Annie Leibovitz und der Pirelli-Kalender 2016. Ein bildästhetischer Wendepunkt?


Masterarbeit, 2019

79 Seiten, Note: 1,3

Anonym


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Einleitung

1. Annie Leibovitz und der Pirelli-Kalender 2016
1.1 Annie Leibovitz - Life through a lens
1.1.1 Kindheit und Ausbildung S.
1.1.2 Gegenkultur und das Rolling Stone
1.1.3 Hochglanz und Vanity Fair
1.1.4 Annie Leibovitz heute
1.2 Das ist alles ein Leben
1.2.1 Die Ausstellung A photographer's Life und ihre Rezeption
1.2.2 Hinter den Kulissen
1.2.3 Vom Dokumentarstil zu visueller Kunstfertigkeit
1.2.4 Political correctness
1.2.5 Starkult in Amerika
1.2.6 Hergestellte Intimitäten
1.3 Zusammenfassung Annie Leibovitz
1.4 Der Pirelli 2016 - authentisch oder imaginierte Intimität

2. Mythos Pirelli-Kalender
2.1 Medienereignis
2.2 Der Kalender in Zahlen
2.3 The Cal - eine virtuelle Zeitreise durch die Moden der Populärkultur

3. Pirelli-Geschichte - Zeugnis weiblicher Emanzipation?
3.1 Ein Mythos wird geboren - Die ersten zehn Jahre: 1964 -1974
3.2 Neugeburt - Die zweite Entwicklungsphase: 1984 - 1994
3.3 Supermodels und Starfotografen - Die dritte Entwicklungsphase: 1994 - 2004
3.4 Die Entmythisierung - Die vierte Entwicklungsphase: 2004 bis heute

4. Bestehende Frauenbilder und die damit einhergehende Erwartungshaltung
4.1 Alte und Neue Frauenbilder
4.2 Das von Pirelli transportierte Frauenbild - Sex sells?
4.3 Reaktionen auf die 2016er Edition S. Exkurs: Der männliche Blick - Male Gaze

5. Globale Ästhetik

6. Mode als Zeitindikator

7. Der Fotograf als kultische Figur

Fazit

Anhang

Quellenverzeichnis

Abbildungsverzeichnis

Abbildungsnachweis

Einleitung

Eine hellhäutige Frau sitzt einzig mit einem Spitzenslip bekleidet auf einem Holzhocker, der sich auf einem flachen kleinen Holzpodest befindet. In der rechten Hand hält sie einen Kaffeebecher, wodurch ihr angewinkelter Arm den nackten Busen verdeckt. Ihr linker Arm ist locker auf das linke Knie gestützt. An den Füßen trägt die Porträtierte hohe Riemchen-Sandalen. Während das linke Bein angewinkelt auf der Holzplattform steht, befindet sich ihr rechtes Bein, wesentlich gestreckter als das linke, auf dem darunterliegenden Holzdielenboden stehend. Durch die seitliche Darstellung ihres Körpers sind drei Wölbungen an ihrem Bauch zu erkennen, die durch den dunklen Schatten ihres angewinkelten Armes betont werden. Ihr Make-Up ist auffällig, die blonden welligen Haare aus dem Gesicht frisiert, fallen bis zur Mitte ihres Rückens (Abb. 1).

Wir sehen Amy Schumer, eine US-amerikanische Stand-Up-Comedian, Drehbuchautorin und Schauspielerin, die nicht direkt in die Kamera, sondern rechts an ihr vorbeischaut. Den Mund leicht verkniffen, scheint ihr Blick den Betrachter auffordernd und trotzig zu fragen: „Ist was?“. Herumstehende Dinge wie ein kleiner Holzhocker, ein Stativ mit Lampe und Diffusor und eine Stuhllehne im Bildvordergrund lassen eine Studioatmosphäre erkennen. Betont wird diese Atmosphäre durch den knittrigen Papierhintergrund und die weißen Markierungen auf dem Boden. Hier ist keine perfekte Hochglanzaufnahme zu sehen, sondern eine scheinbar spontane Momentaufnahme eines gerade entstehenden Frauenporträts.

