Das Cantilever-Argument. Globale Bewegungsfreiheit als "logische Erweiterung" der innerstaatlichen Bewegungsfreiheit


Bachelorarbeit, 2018

37 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Globale Bewegungsfreiheit und Versuche zu ihrer Rechtfertigung

3. Das Cantilever-Argument

4. Einwände gegen das Cantilever-Argument
4.1 Die Adequacy-Objection
4.2 Menschenrecht im weiten Sinn
4.3 Auf den globalen Fall nicht übertragbare Rechtfertigungsgründe

5. Analogieschlüsse und logische Notwendigkeit

6. Fazit

7. Literatur

1. Einleitung

Die Frage nach den Herausforderungen globaler Migrationsbewegungen entfachte in den letzten Jahren auch in der politischen Philosophie einige heiß geführte Debatten. Gestritten wurde dabei beispielsweise um ein Wahlrecht für Ausländerinnen und Aus­länder oder ein Bleiberecht für irreguläre Migrantinnen und Migranten.1 Besonders ausführlich wurde auf dem Feld der Migrationsethik2 außerdem über die Frage disku­tiert, ob aus Gründen wie der individuellen Freiheit oder der globalen Verteilungsge­rechtigkeit ein Menschenrecht auf globale Bewegungsfreiheit moralisch geboten sei. In diesem Zusammenhang wurden verschiedene Rechtfertigungsversuche für die For­derung unternommen, globale Bewegungsfreiheit in die Liste der in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte verankerten Rechte aufzunehmen.

Joseph Carens, der in seinem 1987 erschienenen Aufsatz Fremde und Bürger: Wes­halb Grenzen offen sein sollten erstmals die Forderung nach globaler Bewegungsfrei­heit artikulierte, verlässt sich in seiner jüngsten Monografie The Ethics of Immigrati­on besonders auf den als „Cantilever - Argument“ bezeichneten Analogieschluss von innerstaatlicher auf zwischenstaatliche bzw. globale Bewegungsfreiheit. Im Zuge dieser Arbeit werde ich untersuchen, ob das Cantilever-Argument hält, was sich Carens von ihm verspricht: Lassen sich die bisher vorgebrachten Einwände gegen den Analogieschluss entkräften? Ist globale Bewegungsfreiheit tatsächlich - wie Carens behauptet - die „logische Erweiterung“3 der innerstaatlichen Bewegungsfreiheit?

Im nachfolgenden Kapitel werde ich zunächst bestimmen, was genau unter „globaler Bewegungsfreiheit“ zu verstehen ist und welche Versuche zu ihrer Rechtfertigung unternommen werden. Anschließend werde ich mich näher mit der Tiefenstruktur des Cantilever-Argumentes befassen und auf eine nicht unproblematische Präsupposition aufmerksam machen. Das vierte Kapitel dient der Diskussion mehrerer Einwände ge­gen das Cantilever-Argument. Ich werde aufzeigen, dass sich Carens’ Analogie­schluss durchaus gegen die vorgebrachten Einwände verteidigen lässt. Trotzdem wer­de ich mich im letzten Kapitel meiner Arbeit dagegen aussprechen, globale Bewe­gungsfreiheit als die „logische Erweiterung“ der innerstaatlichen Bewegungsfreiheit zu bezeichnen. Mit dieser Zuschreibung unterstellt Carens seinem Argument eine Leistung, die Analogieschlüsse ihrer Form nach nicht erbringen können.

2. Globale Bewegungsfreiheit und Versuche zu ihrer Rechtfertigung

Den Befürwortern eines Menschenrechts auf globale Bewegungsfreiheit zufolge soll es jedem Menschen grundsätzlich freistehen, in jedes beliebige Land der Erde einzu­reisen und sich dort auch niederzulassen, „wobei sie nur solchen Beschränkungen un­terworfen sein sollten, die auch für die jetzigen Bürgerinnen [und Bürger] des Ein­wanderungslandes gelten“4. Die folgenden Merkmale sind für eine nähere Bestim­mung besonders wichtig. Das Recht auf globale Bewegungsfreiheit ist:5

