigt, und kurz bevor sie Jason einen Blick auf seine bereits toten Kinder verwehrt, tritt ein Gespann weißer Stuten in Erscheinung, mit denen Medea ihre Söhne an einen ,,unbekannten Ort" führen will: ,,Zur letzten Fahrt gehts/ mit den kaum Gerittnen" (Med, 75). In Referenz dazu steht die ausführliche Beschreibung einer Paarungsszene, in der der ältere Knabe das Initiationsmoment seiner ersten Liebe beschreibt: seine Stute wird von dem weißen Hengst Kreusas begattet, während beide Pferde ihre Reiter auf dem Rücken tragen. ,,Ich hätte/ nachahmen mögen ihres Hengstes Beispiel" (Med, 27), bekundet der Sohn Jason gegenüber sein entflammtes Verlangen nach der Königstochter.

Seine Erregung schildert er aber so, daß - vermittelt durch eine Erfahrung der Hingabe, in der Roß und Reiter eine Art symbiotische Einheit bilden - der Eindruck entsteht, er selbst sei das Ziel der Begierde gewesen: ,,gewürgt, bedroht am Leben" (Med, 26) hat er den Pferdeleib ,,ertragen", und ,,benommen" (Med, 27) läßt er sich vom Pferd fallen. Das Weiß mag als Chiffre für die Unschuld fungieren; weniger im archaischen Verständnis der Sippe Medeas als im literarischen Kosmos Hans Henny Jahnns steht es vor allem für die Unschuld des Begehrens. Heinz Ludwig Arnold hat in Jahnns Drama eine Huldigung an die Unbedingtheit der Liebe gesehen. Eine Liebe, die über den Tod triumphiert: der jüngere Knabe spricht im Geiste Medeas, wenn er seinem, über den Verrat des Vaters rasend gewordenen Bruder ein schier unbegreifliches Recht einräumt: ,,Du darfst mich töten/ wenn du mich nur liebst" (Med, 50) Aus solchen Worten spricht zugleich ein unerschütterlicher Glaube an Transzendenz, worin sich sterbend oder tot geliebt zu wissen allemal besser ist, als ein Leben ohne Liebe. So entgegnet Medea der Klage über das Massensterben, das sie mit einem Fluch über die Gemeinde heraufbeschwört, mit den Worten:

Dumm seid ihr! Ist Sterben doch leicht,

schwerer zu leben - (Med, 76)

