Kierkegaards Trinkgelage


Seminararbeit, 2000

7 Seiten


Leseprobe


I. Zum Aufbau der Stadien

Ähnlich dem Meisterwerk Entweder-Oder sind die Stadien auf des Lebens Weg 1 in vielfältiger Weise verschachtelt im Zusammenspiel der Pseudonyme, die in diesem Falle auch noch innerhalb der Stadien, namentlich im Symposion, aufeinander treffen. Dieses geistreiche Verwirrspiel zu lichten sowie das Gastmahl der Pseudonyme eher einordnen zu können, soll zuerst der gesamte Text in seiner formalen Beschaffenheit wiedergegeben werden.

Sämtlich herausgegeben sind die Stadien von Hilarius Buchbinder, der, seinem Namen gemäß, Buch- binder ist. Einst, so steht es in seinem Bericht, erhielt er von einem Unbekannten Herrn Literatus ei- nen Packen Papiere für den Druck mit dem Hinweis, daß es damit keine Eile habe. Der Literat ver- stirbt und die Papiere werden durch Erbschaft an ungenannte Mitglieder seiner Familie zurückgeführt. Einige lose Papiere jedoch finden sich irgendwann in einer Ecke der Werkstatt. Seine Frau bittet ihn, diese doch zu heften, auf daß sie nicht überall herumflögen. Der Buchbinder bindet das Buch und liest, so es ihm die Zeit erlaubt ein wenig darin herum. Die schöne Schrift des Textes veranlaßt ihn, seine Kinder gelegentlich daraus abschreiben oder vorlesen zu lassen. Ein später engagierter, philosophisch bewanderter Hauslehrer bekommt diese gebundenen Blätter in die Hände. Er leiht sie und bringt sie in den höchsten Tönen lobend wieder zurück, obwohl der Buchbinder sie ihm schenken wollte. Er emp- fiehlt ihm, die Papiere in den Buchhandel zu geben mit der Bedingung, daß er 10 Taler und gelegent- lich etwas Wein bekomme, so die Herausgabe einen Erfolg nach sich ziehen sollte.

Innerhalb der Schriften nun, die von Hilarius Buchbinder herausgegeben und vom Literatus verfasst sind, findet sich folgende Struktur:

1 -In Vino Veritas

Eine Erinnerung nacherzählt von William Afham

Zum Schluß des Gastmahls treten die Teilnehmer zu einer Hütte, in der Gerichtsrat Wilhelm und seine Frau in häuslicher Eintracht Tee trinken. Sie stehen auf und begeben sich zum Haus. Victor Eremeita folgt ihnen, dringt in ihr Haus ein und stiehlt paar Blätter des Gerichtsrates, die er, ähnlich in Enwe- der-Oder, herauszugeben gedenkt. Hier tritt der große Unsichtbare auf und stiehlt wiederum ihm die Blätter. Der große Unsichtbare wird dargestellt als das reine Sein, das aus Hegels Wissenschaft der Logik stammt.

2 -Allerlei Über Die Ehe Wider Einwände

Von einem Ehemann (der Gerichtsrat Wilhelm)

3 -Schuldig?-Nicht Schuldig?

Eine Leidensgeschichte, Psychologisches Experiment von Frater Taciturnus

Frater Taciturnus begibt sich mit einem Freund, der wissenschaftliche Untersuchungen anstellen will, auf einen See. Der Freund holt mit einem Gerät Seepflanzen vom Boden des Sees herauf. Frater Taci- turnus leiht sich das Gerät und fischt eine in Wachstuch eingeschlagene Truhe unter Mühen aus dem Wasser. In der Truhe finden sich einige recht wertvolle Stücke und einige Dinge, die, wie Taciturnus vermutet, nur ideellen Wert für den Besitzer gehabt haben können. Außerdem findet sich in der Truhe ein Packen Blätter: die Leidensgeschichte des Quidam, die hier von Taciturnus herausgegeben vor- liegt.