a) ein moralisches Recht. Jeder Mensch hat einen moralischen Anspruch darauf, selbst über seinen Aufenthaltsort bestimmen zu können. Es handelt sich um ein offiziell (noch) nicht anerkanntes Menschenrecht, d.h. um einen bisher nicht im positiven Recht verbrieften Anspruch.6 Dieser Status ist den in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte erwähnten Rechten vorbehalten.
b) ein negatives Anspruchsrecht. Einwanderungswillige dürfen nicht durch staat­lichen Zwang an der Einwanderung gehindert werden. Das muss nicht zwin­gend heißen, dass Staaten deshalb dazu verpflichtet wären, Einwanderungs­willige aktiv bei ihrem Vorhaben zu unterstützen.7
c) kein absolutes Recht. Das Recht auf globale Bewegungsfreiheit gilt nicht un­eingeschränkt. Ebenso wie die innerstaatliche Bewegungsfreiheit etwa aus massiven Sicherheitsbedenken oder zur Bewahrung der öffentlichen Ordnung eingeschränkt werden kann, ist es auch möglich, die globale Bewegungsfrei­heit aus ähnlichen Gründen einzuschränken.
d) ein allgemeines Recht. Es gilt für alle Menschen. Bei der praktischen Umset­zung ist allerdings unter besonderen Umständen eine Priorisierung nach der Dringlichkeit des Migrationsbedürfnisses denkbar.8
e) kein Plädoyer für einen Weltstaat oder die Abschaffung von Staatsgrenzen. Vielmehr ist es „ein Paradigmenwechsel innerhalb des Systems mit einer Vielzahl von Einzelstaaten - weg von einem Modell, das Staaten als territoria- le Clubs versteht, hin zu einem Modell, das Staaten als offene Gemeinschaften versteht“9. In The Ethics of Immigration heißt es ähnlich: „If a just world had states, they would be states with open borders”10.
f) ein vorrangiges, besonders gewichtiges Recht. Matthias Hoesch differenziert zwischen drei Bedeutungsweisen des Begriffes „Menschenrecht“. Globale Bewegungsfreiheit soll dem Anspruch nach - siehe Punkt c) - kein absolutes Recht sein, aber es gibt durchaus Rechte, die diesen Status innehaben (etwa Artikel 1 des Grundgesetzes). Neben diesem absoluten Sinn können Men­schenrechte auch in einem engen und in einem weiten Sinn verstanden wer­den. Im weiten Sinn sind Rechte gemeint, die allen Menschen qua Menschsein zukommen. Allerdings können diese auch schon durch weniger gewichtige Gründe aufgewogen werden, sofern diese etwa die Kriterien der Allgemein­heit und der Reziprozität erfüllen.11 Im engen Sinn bilden sie „eine Klasse von Rechten, die nur durch andere Rechte dieser Klasse aufgewogen werden kön­nen oder denen jedenfalls in allgemeinerer Weise eine hohe Priorität gegen­über allen anderen normativen Erwägungen zukommt“12.

In den Texten ihrer Befürworter finden sich mehrere Anhaltspunkte für ein Verständnis der globalen Bewegungsfreiheit als ein Menschenrecht im engen Sinn.4 Sie soll zur Liste der in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrech­te verbrieften Rechte hinzugefügt werden und in gleicher Weise gewichtig sein wie die dort erwähnten Rechte. Restriktionen sollen nicht einfach nur er­klärungspflichtig sein, wie Miller es den Fürsprechern der globalen Bewe­gungsfreiheit zugesteht.5 Jede Restriktion müsse vielmehr durch die Nennung besonders gewichtiger Gründe legitimiert werden: „Es ist grundsätzlich das gute Recht jedes Menschen, sich [...] frei zu bewegen, und jede Ausnahme von diesem Grundsatz bedarf einer Rechtfertigung durch andere entsprechend ge­wichtige Gründe“6. Punkt a) unterstreicht, dass globale Bewegungsfreiheit bisher nicht zu den anerkann­ten Menschenrechten zählt. Jüngste Debatten um den Bau einer Mauer entlang der US-Amerikanisch-Mexikanischen Grenze oder die Weigerung einiger Mitgliedsstaa­ten der Europäischen Union, sich an der Verteilung der nach Europa gelangten Flüchtlinge zu beteiligen, zeigen außerdem, dass die Forderung nach globaler Bewe­gungsfreiheit noch für lange Zeit ein politischer „nonstarter“7 bleiben wird. Ihre Be­fürworter bleiben trotzdem uneinsichtig. Gegen die „Standardansicht“, dass Staaten grundsätzlich dazu berechtigt seien, die Einreise in und Niederlassung auf ihrem Ter­ritorium zu untersagen8, wehren sie sich vehement. Sie sind davon überzeugt, dass der Mainstream mit seiner Einschätzung falsch liegt. Auch andere wichtige politische Errungenschaften wie etwa die Abschaffung der Sklaverei oder das Frauenwahlrecht haben lange Zeit nicht der mehrheitlich geteilten Meinung entsprochen. Sie wurden hart von denjenigen erkämpft, die den ihrerzeit geltenden status quo als besonders gravierende Ungerechtigkeit empfanden und dagegen aufbegehrten. Eine ebenso gro­ße Ungerechtigkeit liege auch vor, wenn Staaten - bis auf einige Ausnahmen9 - frei über die Einreise in ihr Territorium bzw. die Niederlassung auf diesem entscheiden dürfen:

[We] know from experience that we can come to view deeply embedded practices and institu­tions as unjust, even though these practices and institutions were seen as morally acceptable by people in previous generations. Institutionalized racism and sexism [...] are only the most obvious examples. No one today thinks that these practices are compatible with democratic principles, although most people in the past assumed that they were. I am not claiming that the case against restrictions on immigration is as clear-cut as the case against racism and sexism, but I do think the basic analogy holds. Discretionary control over immigration is a deep injus­tice that does not seem unjust to most people today.10

Seit Joseph Carens’ Forderung nach offenen Grenzen Ende der 1980er Jahre wurden deshalb zahlreiche Versuche unternommen, um das Menschenrecht auf globale Be- wegungs- und Niederlassungsfreiheit zu rechtfertigen. Carens selbst greift in seinem berühmten Aufsatz Fremde und Bürger: Weshalb Grenzen offen sein sollten zunächst auf drei Rechtfertigungsstrategien zurück. Als erstes beruft er sich auf Robert Nozicks Theorie des Libertarismus: Alle Individuen seien mit den gleichen natürlichen Rech- ten ausgestattet - einschließlich dem Recht, freiwillige Tauschbeziehungen einzuge­hen. Ein sogenannter Minimalstaat habe die Aufgabe, diese Rechte auf seinem Terri­torium gleichermaßen zu schützen. Er dürfe aus diesem Grund nicht in die Tauschbe­ziehungen der Individuen eingreifen, solange durch diese nicht die Rechte Dritter ver­letzt würden. Dies impliziere zwei Dinge: Erstens habe der Staat keine Befugnis, Fremde einfach so auszuschließen, denn er könnte so die Tauschbeziehungen zwi­schen den Menschen innerhalb und den Menschen außerhalb des Staatsgebietes zu­nichtemachen; und zweitens bestehe für Individuen „keine Grundlage für den Aus­schluss von Fremden [...], die nicht auch herangezogen werden kann, um Bürger aus- zuschließen“11.

Den weitaus größten Teil des Aufsatzes nimmt Carens’ Versuch ein, den Skopus von John Rawls’ Vertragstheorie auf einen globalen Rahmen auszuweiten. Unter einem globalen „Schleier des Nichtwissens“12 würde globale Bewegungsfreiheit in die Liste der Grundfreiheiten aufgenommen werden, um so die Wirkung spezifischer Kontin­genzen, die Menschen in ungleiche Ausgangslagen bringen können, einzudämmen.13 Carens übernimmt von Rawls auch die Differenzierung zwischen idealer Theorie, bei der die ausgewählten Grundfreiheiten nach Lüftung des Schleiers problemlos akzep­tiert werden, und nicht-idealer Theorie, bei der historische Hindernisse oder unge­rechte Handlungen berücksichtigt werden müssen. Diese Unterscheidung ist auch bei Fragen nach der Umsetzbarkeit des Menschenrechts der globalen Bewegungsfreiheit von enormer Bedeutung. Da ich mich in meiner Arbeit im Wesentlichen auf die Gül­tigkeit des Cantilever-Argumentes konzentriere, kann ich hier jedoch nicht weiter auf diese Differenzierung eingehen. Eine ausführlichere Auseinandersetzung mit dem vertragstheoretischen Argument, bei der auch die Unterscheidung zwischen idealer und nicht-idealer Theorie besprochen wird, findet sich im neunten Kapitel von Cas- sees Monografie Globale Bewegungsfreiheit.14