Schwerer zu leben in einer Welt, dessen Prinzipien Kreon mit seiner rassistischen Herrschsucht und vor allem Jason mit seinem Verrat verkörpern. Dieser ist ,,schuldig geworden, weil er wandelbar ist; [...] weil er sich dem einen Teil des Gesamten ausgeliefert hat, das nur in seiner Gesamtheit wirksam werden und die Unordnung der menschlichen Wirrsale in einem Totalen auflösen kann: die Liebe wird nicht als Sexus oder Eros oder als Agape in ihrem je einzelnen Faktum gesehen, sondern als Identität dieser drei Modi des einen."41 Ist Medea die dem panerotischen Prinzip Huldigende, so wird in Jason dessen exemplarisches Scheitern vorgeführt: er ist völlig unfähig, die Macht einer Liebe zu ermessen, die ihm das Kostbarste - den Bruder - hingab. Dem Kalkül opfert er Mitleid und Brunst, worauf Medea mit ihren Worten zielt: ,,Der hundert Knaben liebte, den schönsten,/ meinen Bruder, blickte er nicht an" (Med, 59). Für Jason ist der Tod Scheidung, nicht Verlust: er entzieht sich der Mitverantwortung für Medeas Taten, indem er deren Ursache leugnet: ,,Ich hab nicht teil an deinem Handeln" (Med, 59). Auch die Söhne - bezeichnenderweise besonders der ältere, sich ihm nähernde - sind ihm nur Nahrung seiner Eitelkeit. Und die Verbindung mit Kreusa steht als Vernunftehe ganz im Zeichen des Sexus. Solchen Verhältnissen mußte Medea ihre Kinder entziehen, ihre Rache an Jason erscheint grausam, weil konsequent - und ist gleichwohl eine gerechte. Nicht christliche Vergebung, sondern das archaischere ius talionis, das spiegelbildliche Recht, kann die Schuld der anderen in Medeas Augen entsühnen. Dem Boten, der den Ehebruch Jasons erschaut und ihr die bevorstehende Vermählung verkündet, läßt sie die Augen ausreißen. Jason, der mit seiner Kraft und Jugend prahlt, belädt sie mit dem Fluch ewiger sexueller Unruhe und des Entbehrens jeglicher Gegenliebe. Sein zu spät kommendes Bitten, ihn nicht zum ,,lustkranken Affen" zu machen, wie auch sein Wunsch, die Kinder ein letztes Mal sehen zu dürfen, wird für Medea zum Signum des Sieges: ,,So hat denn endlich Liebe triumphiert,/ und nicht die Brunft" (Med, 73). Von seinen Zeitgenossen ist diese philosophische Dimension des Jahnnschen Dramas nicht gewürdigt worden. Unverständlich blieb den Kritikern die ,,Gerechtigkeit schaffende und Gerechtigkeit an sich selbst vollziehende Gestalt", die für Arnold - in einer äußerst streitbaren Formulierung - zum ,,Symbol seiner [Jahnns] konsequenten Humanität"42 wird. Sie sahen nur den grausamen, irrationalen und in seiner Sprache exaltierten Totentanz. Besonders anstoßerregend mußte die sexuelle Dimension des Stücks sein. Medeas mehrfach wiederholte Klage, daß sie durch den Verrat Jasons um die Freude gebracht worden sei, ihrem Sohn beim Zeugungsakt beiwohnen zu dürfen, ist der Neuzeit völlig fremd. Jene Anspielungen, die auf Knabenliebe als gängiges Phänomen in der antiken Welt Jahnns schließen lassen, dürften Autor und Werk ebenso in Verruf gebracht haben. Zentrale Bedeutung erlangt im Stück aber die Beziehung zwischen Medea und ihrem toten Bruder; es ist jener mythologische Topos, an dessen nachdrückliche Thematisierung bei Jahnn auch Heiner Müller wieder anknüpft. Auf diesen Beziehungsaspekt beider Werke hat Genia Schulz hingewiesen. Der griechische sei bei Jahnn ,,mit noch archaischeren Mythen amalgamiert.", die ,,Beziehung zwischen Bruder und Schwester - in Anlehnung an den Isis und Osiris-Kult - inzestuös gefärbt."43 Ein langer, sich bei Jahnn über zwei Seiten hinziehender Monolog Medeas scheint dies zu bestätigen. In ihm kommt die Heldin nicht als Handelnde zu Wort, vielmehr tritt sie aus dem Geschehen heraus und als Sängerin in Erscheinung, die in episch breiten, wenn auch bewegten Versen die mythische Erzählung auf ihre eigentliche, unheilauslösende Vorgeschichte fokussiert: Medea berichtet von ihren Jugendjahren als Tempeldienerin in Kolchis, wo sie ,,in sich verborgen, verzückt/ das Bildnis ihres jungen Bruders" trug (Med, 57); sie schildert in grellen Tönen ihre Mordtat an dem ,,heiß geliebt[en]" (ebd.), um anschließend der Fruchtlosigkeit ihres flehentlichen Werbens um Verständnis Ausdruck zu verleihen:

Ermeßt der Kolchin Liebe zu den Griechen !

Und könnt`s doch nicht, weil ihr nie saht den Bruder. (Med, 58)

Jasons Gegenliebe war das Unterpfand, das sie gegen den hingeopferten Bruder einzutauschen glaubte; Jasons Verrat macht seinen Tod zum existentiellen Verlust. Zwar liebt sie ihre Söhne, aber was sie eigentlich zurückzuerlangen trachtet und also in ihnen erblickt, ist dessen Bild. Die Antwort auf ihre Frage: ,,Woher nur nehme ich/ Gestalt des Bruders...?" (Med, 59), gibt sie sich selbst, als sie ihren älteren Sohn kommen sieht: ,,Auf ihn schaut! Meines Bruders Leib!" (ebd.) In Müllers ,Medeamaterial` hingegen sind die Söhne kein Substitut des Bruders, sie werden von Medea zunächst zurückgewiesen und als ,,Kinder des Verrats" (VML, 95) an ihren Erzeuger Jason delegiert. In Medeas Augen muß dieser sich für den Tod des Bruders verantworten; fünfmal auf ganzen sechs Textseiten wird wie eine blitzartige Assoziation in stets denselben Worten Medeas unmögliche Forderung laut: ,,Du bist mir einen Bruder schuldig Jason" (VML, 94ff.) Die Erkenntnis der Unwiederbringlichkeit geschwisterlicher Eintracht steigert sich alsbald zu einem allesvernichtenden Haß, der nun auch ihre Kinder betrifft. Hatte Jahnn den Verlust Medeas betont, der nur in eine allseitige Verderbnis - auch der fluchbeladene Jason stirbt seinen speziellen Tod - münden kann, folgt Medea hier dem Beispiel Jasons, indem sie sich ihrerseits von dem Geschehenen lossagt, die Scheidung ausspricht. Sie tut dies freilich radikaler als Jason es je vermocht hätte; zu ihren Kindern sagt sie:

Aus meinem Herzen schneiden will ich euch

Mein Herzfleisch Mein Gedächtnis Meine Lieben Gebt mir mein Blut zurück aus euren Adern In meinen Leib zurück euch Eingeweide (VML, 97)

Was hier in das Bild der Rücknahme der Geburt gekleidet wird, ist eine exemplarische Korrektur all der Werte und Institutionen, denen Medea sich in der patriarchalen Welt Jasons und Kreons unterworfen hatte. So eröffnet sie das Dialogstück mit den Worten: ,,Jason Mein Erstes und mein Letztes" (VML, 92), und beim Blick in den Spiegel vermag sie sich nicht als eigenständiges Wesen zu erkennen: ,,Das ist nicht Medea" (VML, 93) Sukzessive - nachdem sie zunächst innewird, wie sehr sie sich zur ,,Sklavin", ,,Hündin" und ,,Hure", sowie zum ,,Werkzeug" (VML, 94) Jasons hat erniedrigen lassen - erlangt sie ein Bewußtsein ihres Besitzes:

Mein Eigentum die Bilder der Erschlagenen Die Schreie der Geschundenen mein Besitz [...]

Blind für die Bilder für die Schreie taub

War ich bis du das Netz zerissen hast

Gestrickt aus meiner und aus deiner Lust (VML, 94)

Der Verrat Jasons wird so für Medea zum ,,Anstoß und Agens einer Erinnerungs- und Trauerarbeit, die als illusionsloser Selbstklärungsprozeß eigener Geschichte die Vorraussetzung ihrer späteren Auflehnung erst schafft"44 Nachdem das Mordwerk vollbracht ist, hat sie ihre Identität gefunden: ,,O ich bin klug ich bin Medea Ich" (VML, 98), während Jason für sie zum Unbekannten geworden ist: ,,Amme Kennst du diesen Mann" (VML, ebd.). Es offenbart sich allerdings, daß Medea sich nicht wieder -, sondern neu gefunden hat: Bevor sie Jason traf, hatte sie von der Grausamkeit, Heimtücke, ja Brutalität - die man ihr schon vorwarf, als sie von ihnen im Dienste der Liebe Gebrauch machte - keinen Begriff. Nun bejaht sie solche Handlungsmuster emphatisch, tritt damit freilich immer tiefer in den Kreislauf von Gewalt, Machts- und Ohnmachtsäußerungen hinein. Der Gewinn, der ihr bleibt - wenn sie als mythische Figur gleichsam aus ihrer Geschichte heraustreten könnte - ist ihre Fortexistenz als Fluch, Drohung oder Menetekel in einer Welt, der nur mit ihren eigenen, durch Medea lediglich kenntlich gemachten Mitteln beizukommen ist. Für beide Dramen, besonders aber für das Heiner Müllers, gilt dies in Hinblick auf den Geschlechterdiskurs: Schon bei Hanns Henny Jahnn wird alle Genealogie in einer symbolischen Verdichtung als explizit männliche gedeutet, wenn Jason Medea gegenüber mit dem Satz auftrumpft: ,,Sind meinen Lenden entsprungen nicht Knaben,/ die mannbar bereits?" (Med, 18f.) Medeas, in Müllers Stück selbst vollzogene Scheidung von Jason beinhaltet eine Absage sowohl an den Mann als Ehemann, wie an jegliche Typisierung überhaupt, die das immer wieder gleiche , zerstörerische Potential der Geschlechterverhältnisse entbindet. Dafür steht bei Müller die folgende Passage zentral:

Mit diesen meinen Händen der Barbarin

Händen zerlaugt zerstickt zerschunden vielmal Will ich die Menschheit in zwei Stücke brechen Und wohnen in der leeren Mitte Ich

Kein Weib kein Mann (VML, 97)

In die Geschlechterordnung eingebunden ist ein Familien- und Ehezyklus, der die ,,zirkuläre Reproduktion" perpetuiert. Auch dieser, und damit einer Menschheitsgeschichte, die Fortschritt und Kontinuität verbindet, erteilt Medea eine Absage. Im Verlauf des dramatischen Geschehens bei Hans Henny Jahnn und Heiner Müller versteht sie sich zunehmend als Schwester, nicht als Frau oder gar Mutter. Diese ,,horizontale Geschwisterallianz", so Genia Schulz, werde in ,,Müllers Geschichtsikonologie [...] gegen die vertikale Geschlechterfolge" kontrastiert.45 Symbolisch stellt die Weigerung weiterzumachen, stellt Medeas Ausweichen und Aufkündigen jeglicher Loyalität eine condition humaine in Frage, die - mit den Worten Heiner Müllers - noch stets in der ,,Politik der Macher"46 aufgegangen war und bis heute weit davon entfernt ist, einen ,,universale[n] Diskurs" zu stiften, der ,,nichts ausläßt und niemanden ausschließt."47

IV Die Gegenwärtigkeit des Mythos

Während der Mittelteil des Müller-Stücks eine dialogische Struktur und identifizierbare Handlungsträger hat, lassen die beiden umschließenden Teil den Leser über die jeweilige Sprecherinstanz im Unklaren. So wird im ersten Teil ,,Verkommenes Ufer Medeamaterial Landschaft mit Argonauten" ein Szenerie aufgebaut, in der sich ausschnitthaft Alltägliches, Traumatisches und Sexuelles zur fragmentarischen Beschreibung einer verwahrlosten Landschaft verdichtet. Im letzten Teil, der - dem Modus einer sukzessiven Rücknahme der Titelüberschriften folgend - nur noch ,,Landschaft mit Argonauten" heißt, tritt ein Ich in Erscheinung, das sich aber offensichtlich seiner selbst nicht gewiß ist:

Soll ich von mir reden Ich wer

Von wem ist die Rede wenn

Von mir die rede geht Ich Wer ist das (VML, 89)

Die Annahme drängt sich auf - und würde auch eine Verbindung zwischen den drei Textteilen stiften - daß es Jason ist, der hier spricht. ,,Ich meine Seefahrt/ Ich meine Landnahme" (VML, 98) stellt einen Bezug her, ebenso das noch deutlichere, in Majuskeln gedruckte: ,,MEIN GROSSVATER WAR/ IDIOT IN BÖOTIEN" (ebd.) Andererseits könnte es sich um das freie Assoziieren eines Theaterregisseurs oder des Autors selber handeln: Kriegs- und Filmszenen werden evoziert, ein ,,Rudel Schauspieler passiert im Gleichschritt" (VML, 100), Shakespeare wird namentlich erwähnt. Der gesamte dritte Textteil ist zudem so stark von Intertextualität geprägt, daß sich der Verdacht erhärtet, es nehme hier ein intellektueller Zeitgenosse die Welt in der einzig möglichen, noch Authentizität verbürgenden Weise wahr: fragmentarisch. Tatsächlich stellt dieser Text exemplarisch einen Zustand her, den Elisabeth Lenk ,,Achronie" genannt hat: dieser läßt sich als ein ,,Ineinander verschiedener Epochen" zwar schwer vorstellen, kann aber als Versuch bezeichnet werden, das plötzliche Nahetreten, den Einbruch der Vergangenheit in die Jetztzeit zu beschreiben. Der Mythos hat eine Gegenwärtigkeit, weil unsere heutigen Selbstverständnisse, Einstellungen und Normen in ihm ihren Ursprung haben; weil wir andererseits - so haben Fühmann und Kolakowski es gesehen - in den mythischen Gestalten und Kostellationen eine sinnhafte, präfigurierte Form unserer eigenen Erfahrungen und Befindlichkeiten vorfinden können, die den Umgang mit uns selbst und anderen erst ermöglicht.