Zum psychologischen Experiment gehört weiterhin eine Zuschrift an den Leser, in der Frater Taciturnus die Leidensgeschichte analysiert.

II. Zum Aufbau des Gastmahls

In der von William Afham nacherzählten Schrift finden sich als Bestandteile die

1-Die Vorerinnerung (mit grundlegender philosophischer Betrachtung für das Gastmahl) 2-Die Vorbereitung zum Gastmahl

3-Das Gastmahl mit den Reden

4-Die Zerstörung der Räumlichkeiten, der Aufbruch bzw. Übergang zum Teil des Ethikers

II.1. Die Vorerinnerung

Im ersten Teil von In Vino Veritas gibt Afham eine Erklärung der Dialektik zwischen Gedächtnis und Erinnerung. Als grundlegend wird der Unterschied gemacht, daß Erinnerung nicht zu übertragen ist, wie es mit denen im Gedächtnis gehaltenen Fakten möglich ist. Mit dieser Unterscheidung wird der Erinnerung ein weit ideelleres Maß zugesprochen als dem Gedächtnis. Um sich erinnern zu können, sind bestimmte Bedingungen unumgänglich. Die Erinnerung muß (1) besonders genau sein und sie muß (2) einen angenehmen, glücklichen Charakter haben. Der diese Dialektik gründende Gedanke für das folgende Gastmahl ist, daß „...das Erlebte nicht zu jeder beliebigen Zeit oder in jeder beliebigen Umgebung bereitet [ist] für die Erinnerung, für das Eingehen in die Er-Innerung.“2 Weiter ist bezeich- nend, daß alles mögliche im Gedächtnis gehalten werden kann ohne sich deshalb irgend daran zu erin- nern. Das bedeutet auch die Möglichkeit, die Dinge des Gedächtnisses zu vergessen, was der Erinne- rung unmöglich ist. Vergessen werden kann nur, was mit dem, der das Gedächtnis innehat nichts zu tun hat, was gegenüber diesem indifferent ist und nichts mit seinem Erleben zu tun hat. Anders die Erinnerung. Sie bestimmt sich aus dem wesentlich genannten Verhältnis des sich Erinnernden und dem einst erlebten, dem Erinnerten. Die Möglichkeiten der Erinnerung werden aufgrund ihres reflexi- ven Charakters gegliedert in Stufen der Kunstfertigkeit, mit der die Erinnerung betrieben weren kann. Es gibt da die Möglichkeit, die Erinnerung negativ zu bestimmen, indem der Eindruck, der erinnert wird, durch die genaue Vergegenwärtigung der Umstände, die Angelegenheit des Gedächtnisses sind, in seiner Stimmung zerstört wird. Extrem deutlich wird hier eine Kategorie des Gegensatzes, in der das Subjekt durch Negation einer Objektwelt in der Lage ist seine Umwelt aus sich selbst heraus zu schaffen oder vielmehr zu dichten.3

Diese Gedanken der Erinnerung sind zentral für das ganze Gastmahl, in dem sich immer wieder Übertragungen dieses Gegensatzes finden. Die Erinnerung Afhams an dieses Gastmahl ist die erste Übertragung dieser Gedanken. Aus einer Umsetzung der Reflexionskunst begibt sich Afham in ein Stück Wald zu einer Zeit, die möglichst wenig an äußeren Eindrücken bringt, welche die Erinnerung stören könnten, um sie somit zu begünstigen.