Schließlich sei globale Bewegungsfreiheit auch durch eine utilitaristische Hinter­grundtheorie begründbar. Einige man sich aus utilitaristischer Perspektive darauf, dass die beste Einwanderungspolitik diejenige sei, die die wirtschaftlichen Erträge insgesamt maximiere, dann sei eine Einwanderungspolitik, die globale Bewegungs­freiheit vorsehe, eindeutig die beste. Denn die freie Mobilität von Kapital und Arbeit sei für die Maximierung der wirtschaftlichen Gesamterträge zentral und die freie Mo­bilität von Arbeit erfordere nun einmal offene Grenzen.

Jüngere Rechtfertigungsversuche drehen sich im Wesentlichen um Überlegungen der globalen Verteilungsgerechtigkeit und der individuellen Freiheit.15 Bezogen auf glo­bale Verteilungsgerechtigkeit habe das in der Standardansicht verankerte Recht auf Ausschluss in zweifacher Hinsicht problematische Auswirkungen: Zum einen seien die Mobilitätschancen selbst ungleich auf die Bürger der einzelnen Länder verteilt (mit einer deutschen Staatsbürgerschaft können deutlich mehr Länder visumsfrei be­reist werden als etwa mit der afghanischen); „zum anderen stehen diese ungleichen Mobilitätschancen in engem Zusammenhang mit massiven Ungleichheiten in den ökonomischen Aussichten“16. Die Staatsbürgerschaft in einem reichen Land sei das moderne Äquivalent des Adelsstatus in einer Feudalgesellschaft, durch den die Besit­zer dieses Status von Geburt an deutlich besser gestellt würden als der Rest der Ge- sellschaft.17

Auch in Bezug auf die individuelle Freiheit sei das Recht auf Ausschluss alles andere als unproblematisch. Migrationsbeschränkungen seien eine empfindliche Einschrän­kung der individuellen Freiheit, die in zweierlei Hinsicht als verwerflich betrachtet werden könne: Erstens sei Personenfreizügigkeit als „Bestandteil und Ausdruck der Freiheit und Autonomie der Individuen“18 intrinsisch wertvoll; zweitens sei Bewe­gungsfreiheit auch eine notwenige Voraussetzung für die Wahrnehmung anderer wichtiger Freiheitsrechte wie dem Recht der Vereinigungs- oder der Berufsfreiheit, die ebenfalls von den Einschränkungen der Bewegungsfreiheit betroffen wären.19 In The Ethics of Immigration geht Carens auch auf Überlegungen der individuellen Freiheit und der globalen Verteilungsgerechtigkeit ein. Den Kern seiner Argumentati­on macht jedoch das bereits angeführte Cantilever-Argument aus, welches in der glo­balen Bewegungsfreiheit die „logische Erweiterung“ der innerstaatlichen Bewegungs- freiheit sieht.20 Gegenüber seinen älteren Rechtfertigungsversuchen hat dieses Argu­ment den Vorteil, nicht auf Theorien zu fußen, die selbst umstritten sind. Stattdessen setzt es an der vermeintlich sicheren Basis eines bereits anerkannten Menschenrechtes an. Durch das Aufzeigen von Indizien für die Strukturgleichheit beider Arten der Be­wegungsfreiheit soll in einem zweiten Schritt nahegelegt werden, auch globale Bewe­gungsfreiheit als Menschenrecht anzuerkennen. Im nachfolgenden Kapitel werde ich mich näher mit dem Cantilever-Argument befassen. Dabei werde ich die Struktur des verwendeten Analogieschlusses rekonstruieren und den Folgen einer in diesem Schluss verborgenen, nicht unproblematische Präsupposition nachgehen.