"Schön, eklig, stark, dünn, fett, hübsch, hässlich, sexy, widerlich, makellos, Frau. Danke, Annie Leibovitz."1

Diese Zeilen schrieb Amy Schumer unter das eben beschriebene Bild, welches sie auf der sozialen Plattform Twitter mit der Öffentlichkeit teilte. Die von ihr benutzten Adjektive spiegelten schon im Voraus die polarisierenden Meinungen auf den von Annie Leibovitz2 fotografierten Pirelli-Kalender 2016 wider. Insbesondere das Foto von Schumer wurde in den Print- und Online-Medien ausgiebig besprochen und diskutiert.

Es galt als revolutionärer Wendepunkt, in der von perfekt retuschierten Bildern bestimmten Medienwelt, und die Pressestimmen waren überwiegend positiv.

Amy Schumer, die sich wie ihre Kalender-Kollegin Serena Williams bereits in der Vergangenheit gegen Bodyshaming-Angriffe3 wehren musste, wollte mit ihrem Tweet4 wohl schon im Vorhinein möglichen Kritikern zuvorkommen. Ihre Twitter-Follower hingegen waren sich dagegen fast alle einig und auf ihren Beitrag folgten nahezu ausnahmslos positive Reaktionen wie „beautiful“, „georgeous“ und „perfect role model“.5

Im Oktober 2015, kurz vor dem Erscheinen des neuen Pirelli-Kalenders, hatte das berühmte Männermagazin Playboy verkündet, ab März 2016 keine nackten Frauen mehr abzubilden. Wie die Zeitschrift New York Times verbreitete, werde der Playboy Frauen zwar weiterhin in "provokativen Posen", aber nicht mehr vollständig nackt zeigen.6 Nils Markwardt stellte dazu fest:

„Wenngleich der Strategiewechsel, der vom Playboy -Gründer Hugh Hefner persönlich abgesegnet wurde, zunächst nur die amerikanische Ausgabe betraf, war es für das ikonische Magazin ein Kulturbruch.“7

Mit dem Pirelli-Kalenders 2016, welcher nur einen Monat später erschien, wurde die Diskussion um fragwürdige Schönheitsideale, die Sexualisierung der Frau in den Medien, sowie die Veränderung von Rollenbildern zusätzlich entfacht. Leibovitz gelang es, dem Pirelli-Kalender den gewünschten Umbruch in der Ästhetik und Konzeption zu bringen und darüber hinaus den scheinbaren Paradigmenwechsel in der Popkultur in ihrer Arbeit Ausdruck zu verleihen.

Wie rechtfertigt sich nun aber eine kunstwissenschaftliche Auseinandersetzung mit einem Werbeprodukt wie dem des Pirelli-Kalenders, der in seiner Funktion zunächst unbedeutend und wenig wissenschaftlich relevant ist?

Bildliche Erzeugnisse aus Malerei und Fotografie waren seit jeher Spiegel gesellschaftlicher Tendenzen sowie seiner jeweiligen Schönheitsideale. Auch die Veränderung von Rollenbildern findet dank der Kunst stets ihren Ausdruck. Wenngleich sich diese spannenden Wechselbeziehungen auch in den Kalenderblättern des Pirelli- Konzerns zeigen, liegt eine wissenschaftliche Untersuchung mit dem Pirelli-Kalender, als einer Institution der Populärkultur, zunächst nicht nahe.

Die Modefotografie, wozu die Pirelli-Bilder gezählt werden, ist ein Bereich der Fotografie, der sich in den vergangenen Jahren immer mehr als eine eigenständige Kunstform etabliert hat und in vielzähligen Galerien und Museen als autonomer Zweig der Fotografie ausgestellt wird. Namen wie Helmut Newton, Karl Lagerfeld, Juergen Teller oder Peter Lindbergh sind in diesem Zusammenhang von großer Bedeutung und aus den gängigen Modezeitschriften und Werbereklamen nicht mehr wegzudenken. Nicht weniger bedeutungsvoll, aber in überschaubarer Anzahl gibt es auch weibliche Modefotografinnen wie beispielsweise Ellen von Unwerth8 und Annie Leibovitz. Letztere fertigte, wie bereits erwähnt, im Jahr 2015 Bilder für die Kalenderausgabe 2016. Ihre Fotostrecke war interessant und in Hinblick auf die vorangegangenen Pirelli-Ausgaben außergewöhnlich.