II.2. Die Vorbereitung

Weiter trägt sich dieser Gedanke (2) in die Organisation des Gastmahls, das in einem weitab gelege- nen Haus stattfindet, welches, zuvor durch allerlei Dekorationsmaterial ausgestattet, den Eindruck des perfekten Umstandes für eine gelungene Erinnerung abgeben soll. Darum auch sämtliche Vorsichts- maßnahmen zur Überfülle sämtlicher Weine und Speisen. Selbst die Anreise der Gäste ist in eine Zeit verlegt, zu der die Umgebung sich so sehr einnehmend zeigt, daß die Gedanken der Teilnehmer nicht in Versuchung geraten, durch Erwartungen an das Gastmahl dessen tatsächlichen Wert zu zerstören. Um eine perfekte Erinnerung aus diesem Symposion zu machen wird zum Ende das ganze Ambiente zerstört als symbolische Handlung für das Vergessen der Umstände, die für das Gedächtnis von fakti- schem Bestand seien könnten.

Bevor das Gastmahl beginnt treffen sich die Teilnehmer in einer Konditorei. Die Teilnehmer sind Jo- hannes der Verführer, Victor Eremita, Constantin Constantius, ein junger Mensch sowie ein Mode- händler, der nach Angabe des Herausgebers die literaturtechnische Kontrastfigur zu den übrigen Teil- nehmern ist.

Hier sprechen die Teilnehmer zum ersten male über das Gastmahl und eine Realisation. Victor Eremi- ta spricht sich gegen ein Verwirklichen aus, da der erinnerungswürdige Eindruck nur unmittelbar ge- schehen könne, daß es Bedingung sei, um den Augenblick auf der Spitze halten zu können und jetzt, nachdem sie darüber gesprochen haben, die Phantasie schon genug davon habe. Innerhalb dieses phan- tastischen Gespräches stellt Viktor die Bedingungen für ein gelingendes Gastmahl auf. Dies ist vor allem ein Übereinstimmen von Nebenumständen und Stimmung, das aber unmittelbar gegeben sein muß. Die Bemerkung, mit der Viktor sich schon im vorhinein als Zyniker charakterisiert ist, daß, soll- ten die Umstände der Stimmung nicht adäquat sein, die Erinnerung schlecht ausfallen könnte. Viktor begibt sich schon hier in einen Zirkel, aus dem es kein entrinnen gibt, da jede Reflexion den Augen- blick zerstört, den er erhalten will, dieser aber auch mißlingen kann. Victor ist kein wirklich dichten- der Ästhet, da ihn sein reflektiert-skeptischer Zweifel am unbedingten Augenblick hindert.

Während alle anderen die Idee vom Gastmahl längst vergessen haben, hat Constantin Constantius alles bereitet und lädt zum Abend in das reich geschmückte Haus.

II.4. Das Gastmahl mit den Reden

Während des schon fortgeschrittenen Mahls meldet Constantin den Wunsch, das Treffen mit kurzen Beiträgen zu beschließen, welche die Liebe oder doch das Verhältnis zwischen den Geschlechtern zum Gegenstand haben sollten. Es sprechen in der Reihenfolge (1) der junge Mensch, (2) Constantin Constantius, (3) Victor Eremita, (4) der Modehändler und letztlich (5) der Verführer Johannes.