3. Das Cantilever-Argument

Der englische Begriff „cantilever“ kann mit „Ausleger“ oder „Freiträger“ ins Deut­sche übersetzt werden. Beim Cantilever-Argument wird an das Fundament des bereits geltenden Menschenrechtes auf innerstaatliche Bewegungsfreiheit der passende Aus­leger in Form einer globalen Erweiterung dieses Rechtes angebracht.21 Die Vorteile liegen auf der Hand. Wie bereits erwähnt, kann so der Rückgriff auf umstrittene The­orien wie einen globalen Schleier des Nichtwissens oder einen utilitaristischen Nut­zenkalkül vermieden werden. Außerdem stehen die Gegner eines Menschenrechts auf globale Bewegungsfreiheit vor zwei nahezu unlösbaren Problemen: Sie sind entweder in der durchaus verzwickten Beweispflicht, substanzielle Unterschiede zwischen bei­den Arten der Bewegungsfreiheit aufzuzeigen, oder sie müssen dem Recht auf inner­staatliche Bewegungsfreiheit selbst den Status eines Menschenrechts absprechen. Da Letzteres kaum eine zufriedenstellende Option sein kann und Ersteres Carens zufolge nicht möglich ist, bleibt aus Konsistenzgründen nur noch die Möglichkeit übrig, glo­bale Bewegungsfreiheit als Menschenrecht anzuerkennen.

Die Basis für Carens’ Ausleger ist das unter Artikel 13.1 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte aufgeführte Recht auf innerstaatliche Bewegungsfreiheit: „Jeder hat das Recht, sich innerhalb eines Staates frei zu bewegen und seinen Aufenthaltsort frei zu wählen“. Im Zivilpakt heißt es ähnlich: „Jedermann, der sich rechtmäßig im Hoheitsgebiet eines Staates aufhält, hat das Recht, sich dort frei zu bewegen und sei­nen Wohnsitz frei zu wählen“ und weiter:

Die oben erwähnten Rechte dürfen nur eingeschränkt werden, wenn dies gesetzlich vorgese­hen und zum Schutz der nationalen Sicherheit, der öffentlichen Ordnung (ordre public), der Volksgesundheit, der öffentlichen Sittlichkeit oder der Rechte und Freiheiten anderer notwen­dig ist und die Einschränkungen mit den übrigen in diesem Pakt anerkannten Rechten verein­bar sind.31

Carens ist der festen Überzeugung, dass der Fall der globalen Bewegungsfreiheit „closely analogous“32 zu dem der innerstaatlichen Bewegungsfreiheit ist. Kompakt formuliert er sein Argument wie folgt:

There is a powerful cantilever argument in favor of seeing the right to move freely across bor­ders as a human right, namely that it is a logical extension of the right of free movement with­in states. Freedom of movement within a state is widely recognized as a human right.33

Die beiden Arten der Bewegungsfreiheit verhalten sich so zueinander, dass dieselben Gründe, die für innerstaatliche Bewegungsfreiheit sprechen, auch für globale Bewe­gungsfreiheit sprechen würden (und umgekehrt dieselben Gründe, die gegen inner­staatliche Bewegungsfreiheit sprechen, auch gegen globale Bewegungsfreiheit spre­chen). Aus Gründen der logischen Konsistenz müsse deshalb auch globale Bewe­gungsfreiheit als Menschenrecht gelten. 34 Schematisch lässt sich dieser Analogie­schluss folgendermaßen darstellen:

(P1) Innerstaatliche Bewegungsfreiheit ist ein allgemein anerkanntes Men­schenrecht.
(P2) Es gibt plausible Begründungen für das Menschenrecht auf innerstaatli­che Bewegungsfreiheit.
(P3) Wann immer eine Begründung eine plausible Begründung für innerstaat­liche Bewegungsfreiheit ist, dann ist diese Begründung auch eine plausible Begründung für globale Bewegungsfreiheit.
(C) Also sollte auch globale Bewegungsfreiheit ein anerkanntes Menschen­recht sein.

Cassee weist darauf hin, dass das Cantilever-Argument allein durch das Aufzeigen der Ähnlichkeit zwischen beiden Formen der Bewegungsfreiheit strenggenommen unvollständig sei.35 Zusätzlich müsse die hier als (P2) aufgeführte Präsupposition be­wiesen werden, indem eine überzeugende Begründung für innerstaatliche Bewe­gungsfreiheit als Menschenrecht abgegeben wird. Anscheinend hielt Carens diesen Schritt für überflüssig: „We don’t have to develop arguments for these rights. Rather —

we can use them as the starting point of an argument”22. Weil innerstaatliche Bewe­gungsfreiheit bereits ein generell anerkanntes Menschenrecht sei, müsse es auch gute Gründe geben, um es zu rechtfertigen. Doch schon wenige Seiten später muss Carens eingestehen: „Like an architectural cantilever, a cantilever argument is only as strong as the foundation on which it rests“23. Bevor ich mich also den Einwänden gegen das Cantilever-Argument zuwenden kann, muss ich zunächst darlegen, wodurch das Fun­dament des Auslegers seine Festigkeit erlangt.