Der Tatsache ungeachtet, dass sich der Pirelli-Kalender seit seiner Gründung im Jahr 1964 zu einer Institution der Populärkulturentwickelt hat, gibt es trotz seiner klugen Konzepte und seinen höchst künstlerischen Bildern keine wissenschaftlichen Abhandlungen über ihn. Dabei stellt er einen sehr interessanten Untersuchungsgegenstand dar.

Leibovitz‘ klassische Frauenbilder stellen in Kombination mit der einhergehenden Erwartungshaltung und Geschichte des Kalenders in einer spannungsreichen Wechselbeziehung, die eine genauere Untersuchung wert sind. In Zeiten von der im Jahr 2017 aufgekommenen Me-Too-Kampagne9 und nicht enden wollenden Diskussionen über die Sexualisierung der Frau in den Medien ist es nicht nur spannend sondern auch wichtig, sich mit kritischen Rollenbildern zu beschäftigen und diese Entwicklung und Veränderung nicht nur soziologisch, sondern durchaus auch kunstwissenschaftlich zu untersuchen. Dabei wird davon ausgegangen, dass der Pirelli-Kalender nicht nur einen Kult-, sondern auch einen Kunststatus aufweist und eine kunstwissenschaftliche Beachtung verdient.

In einer medialen Welt, die immer mehr von retuschierten und auf Provokation ausgelegten Bildern bestimmt ist, lässt sich bei genauerer Beschäftigung mit dem Pirelli- Kalender ein Realitätsanspruch und Wahrheitsgedanke in den Kalenderakten finden. Die Ambition der Pirelli-Fotografen, die abgebildeten Frauen in ihrer ganzen Schönheit zu zeigen und seit geraumer Zeit dabei eine bildliche Vielfalt mit Tiefgang zu erschaffen, ist einzigartig in seiner Art. Das zeugt zum einen von einer klugen und nachhaltigen Marketingstrategie, zum anderen aber auch von einem künstlerischen Reifungsprozess, der mit der 2016er Edition und Leibovitz einen Höhepunkt fand.

Wie bereits konstatiert, gibt es zum Pirelli-Kalender als künstlerisches Medium keine wissenschaftlichen Abhandlungen. Bisher sind einzig Bildbände und diverse Artikel in Zeitungen und Online-Medien erschienen. Zudem bietet die Online-Plattform You-Tube und die Firmenseite von Pirelli Making-of-Videos, die über den Kalender informieren. Der Taschenverlag hat 2015 einen 576 Seiten starken Bildband mit Nachdrucken aller Kalenderblätter und Bonusmaterial, wie bisher nicht gezeigte Aufnahmen, herausgebracht. Ergänzend sind in diesem Werk der unveröffentlichte Kalender von 1963 und weitere Bilder zu finden. Diese tauchten nicht im Kalender auf, da sie damals als zu gewagt galten. Der Band Pirelli - Der Kalender. 50 Jahre und mehr10 ist wie eine Zeitreise durch Epochen, Moden und Entwicklungen der Fotografie. Das eben genannte Werk, sowie das Buch von Luisa Sacchi11 Der Pirelli-Kalender 1964 - 2004 waren wichtige Grundlage für das Studium der Ästhetik von The Cal, wie der Pirelli-Kalender auch genannt wird, da es für viele Menschen nicht nur ein, sondern der Kalender schlechthin ist.