Die Rede des jungen Menschen

Zuerst gesteht der junge Mensch, noch nie ein Liebesverhältnis gehabt zu haben aber durchaus darüber sprechen zu können, da es verwerflich wäre, sich im Nachhinein, also nach einem Liebesverhältnis Vorwürfe machen zu müssen, man hätte sich vorher keine Gedanken darüber gemacht. Diese Gedan- ken, die er sich bisher darüber gemacht hat besagen, daß die Liebe komisch sei. Das Komische an der Liebe sei der Widerspruch. Dieses Komische nun zeigt sich, wenn Reflexion als drittes Moment hin- zukommt zu einem Verhältnis, das lediglich zwei sich liebende für seine Idealität verträgt. Was ihm komisch scheint ist, daß die Liebe sich nicht erklären läßt. Dies Unerklärliche bereitet ihm große Sor- ge, da es auch ihm geschehen kann, daß dies Unerklärliche ihn erfaßt. Somit ist die Angst des jungen Menschen die, lächerlich zu werden durch das Unerklärliche: „...somit will ich nicht lieben, aber ach, damit bin ich der Gefahr noch nicht entronnen, denn da ich nicht weiß, was das Liebenswerte sein mag, wie es über mich kommen, oder wie es in Beziehung auf mich über ein Weib kommen mag, so kann ich nicht mit Sicherheit wissen, ob ich der Gefahr entronnen bin.“4 Der selbstbezogene Mensch fährt fort den Widerspruch zu erläutern, welcher ihm in der sinnlichen Symbolik Liebender im Ver- hältnis zur seelischen Idealität der Liebe liegt. Das Ideal der Liebe sei nämlich in den Handlungen Liebender keineswegs wiederzufinden: „Ich habe das Komische also gefunden in jenem Umschlagen es Erotischen, gemäß welchem das Höchste einer Sphäre nicht in dieser selbst ihren Ausdruck findet, sondern in dem strickt Entgegengesetzten aus einer anderen Sphäre“5. Ein weiterer Widerspruch zur Idealität der Liebe ist ihm die Elternschaft, die den Menschen als Individuum der Art Mensch unter- ordnet und darum den Menschen lächerlich macht.

- die Rede des Constantin Constantius

Die Rede beginnt, nach kurzer Kritik des jungen Menschen, mit der Feststellung, daß das Weib einzig unter der Kategorie ‚Scherz‘ begriffen werden kann. Dies ergebe sich aus ihrem relationalen Wesen, das dem Unbedingten des Mannes entgegengesetzt sei. Darum ist auch eine wahre Wechselbeziehung unmöglich. Aber Constantin geht noch weiter indem er das Weib zur Belustigung des Mannes be- stimmt („Je begabter ein Weib ist, umso unterhaltsamer wird das Ding“6 ) und, nach rassistischer Ne- benbemerkung, das Weib als schlicht und ergreifend schwächeres Geschlecht abstempelt, das wohl unterhaltsam, also unter ästhetischen Kategorien erfreuend, unter ethischer Betrachtungsweise aber zerrinnt.

- die Rede des Victor Eremita

Der Zyniker Victor dankt in seiner Rede vorab, nicht als Weib geboren zu sein. Weib sein bedeutet, sich in dem Widerspruch zu verfangen, ein unendlich sinnloses Dasein zu führen und, was noch schlimmer ist, das noch nicht einmal zu wissen. Daraus leitet er die illusionäre Lebensweise ab, die das Weib zum geringeren Geschlecht mache. Darum auch stünde ihr die Galanterie zu, weil sie, als schwächere, das Recht hat mit Vorzug behandelt zu werden, dies habe die Natur so eingerichtet. Das Weib aber empfinde diese Galanterie nicht als solche, da sie diese für wahr hält, was Viktor zu meinen veranlaßt, daß es viel peinlicher sei, „ ... dies in einer Einbildung [zu] besitzen, nicht etwa im Elend geknechtet [...], sondern in eine Einbildung hineingelockt [zu] sein ...“7 Die für ihn ausschlaggebende Kategorie zu Erfassung des Weibes ist das Phantastische. Das meint die Galanterie, mit der das Weib behandelt wird von Seiten des Mannes, obwohl dieser weiß, daß es phantastisch ist, was er tut. Die Abwertung nimmt ihren Verlauf im Funktionalisieren des Liebesverhältnisses zu Ruhm und Heldentat des Mannes. Dieses ist das negative Verhältnis, also die gescheiterte Beziehung, die einen Mann zum Dichter, zum Helden macht. Bedingung ist, daß er kein positives Verhältnis zum Weib hat. Er muß sie verlieren, nicht bekommen oder sonst irgendwie verfehlen, um der aus Negativität potentiell entste- henden neuen Positivität den Platz zu geben. Darunter, daß ein Weib durch negative Beziehung dem Manne ein heldenhaftes Dasein ermöglicht, versteht Victor die Idealität des Weibes. Daher schimpft er auch auf die Ehe, die dem Weib jede derart bestimmte Idealität raubt: „Des Weibes ganze Bedeutung ist negativ, im Vergleich damit ist ihr Positives ein Nichts, ja, ist vielleicht gar eher verderblich.“8 Hier teilt er die Idealität des Weibes in zwei Möglichkeiten: zum einen ist das Weib in der Lage, den Mann zu größtmöglicher Endlichkeit zu verhelfen und zum anderen, ihn, wenn auch durch Schmerzen, im unendlichen Sinne groß zu machen.