Ein guter Startpunkt findet sich bei Brezger. Innerstaatliche Bewegungsfreiheit sei „in mindestens zweifacher Hinsicht wertvoll“24:

1) „[Bewegungsfreiheit] stellt eine notwendige Bedingung für die effektive Wahrnehmung anderer (Menschen-)Rechte dar“. Hierzu zählen etwa die Versammlungsfreiheit, die Vereinigungsfreiheit oder die Berufsfreiheit. Die Teilnahme an einer Demonstration oder der Antritt einer neuen Ar­beitsstelle, setzt voraus, sich frei zu dem gewünschten Ort bewegen und sich dort bei Bedarf auch niederlassen zu können.
2) „Personenfreizügigkeit [ist] für uns von intrinsischem Wert“, der sich wie­derum aus zwei Komponenten zusammensetzt: Menschen haben zum ei­nen ein „universelles und fundamentales Interesse an physischer Mobili­tät“; zum anderen ist Bewegungsfreiheit auch „Bestandteil und Ausdruck der Freiheit und Autonomie der Individuen“.

Der unter Punkt 2) angeführte Zusammenhang zwischen Bewegungsfreiheit und indi­vidueller Autonomie ist für die Verteidiger der globalen Bewegungsfreiheit ein ent­scheidender Rechtfertigungsgrund für das Menschenrecht auf innerstaatliche Bewe­gungsfreiheit. Grundsätzlich haben Menschen ein generisches Interesse daran, auto­nome Entscheidungen über die eigene Lebensführung treffen zu können. Autonome Entscheidungen seien nur dann möglich, wenn der „freie Zugang zum vollen Spekt­rum der existierenden Lebensoptionen“25 gewährleistet sei. Zur Verdeutlichung dieses Zusammenhangs wird meist auf die Autonomiekonzeption Joseph Raz’ verwiesen.26 Damit eine Person „Co-Autor“ des eigenen Lebens sein kann, d.h. befähigt dazu ist, autonome Entscheidungen zu treffen, müssen die folgenden drei Bedingungen erfüllt sein:

1. Eine Person muss die notwendigen mentalen Fähigkeiten dazu haben.
2. Der Person muss eine angemessene Auswahl an Optionen zur Verfügung stehen.
3. Die Person muss unabhängig vom nötigenden Willen Dritter entscheiden können.

Das Recht auf innerstaatliche Bewegungsfreiheit schützt die zweite Bedingung, da eine Entscheidungsoption, wie etwa die Aufnahme eines neuen Berufes, nur dann eine wirkliche Option ist, wenn sie auch ergriffen werden kann: „If one’s internal freedom of movement is subject to a non-trivial degree of restriction, then the range of life op­tions one can access will also be constrained“41. Viel entscheidender ist jedoch, dass es auch die dritte Bedingung der Autonomiekonzeption wahrt. Innerstaatliche Bewe­gungsfreiheit ist gerade deshalb von so großer Bedeutung, weil sie Sorge dafür trägt, dass sich jeder innerhalb des Staatsgebietes frei bewegen kann, ohne dabei besondere Gründe nennen zu müssen und ohne dabei dem nötigenden Willen Dritter ausgesetzt zu sein. Das wiederum ist eine notwendige Bedingung, um alle weiteren Optionen ergreifen zu können, ohne dabei durch andere in der Entscheidungsfindung einge­schränkt zu werden.