Heiner Müller hat nach eigener Aussage in seinem Stück eine ,,Gesellschaft der Grenzüberschreitung" porträtiert:

Wie Mauser eine Gesellschaft der Grenzüberschreitung [...], setzt

LANDSCHAFT MIT ARGONAUTEN die Katastrophen vorraus, an denen die Menschheit arbeitet. Die Landschaft mag ein toter Stern sein, auf dem ein Suchtrupp aus einer anderen Zeit oder einem anderen Raum eine Stimme hört und einen Toten findet. Wie in jeder Landschaft ist das Ich in diesem Textteil kollektiv. (VML, 101)

Was aber haben die Katastrophen, ,,an denen die Menschheit arbeitet", und die unweigerlich an ,moderne` Kriege, Atompolitik, Umweltzerstörung oder Biogenetik denken lassen, mit dem Argonautenmythos zu tun? Heiner Müller selbst machte zu seinem Stück viele, aber nie eindeutige Anmerkungen. Wahrscheinlich hat Katharina Keim recht, wenn sie den ,,Schiffbruch", den der anonyme, in wechselnden Rollen auftretende ,Held` erleidet, seine ,,glücklose Landung" (VML, 99) in den Rang einer rezeptionsästhetischen Qualität erhebt, an dem der Leser teilhaben soll.48 Das Verschwinden der Zentralperspektive ist Programm, sie befreit den Leser aus dem Gefängnis gängiger Bedeutungen und von der Herrschaft der Autoren, die sie als quasi moderne Hohepriester verwalten. In einem Interview hat Müller einmal vorgeschlagen, sich Medea als ,,Türkin in der Bundesrepublik"49 vorzustellen. Der implizite Rassismus im Stück legt den Bezug zur Gastarbeiterthematik nahe. Den Bezug zu Jason und den Argonauten stellt ein anderer, gewiegterer Kommentar Müllers im selben Gepräch her:

Mit der Kolonisierung beginnt die europäische Geschichte, so wie sie bisher

gelaufen ist. Daß das Vehikel der Kolonisierung den Kolonisator erschlägt,

deutet auf ihr Ende voraus. Das ist die Drohung des Endes, vor dem wir stehen. Das ,,Ende des Wachstums".50

Ist vor allem von westlicher Seite aus Heiner Müllers Mythenadaptionen stets ein - stalinistische Verhältnisse kritisierender - geheimer Subtext unterstellt worden, so illustrieren sie doch auch eine generelle condition humaine, die sich ,,in den letzten Jahrhunderten ganz wenig verändert hat."51

Wolfgang Emmerich52 hat anhand dreier Dramen Müllers exemplifiziert, wie die in ihnen zur Darstellung gebrachten Muster kollektiver Erfahrungen jenseits aller Fortschrittsphraseologie nach wie vor gültig sind: In ,,Philoktet" (1964) ist es das sehr zeitgemäße Motiv der Brauchbarkeit gemäß politisch-rationaler Kalküle. Odysseus ,,vermarktet" hier den Körper des von ihm ermordeten ,,toten Funktionärs" Philoktet und lastet den Mord den Trojanern an, um die Kampfesmoral zu stärken. In ,,Ödipus Tyrann" (1966) entzieht sich der Held im Akt der Selbstblendung aller Verantwortung - hier ist es das Motiv des bewußten Ab-Sehens von aller Wirklichkeit und der Flucht in eine rücksichtslose ,reine Vernunft`. Die Parallele zu der von etlichen Wissenschaftler, die im Dritten Reich forschten und wirkten, noch heute geleugneten Schuld, ist offensichtlich. Der Argonaut Jason nun tritt als der Typus des ,,Machers" in Erscheinung, der Kolonisations- und Heiratspolitik unter rein rationalen Gesichtspunkten betreibt. Es ist dies das Motiv einer in letzter Instanz selbstzerstörerischen Kolonisation von Mensch und Lebenswelt, auf das Müller in seinen Kommentaren hingewiesen hat.