Die Ehe nun ist für Victor am unheimlichsten dadurch, daß eine so komplexe und äußerst schwierige Angelegenheit sich in unmittelbarer Einheit, allen ihren Bestandteilen gerecht werdend ausdrückt. Dies würde Viktor für eine große Tat halten, wenn es denn jemandem gelingen sollte. Somit gelangt die Rede zum Schluß, daß jedes Verhältnis zum Weibe eine Abhängigkeit und damit ein Zugeständnis an das Weib impliziert.

- die Rede des Modeh ä ndlers

Als literarische Kontrastfigur dem Gastmahl beigefügt betrachtet erklärt sich die seltsam unpassende Stimmung in der Rede des Modehändlers, die wenig reflektiert sich einzig in der Behauptung verfängt, daß ein Weib sich lediglich unter äußeren materiellen Kategorien verstehen läßt.

- die Rede des Verführers Johannes

Gegenüber den vorangegangenen Rednern ist Johannes verärgert über die Abweisung des weiblichen Geschlechtes, was evident wird, betrachtet man seine Prämisse des Genusses: „Wer im Alter von 20 Jahren nicht begreift, daß es einen kategorischen Imperativ gibt, der da ‚genieße‘ heißt, ist ein Narr, und wer nicht zugreift, bleibt ein Tölpel.“9 Entgegen den anderen Teilnehmern ist ihm das Weib, wie es ist, ganz recht und ein galantes Verhalten „..kostet nichts, und bringt alles, und bedingt jeglichen erotischen Genuß.“10 Johannes erkennt dem Weib also einiges mehr zu, wie es scheint. Auch meint er sich nicht so sehr vom Weibe betrogen, wie es die Anderen seien. Entschieden voraus hat er Victor, daß er die Entscheidung nicht der zweifelnden Skepsis unterzieht, sondern sie aus Begierde fällt.

Entgegen den vorangegangenen Abwertungen hält Johannes das Weib für weit vollendeter denn den Mann. Er beschreibt dies in einer Dichtung:

Einst, so Johannes, betrachteten und besahen die Götter sich den Mann genauer. Also wurden sie et- was ängstlich ob des perfekten Geschöpfes, daß es ihnen wohl überlegen sein könnte, sich gar gegen sie erheben könne. So erdachten sie aus Notwendigkeit eine Idee, die jenes Geschöpf bändigen könne. Es zurückzunehmen war unmöglich, da es einem Ungedacht-Machen eines Gedankens gleichgekom- men wäre. Also schufen die Götter das Weib, ob deren Erfindung sie nicht aufhörten, sich selbst zu preisen. Dies mußte doch wohl ein höchstes Wesen sein, da es ja vermochte, was den Göttern ver- wehrt geblieben. Und die Gleichung ging auf, der Mann ward verstrickt in die Endlichkeit. Doch gab es auch die Ausnahme, ein Hintenherum einiger Weniger, zu denen sich der Verführer zählt. Diese nämlich wissen, was der Götter Absicht und machen sie sich so zu Nutzen, sie genießen den Betrug ohne betrogen zu werden. Sie sind somit die Erotiker schlechthin, verstehend um des Weibes Geheim- nis. So werden sie denn Verführer genannt, obwohl sie doch die einzig wirklich Verstehenden sind. An dieser Stelle den Mythos verlassend, spricht Johannes im Weiteren nicht anders als vorher schon in der mythischen Sprache, die kaum zu fassen ist.