Bei der Beschäftigung mit Leibovitz brachte die Dokumentation life through a lense12 von Barbara Leibovitz erste Einblicke in die Arbeitsweise der Fotografin. Diese wurden durch das Studium von Annie Leibovitz - At Work13 unterstützt. Um den Widerspruch in Leibovitz‘ Arbeit zu verstehen, ist Catherine Zuromskis Essay All One Life14 hilfreich gewesen. Es ist eine der wenigen wissenschaftlichen Schriften zu der Ausnahme­Fotografin und bietet eine Analyse der wichtigsten Verschiebungen und Widersprüche in Leibovitz' Arbeit: die Entwicklung vom kernigen realistischen Stil ihrer frühen Rolling Stone-Arbeit hin zu der hochgradig gefertigten konzeptuellen Arbeit, die ihre Portraits- Kampagne für American Express auszeichnete und ihre neueren Arbeiten für Vanity Fair. Obwohl es bisher keine tiefgreifende wissenschaftliche Auseinandersetzung zu Leibovitz zu geben scheint, so bedeutet dies nicht, dass keine Notwendigkeit dafür besteht. Auf die genaueren Hintergründe und auch Notwendigkeiten wird vertiefend in Kapitel 1.2.1 eingegangen.

Für die Betrachtungen zum Wandel des Frauenbildes erwies sich das Werk von Volker Nickel Nackte Tatsachen - das Frauenbild in der Werbung als fruchtbar.15 Nickel hinter­fragt kritische Meinungen zur Sexualisierung von Frauen in der Werbung und findet in seinem Werk eine Argumentation zur Entkräftigung dieser Vorurteile. Auch das Werk Weiblicher Exhibitionismus16 von Ulrike Wohler beschäftigt sich mit dem heutigen Frauenbild, geht aber mehr auf die Zurschaustellung des weiblichen Körpers ein, welche laut Wohler Ausdruck erotischer Macht und damit eines selbstbestimmten Sexualsubjekts sein kann. So nutzen laut Wohler beispielsweise Madonna und Marilyn Monroe den Charakter erotischer Selbstdarstellung und künstlerischer Provokation. Mit soziologischen, medizinischen, psychologischen sowie juristischen Argumenten zeigt Ulrike Wohler die emanzipatorischen Ziele des weiblichen Exhibitionismus auf.17

Zur Rezeption von Leibovitz‘ Bildern für den Pirelli-Kalender 2016 wurden Artikel aus der Populärliteratur, Tagespresse und Online-Medien herangezogen. Das umfangreiche Pressematerial wurde durch den Pirelli-Konzern zur Verfügung gestellt.

Im Folgenden wird die Vorgehensweise erläutert und auf den Ausgangspunkt und drei zentrale Fragestellungen dieser Arbeit eingegangen. Wie bereits festgestellt, ist der Pirelli-Kalender mehr als ein reines Werbeprodukt und weist kluge Konzepte und seit den 90er Jahren streckenweise künstlerisch hochwertige Bilder auf. Mit Leibovitz und ihren Bildern für den Kalender kam es 2016 zu dem vom Pirelli-Konzern gewünschten Umbruch, was das Konzept und die Bildästhetik des Kalenders betrafen. Besonders interessant ist die Erwartungshaltung mit der der Kalender spielt, denn diese nimmt eine essenzielle Rolle in Bezug zum Erfolg des Kalenders ein und steht zudem in Wechselbeziehung mit aktuellen Tendenzen, den Moden seiner Zeit und der medialen Kultur.

Im Folgenden kommt es zur Untersuchung von drei zentralen Fragestellungen: Zum einen, was das Umbruchhafte an der 2016er Edition war und wie sich die Bilder von Leibovitz im Gesamtkontext der Pirelli-Geschichte einordnen lassen. Zum anderen soll ergründet werden, welche Rollenbilder der Kalender entwirft, denn es ist anzunehmen, dass diese einen aktuellen Bezug zum aktuellen Zeitgeschehen herstellen. Abschließend wird der Frage nachgegangen, ob es hinsichtlich der globalen Ästhetik des Kalenders einen anderen Blickwinkel durch eine weibliche Fotografin gab, beziehungsweise wie ausschlaggebend der männliche Blick für die Ästhetik des Kalenders ist. Es gilt demnach zu untersuchen, ob ein männlicher Fotograf ebenfalls in der Lage gewesen wäre, Frauen in einem anderen Blickwinkel darzustellen und einen Wendepunkt für den Pirelli- Kalender einzuläuten. In diesem Zusammenhang findet ein kurzer Exkurs zu dem Essay Male Gaze von Laura Mulveys18 statt. Die Beschäftigung mit dem von Mulveys beschriebenen männlichen Blick, war in Bezug zur Ästhetik des Kalenders ein wichtiger Forschungsgegenstand.