Alle drei Figuren werden zu Modellen für die "Genese des modernen Vernunftprinzips bis hin zur pur instrumentellen Vernunft"53 - einer Entwicklung, die bereits Horkheimer und Adorno in ihrer ,,Dialektik der Aufklärung" mit gelehrtem Schrecken registriert haben. Der verdrängte Terror (besonders der von der kapitaistischen Ersten gegenüber der Dritten Welt ausgeübte, aber auch Frauen, Kindern, Minderheiten gegenüber) ist nicht verschwunden - Müller bringt ihn in einer Theatralik der Grausamkeit und extremen Körpererfahrung zu Bewußtsein. Wie Jahnn - und insofern ist dieser Rezeptionsstrang kein Zufall - nähert er sich damit wieder der ursprünglich-vitalen Funktion der Tragödie: dem Katharsis-Effekt, den er an die Stelle einer von Brecht-Adepten in der DDR überreizten "Didaktik des platten Verstehens" setzt.

Freilich zeichnen solche Interpretation und die von Müller selbst genährten Deutungen ein äußerst geschichtspesimistisches Bild, für das Friedrich Nietzsche mit seinem Satz von der ewigen ,,Wiederkehr des Gleichen" Modell gestanden hat. Und tatsächlich wird zwar durch die Konstruktion einer geschichtlichen Kontinuität - die den antiken Gründungsmythos als Substrat zeitgenössischer Herrschaftsverhältnisse und Ohnmachtserfahrungen behauptet - die Notwendigkeit einer historischen Transdendenz begründet, alle diesbezüglichen Hoffnungen aber mit dem Scheitern Medeas exemplarisch abgetan. Neben den Frauen bieten auch die Dritte Welt (,,Die toten Neger/ Wie Pfähle in den Sumpf gerammt/ In den Uniformen ihrer Feinde" - VML, 100) und die Idee eines ,,Dritten Weges" (,,Oder der jugoslawische Traum..." - VML, 99) keinen Fixpunkt mehr, an dem sich revolutionäres Potential für eine Durchbrechung des circulus vitiosus sammeln könnte. Heiner Müller hat einmal geschrieben: ,,Wie sind bei uns nicht angekommen, solange Shakespeare unsre Stücke schreibt."54 Der Terror Shakespeares ist auch der Terror, der in den antiken Mythen waltet, seine von Müller und Jahnn behauptete Fortexistenz ist es, die allein die Aktualität der alten Geschichten verbürgt. Die oben gestellte Frage, ob eine Zeit denkbar ist, in der sie uns nicht mehr betreffen oder betroffen machen, kann erst dann bejaht werden, wenn wir - in Müllers Worten - ,,bei uns angekommen" sind. Erst dann werden Medea und Shakespeare uns nichts mehr - oder aber andres zu sagen haben.

[...]


1 Die Bezeichnung ,,gesunkenes Kulturgut" hat der Germanist und Volkskundler Hans Naumann (1886-1951) geprägt. Gemeint sind z.B. Begriffe und stilbildende Artefakte, die vom Exklusiv- zum allmählichen Gemeingut werden.

2 Dergleichen Vorwürfe machen schon Solon und Xenophanes; vgl. Walter Burkert, Mythos und Mythologie, in: Erika Wischer (Hrsg.), Propyläen Geschichte der Literatur, Bd.1, Berlin 1988, S. 27

3 Roland Barthes, Mythen des Alltags, Frankfurt a.M. 1964, S. 92

4 Klaus Heinrich, Die Funktion der Genealogie im Mythos, in: ders., Parmenides und Jona. Vier Studienüber das Verhältnis von Philosophie und Mythologie, Basel u. Frankfurt a.M. 1992, S. 11

5 alle Zitate: R. Barthes, Mythen..., a.a.O., S. 85

6 ebd., S. 88

7 Jean Pouillon, Die mythische Funktion, in: Claude Levi-Strauss/ Jean-Pierre Vernant (Hrsg.), Mythos ohne Illusion, Frankfurt a.M. 1984, S. 69

8 ebd., S. 72

9 Duden. Das Fremdwörterlexikon, Mannheim/ Wien/ Zürich 1990, Stichw. Theogonie, S. 777; unter dem Stichw. Mythos führt das Lexikon als ersten Eintrag die Def. Göttergeschichte

10 K. Heinrich, Die Funktion..., a.a.O., S. 13; Hervorhebungen vom Verfasser

11 ebd., S. 11 u. S. 17

12 ebd., S. 12

13 ebd., S. 13

14 vgl. Leszek Kolakowski, Die Gegewärtigkeit des Mythos, München 1974

15 vgl. Franz Fühmann, Das mythische Element in der Literatur, in: ders., Marsyas. Mythos und Traum, Leipzig 1993