Im Mann, so meint Johannes, sind Idee und Begriff eines, er ist die Gegenwart der Idee des Mannes in Person. Ganz anders beim Weibe, deren Idee erschöpft sich keinesfalls in der Gegenwart eines Weibes und daher ist sie dem Mann nicht ebenbürtig. Eigentlich stammt das Weib ja auch vom Manne, der von den Göttern geteilt wurde. Damit wäre ein Gleichgewicht gegeben, das sich jedoch verflüchtigt in der Endlichkeit des Weibes, in der ein Weib die vielen Weiber repräsentiert. Aus eben diesem Grunde ist das Weib nicht zu verstehen, weil sie die Unendlichkeit der Endlichkeiten ist. Die Begierde des Mannes findet sich im Schauen des Weibes, in dem er etwas dem Dasein ursprüngliches wiederfindet, etwas, das schon zu ihm gehört aber erst hier sich zeigt, so daß er es erfahren kann. Sowenig er die völlige Nähe wagt, so wenig kann er seiner Begierde Einhalt gebieten. Um diese Besonderheit des Weibes wußten denn auch die Götter und erdachten, um nicht die Gefahr mit dem Manne desgleichen auch mit dem Weib zu wiederholen, sie nichts von ihrer Schönheit wissen zu lassen, was ihre Krone sei, ihr von den Göttern aufgesetzt ward in Form der unschuldigen Unwissenheit, der Scham, in un- durchdringlichem Geheimnis. Und gerade dies sei ihre größte Versuchung geworden, daß sie nichts von ihrer eigenen Schönheit weiß. Aber der Verführer weiß um dies alles und schließt, „Da das Weib ein Betrug der Götter ist, ist der wahre Ausdruck dieser: sie will verführt werden; und da das Weib keine Idee ist, so ist die Wahrheit, die darin liegt: der Erotiker will so viele lieben als möglich.“11 Da- mit schadet er dem Weib nicht etwa, er macht sie damit selig und bereitet sie auf die Ehe vor. Denn nur ein verführtes Weib taugt wirklich zur Ehe. Das negative Pendant zum Glück der Verführung ist die Ehe als Ausdruck des Sieges der Götter. Ist der Verführer und die Verführte im Verführen zeitlos, gewinnt in der Ehe die Zeit jene Überhand, die das Weib zu dem zurückbildet, aus dem die Götter sie gemacht haben. Das Weib erweist hier ihr Wesen in der Zufälligkeit entgegen dem Wesen des Man- nes, das schlechthin wesentlich ist.

[...]


1 Kierkegaard, Søren, Stadien auf des Lebens Weg, Gesammelte Werke Abt. 15, hg. v. E. Hirsch u. H. Gerdes, Gütersloh 1991 3

2 Kierkegaard, Stadien..., S. 9

3 Vgl. Kierkegaard, Tagebuch des Verführers; Adorno, Kierkegaard-Konstruktion des Ästhetischen 3

4 Kierkegaard, Stadien..., S. 39

5 Ebenda, S. 43

6 Ebenda, S. 53

7 Ebenda, S. 59 f

8 Ebenda, S. 64

9 Ebenda, S. 76

10 Ebenda, S. 76

11 Ebenda, S. 82

Ende der Leseprobe aus 7 Seiten

Details

Titel
Kierkegaards Trinkgelage
Autor
Jahr
2000
Seiten
7
Katalognummer
V97780
ISBN (eBook)
9783638962315
Dateigröße
340 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Beitrag zum exuniversitären Symposion zu Kierkegaards `in vino veritas`
Schlagworte
Kierkegaards, Trinkgelage
Arbeit zitieren
Tilman Staemmler (Autor:in), 2000, Kierkegaards Trinkgelage, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/97780

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Titel: Kierkegaards Trinkgelage



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