Die weiteren Ausführungen beginnen mit der Fotografin Leibovitz, die zunächst kurz anhand ihrer Biographie vorgestellt wird. Ihre Arbeitsweise und die Widersprüchlichkeit in ihrem Werk werden durch die Thesen von Catherine Zuromskis erläutert. Kapitel 2 ist einzig dem Pirelli-Kalender gewidmet. Die zentralen Fragen sind, was den Kalender zum Mythos werden ließ und wodurch sich seine Bildästhetik definiert. Das dritte Kapitel beschäftigt sich mit der Historie des Kalenders und der Annahme, dass sie Parallelen zur Emanzipationsgeschichte aufweist. Beides wird in Bezug zueinander gesetzt und dahingehend auch auf die Vielfalt der abgebildeten Frauen eingegangen. Das Kernstück der vorliegenden Arbeit reflektiert die von Pirelli entworfenen Frauenbilder. Dabei wird die damit einhergehende Erwartungshaltung thematisiert, die mit dem jährlichen Erscheinen des Kalenders verknüpft ist. Unumgänglich beinhaltet diese eine Debatte über Sexismus, die jedoch auf Grund des begrenzten Rahmens dieser Arbeit nicht angemessen behandelt werden kann, aber dennoch einen immanenten Punkt im Rahmen der Debatte darstellt. Neben der Erwartungshaltung bilden auch die Reaktionen auf den Kalender eine gute Diskussionsgrundlage zum Thema der politischen Korrektheit. An dieser Stelle wird zudem erörtert, was das Umbruchhafte an der 2016er Edition war.

Der Erfolg des Kalenders wird maßgeblich durch seine Fotografen und die Modelle des Pirelli Kalenders bestimmt. Der letzte Abschnitt widmet sich daher der Thematik des Fotografen als kultische Figur. An dieser Stelle wird der Bogen zu Leibovitz gespannt, die eine von nur vier weiblichen Fotografen des Kalenders ist und in über 50 Jahren zweimal für Pirelli-Aufnahmen engagiert wurde. Es drängt sich an dieser Stelle noch einmal die Frage nach dem männlichen Blick auf.

Abschließend werden die Beobachtungen zusammengefasst, die anfangs gestellten Fragen beantwortet und ein Ausblick auf mögliche Entwicklungen in der Pirelli- Bildästhetik gegeben. Es gilt zu erwähnen, dass es sich um eine kunstwissenschaftliche Auseinandersetzung handelt, die der Tiefe einer soziologischen und politischen Betrachtung, der das Thema würdig ist, nicht gerecht werden kann. Mit dieser Arbeit werden ein Grundstein, eine Diskussionsgrundlage und eine Abhandlung der Entwicklung des Pirelli-Kalenders geschaffen und die Notwendigkeit einer kunsthistorischen Betrachtung der Thematik sichtbar gemacht.

Auf die vollständige Angabe der Lebensdaten aller genannten Personen dieser Arbeit wird verzichtet. Einzig die Pirelli-Kalenderfotografen werden mit Lebensdaten genannt, da dies im Hinblick auf deren Karriere als sinnvoll erscheint.