16 vgl. ebd., S. 438f. u. Hiob 6,1-3

17 F. Fühmann, Das mythische Element..., a.a.O., S. 440; Hervorhebung vom Verf.

18 ebd., S. 447

19 ebd., S. 421

20 Katharina Keim, Theatralität in den späten Dramen Heiner Müllers, Tübingen 1998, S. 101, Anm.1

21 Apollonios Rhodios (3. Jh. v. Chr.) schrieb die Argonautika. Sein Epos ist zwar jüngeren Datums als die Medea des Euripides, greift aber wohl auf eine ältere Sage zurück, der zufolge Medeas Kinder ,,entweder von den Korinthern oder ihren königlichen Anverwandten getötet wurden." - vgl. J.J.C. Donners Nachwort zur Reclamausgabe von Euripides, Medea, Stuttgart 1972, S. 64

22 R. Barthes, Mythen..., a.a.O., S. 86

23 Friedrich Engels, Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats, in: Karl Marx/ Friedrich Engels, Ausgewählte Schriften in zwei Bänden, Bd. 2, Berlin 1970, S. 159

24 vgl. Aristoteles, Poetik, Stuttgart 1982, Kap.6, S. 19

25 in: Heiner Müller, Herzstück, Berlin 1983, S. 91-101; folgende Zitate unter der Sigle ,VML`

26 Norbert Otto Eke, Heiner Müller. Apokalypse und Utopie, Paderborn/ München/ Wien/ Zürich 1989, S. 191

27 Heiner Müller, Literatur mußdem Theater Widerstand leisten. Ein Gespräch mit Horst Laube, in: ders. , Gesammelte Irrtümer. Interviews und Gespräche, Frankfurt a.M. 1986, S. 18

28 vgl. K. Keim, Theatralität..., a.a.O., S. 104

29 Heiner Müller, Krieg ohne Schlacht. Leben in zwei Diktaturen, Köln 1992, S. 319f.

30 Hans Henny Jahnn, Medea, Stuttgart 1966, jeweils S. 30 u. S. 46; folgende Zitate unter der Sigle ,Med`

31 Bertolt Brecht, Ü ber reimlose Lyrik mit unregelm äß igen Rhythmen, in: Sinn und Form. Beiträge zur Literatur, Berlin 1951/6, S. 44; Jahnn und Müller verfahren ganz im Sinne Brechts, dem ,,die ölige Glätte des üblichen fünfhebigen Jambus" für den lyrischen und dramatischen Gebrauch widerstebte - vgl. ebd., S. 42

32 vgl. Aristoteles, Poetik..., a.a.O., Kap. 25, S. 93f. ; Aristoteles bekräftigt den ,,Vorwurf der Ungereimtheit" gegenüber der Medea des Euripides. Im Grunde liegt die Peripetie, die Erkenntnis des Verrats, dem tragischen Geschehen schon vorraus, zum Auslöser der Tat wird ein ,deus ex machina`: König Ageus, der Medea seinen bedingungslosen Schutz verspricht

33 Heiner Müller, Shakespeare eine Differenz, in: Frank Hörnigk (Hrsg.), Heiner Müller Material, Leipzig 1989

34 Ein bezeichnendes Beispiel für solch abrupten Wechsel des Sprechmodus sind die Verse:,, Du bist mir einen Bruder schuldig Jason/ Nicht lange kann ich hassen was du liebst/ Die Liebe kommt und geht Nicht weise war ich/ Das zu vergessen/ Zwischen uns kein Groll" - VML, S. 96

35 vgl. Euripides, Medea, a.a.O., S. 28

36 Gottfried Benn, Einleitung zur Lyrik des expressionistischen Jahrzehnts. In: ders., Gesammelte Werke in vier Bänden, Stuttgart, o.J., Bd. 4, S. 387

37 Kulminations- oder Höhepunkt ist diese Szene aufgrund ihrer handlungsimmanenten Spannung und stilistischen Verdichtung (Anaphorisierung, kurze Sinneinheiten, modale Wechsel). Es gibt freilich keine Peripetie im dramentechnischen Sinn, da bei Müller die dramatische Rede kein Handlungsträger ist und lediglich die Katastrophe, nicht aber die Katastase zur Darstellung gebracht wird.