Angenommen, ein Staat erlässt Restriktionen, die es verbieten, in einer bestimmten Stadt des Landes zu arbeiten. In jeder anderen Stadt könne der gewünschten Beruf ausgeübt werden, nur in dieser einen Stadt nicht, weil außerhalb dieser Stadt wohnen­den Menschen der Zutritt nicht gestattet ist. Man könnte zwar behaupten, es stünden immer noch genügend andere Optionen zur Verfügung, doch trotzdem wäre eine au­tonome Entscheidung nicht möglich. Selbst wenn man ohnehin nicht in der „verbote­nen Stadt“ leben und arbeiten wollte und sich unabhängig von den geltenden Restrik­tionen für eine andere Stadt entschieden hätte, wären die Optionen durch Zwang ein­geschränkt gewesen. Cassee schlussfolgert deshalb: „ Jeder Eingriff in die verfügba­ren Optionen ist rechtfertigungspflichtig, und zwar auch dann, wenn den Individuen nach dem Eingriff ein vernünftiges Bündel an Wahlmöglichkeiten bleibt“.

[...]


1 Zu diesen Fragen siehe Cassee 2014: 211-232 und Goppel 2014: 255-274.

2 Für eine Einführung siehe Wellman 2015.

3 Carens 2013: 238.

4 Siehe Cassee 2016: 215, 233 u. 279; Carens 2014: 32 u. Carens 2013: 275; Oberman 2016: 33 u. 47f.

5 Vgl. Miller 2014: 63.

6 Cassee 2016: 279. Eigene Hervorhebung. Hoesch selbst bewertet diesen Punkt anders. Man könne globale Bewegungsfreiheit zwar als Menschenrecht bezeichnen, allerdings nur in dem von ihm vorge­tragenen weiten Sinn (vgl. Hoesch 2017: 55). Ich werde in Kapitel 4.2 näher auf Hoeschs Position ein­gehen.

7 Carens 2013: 229.

8 Vgl. Cassee 2016: 21. Im ersten Teil seines Buches setzt sich Cassee ausführlich mit den einzelnen Argumenten für die „Standardansicht“ auseinander (siehe Cassee 2016: 21-167).

9 Siehe etwa Art. 33 Ziff. 1 der Genfer Flüchtlingskonvention: „Verbot der Ausweisung und Zurück­weisung“, wonach niemand in ein Land abgeschoben werden dürfe, in dem „sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder seiner politischen Überzeugung bedroht sein würde“.

10 Carens 2013: 232.

11 Carens 2014: 26.

12 Rawls 1979: 159.

13 Carens 2014: 29.

14 Siehe Cassee 2016: 234-278.

15 Davon abgesehen behauptet Arash Abizadeh in seinem vieldiskutierten Aufsatz (Abizadeh 2008), dass „unilaterale Einwanderungsbeschränkungen“ undemokratisch seien. Aus Platzgründen kann ich an dieser Stelle nicht weiter auf diese Position eingehen. Cassee stellt auch diese Position ausführlich vor (Cassee 2016: Kap. 7.3).

16 Cassee 2016: 183.

17 Dieser Feudalismusvergleich findet sich erstmals in Fremde und Bürger: Weshalb Grenzen offen sein sollten (Carens 2014: 24) und wird in The Ethics of Immigration (Carens 2013: 226) erneut aufge­griffen.

18 Brezger 2014: 34.

19 Ebd. 33.

20 Siehe Carens 2013: 237-45. Auch bei Cassee 2016: Kap. 8.2, Oberman 2016 und Brezger 2014 wird auf diesen Analogieschluss zurückgegriffen.

21 Vgl. Hoesch 2017: 60.

22 Carens 2013: 238. Siehe auch die dazugehörige Fußnote Carens 2013: 334, Fn. 19.

23 Ebd. 245.

24 Brezger 2014: 33. Für die Punkte 1) und 2) siehe ebd. 33-36.

25 Oberman 2016: 33. Eigene Übersetzung.

26 Raz 1986: 369-378.

Ende der Leseprobe aus 37 Seiten

Details

Titel
Das Cantilever-Argument. Globale Bewegungsfreiheit als "logische Erweiterung" der innerstaatlichen Bewegungsfreiheit
Hochschule
Universität Münster
Note
1,0
Autor
Jahr
2018
Seiten
37
Katalognummer
V979855
ISBN (eBook)
9783346332172
ISBN (Buch)
9783346332189
Sprache
Deutsch
Schlagworte
cantilever-argument, globale, bewegungsfreiheit, erweiterung
Arbeit zitieren
Jeremias Düring (Autor:in), 2018, Das Cantilever-Argument. Globale Bewegungsfreiheit als "logische Erweiterung" der innerstaatlichen Bewegungsfreiheit, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/979855

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