38 Vgl. die Arbeiten von René Girard, Das Heilige und die Gewalt, Frankfurt am Main 1992, und bes.: ders., Der Sündenbock, Zürich/ Düsseldorf 1988

39 Heiner Müller, Blut ist im Schuh oder das Rätsel der Freiheit. Für Pina Bausch, in: Frank Hörnigk (Hrsg.), Heiner Müller Material. Texte und Kommentare, Leipzig 1990, S. 58

40 Vgl. Max Horkheimer/ Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, Frankfurt am Main 1988, S. 15ff

41 Heinz Ludwig Arnold, Hans Henny Jahnn und seine Medea, in: Med, S. 79-86

42 ebd., S. 86

43 Genia Schulz, Medea. Zu einem Motiv im Werk Heiner Müllers, in: Renate Berger/ Inge Stephan (Hrsg.), Weiblichkeit und Tod in der Literatur, Köln/ Wien 1987, S. 251f. u. Anm. 27

44 N. O. Eke, Heiner Müller. Apokalypse und Utopie, a.a.O., S. 209

45 G. Schulz, a.a.O., S. 252

46 Heiner Müller , Brief an den Regisseur der bulgarischen Erstaufführung von Philoktet am dramatischen Theater Sofia, in: ders., Herzstück, Berlin 1983, S. 104. Das Zitat ist aufschlußreich, weil hier neben Odysseus als Aktivist politischer Taktiererei auch Jason genannt wird: ,,Wie Jason, der erste Kolonisator, der auf der Schwelle vom Mythos zur Geschichte von seinem Fahrzeug erschlagen wird, ist Odysseus eine Figur der Grenzüberschreitung. Mit ihm geht die Geschichte der Völker in der Politik der Macher auf, verliert das Schicksal sein Gesicht und wird die Maske der Manipulation."

47 Heiner Müller, Der Schrecken die erste Erscheinung des Neuen. Zu einer Diskussionüber Postmodernismus in New York, in: Frank Hörnigk (Hrsg.), Heiner Müller Material. Texte und Kommentare, Leipzig 1990, S. 24

48 vgl. K. Keim, a.a.O., S. 117ff.

49 Was ein Kunstwerk kann, ist Sehnsucht wecken nach einem anderen Zusatnd der Welt. Heiner Müller im Gespräch mit Urs Jenny und Hellmuth Karasek, in: Heiner Müller, Gesammelte Irrtümer, Frankfurt am Main 1986, S. 131

50 ebd.

51 Die Form entsteht aus dem Maskieren. Heiner Müller im Gespräch mit Olivier Ortolani, in: ebd., S. 149

52 Wolfgang Emmerich, Der vernünftige, der schreckliche Mythos. Heiner Müllers Umgang mit der griechischen Mythologie, in: F. Hörnigk (Hrsg.): Heiner Müller Material, a.a.O., S. 138-156

53 ebd., S. 153

54 Heiner Müller, Shakespeare eine Differenz, in: ebd., S. 106

Ende der Leseprobe aus 26 Seiten

Details

Titel
Medea - Zur Adaption eines mythologischen Topos in den Dramen Hans Henny Jahnns und Heiner Müllers
Hochschule
Humboldt-Universität zu Berlin
Autor
Jahr
2000
Seiten
26
Katalognummer
V97472
ISBN (eBook)
9783638959247
Dateigröße
514 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Medea, Adaption, Topos, Dramen, Hans, Henny, Jahnns, Heiner, Müllers
Arbeit zitieren
Denis Heyn (Autor:in), 2000, Medea - Zur Adaption eines mythologischen Topos in den Dramen Hans Henny Jahnns und Heiner Müllers, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/97472

Kommentare

  • Gast am 15.5.2003

    Deutung von Müllers Bildern.

    Ich frage mich, ob die Metaphern bei Heiner Müller wirklich als präzis anzusprechen sind?
    Sie stammen aus einem materialistischem, kreatürlichem Umfeld, aber die Beudtungen sind doch vieldeutig?

Blick ins Buch
Titel: Medea - Zur Adaption eines mythologischen Topos in den Dramen Hans Henny Jahnns und Heiner Müllers



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