1. Annie Leibovitz und der Pirelli-Kalender 2016

Bereits im Jahr 2000 hatte Leibovitz von der bildenden Kunst inspirierte Frauenakte für The Cal fotografiert. Es gilt zu erwähnen, dass es ihre ersten Akte überhaupt waren, welche sie für den Reifenhersteller gefertigt hatte (Abb. 2, Abb. 3, Abb. 4). Für Francesco Negri Arnoldi, der Professor für Geschichte der modernen Kunst im italienischen Tor Vergata war, stellt sich der Kalender heute wie eine Kunstgalerie dar, in der sich viele Meisterwerke finden und den von ihm so betitelten dreizehn Meisterwerken von Leibovitz gehört seines Erachtens ein Ehrenplatz in dieser Galerie: „Der suggestive Halbschatten ihrer monochromen Arbeiten und das leonardeske Sfumato verleihen selbst noch dem Spiel der Hände Sinnlichkeit und Aussagekraft.“19 2016 wurde Leibovitz zum zweiten Mal als Fotografin angefragt. Dennoch war die Ausgabe von 2016 ein Novum für die Fotografin und auch für den Pirelli-Konzern, denn dieses Mal spielte die erotische Ausstrahlung der abgebildeten Frauen keine Rolle. Pirelli wünschte sich einen Umbruch und Neuanfang in der Bildästhetik und Aussage des Kalenders. Leibovitz, die für ihre akribische Vorbereitung bekannt ist, setzte auch bei diesem Projekt auf eine genaue Planung und sammelte im Vorfeld Ideen. Die Fotografin dachte darüber nach, welche Rolle Frauen heute spielen. Sie entschied sich, klassische Porträts von einflussreichen Frauen zu machen, die sich durch ihr Engagement im kulturellen, politischen, sozialen oder sportlichen Bereich ausgezeichnet haben. Wer sind diese Frauen und was machen sie, waren einige der Fragen, die sich Leibovitz im Vorhinein stellte und die sie fotografisch reflektieren wollte.20

Der Pirelli-Kalender ist einer der bekanntesten Aktkalender der Welt, dennoch spielte es in den Überlegungen der Fotografin zunächst keine Rolle, ob sie die von ihr ausgewählten Frauen nackt oder angezogen abbildete. Es sei ihr ausschließlich um deren Errungenschaften gegangen, sagte die Fotografin dazu.21 Dabei setzte die Künstlerin auf eine schlichte Bildästhetik in schwarz-weiß und fotografierte alle Modelle in ihrem New Yorker Studio vor einfachen Hintergründen mit nur wenigen Utensilien. In einem Interview sagte sie zu ihrer erneuten Verpflichtung als Pirelli-Fotografin:

„This is like joining a club. Being a woman and asked to do the pirelli calendar, there's a lot of pressure in a certain way to not let woman down, and to look at woman in a way that has a kind of integrity to it. It's an opportunity for me to work out this exercise of looking at women in a very classic way.”22

Eines der dreizehn Models war Kathleen Kennedy. Die US-amerikanische Film Produzentin war laut ihrer Aussage sofort fasziniert, als sie hörte, dass sich Leibovitz für den Kalender verantwortlich zeichnet und nannte dies als Grund für ihre Zusage.23 Das Leibovitz oft der Schlüssel für die Shooting-Zusage einer berühmten Persönlichkeit ist, wird deutlich, sobald sich das Making-of-Video vom Pirelli-Kalender 201624 oder die Reportage über Leibovitz life through a lense 25 angesehen wird. In beiden Fällen kommen von Leibovitz fotografierte Berühmtheiten zu Wort, die von der Künstlerin und ihrer Arbeit schwärmen. Vogue-Chefin Anna Wintour äußerte sich in einem Interview folgendermaßen über die Fotografin:

„In der heutigen Welt, in der Prominente so wichtig sind, ist es ein riesengroßes Plus für uns, Annie als Starfotografin zu haben. Wenn man Nicole Kidman anruft und ihr sagt, dass Joe Smith sie nächsten Monat fotografieren wird, dann hört man am anderen Ende nur ein großes Gähnen. Wenn du anrufst und sagst, dass Leibovitz sie für das Cover fotografieren möchte, dann wird sie noch am selben Abend auf der Matte stehen. [...] Leibovitz hat nahezu jeden fotografiert, der in Amerika berühmt ist [...], sie ist der Gipfel der Fotokultur, die so sehr auf Berühmtheiten fixiert ist und sie ist darauf eingegangen und hat dieser Kultur ihren eigenen Stempel verliehen.“26

Aber was macht diese Künstlerin so besonders und ihre Arbeit so wichtig, dass sich hochrangige Persönlichkeiten wie beispielsweise auch die Königin von England, Nelson Mandela oder John Lennon bereits von ihr fotografieren ließen und der Pirelli-Konzern Leibovitz als eine der wenigen Fotografinnen bereits zweimal engagiert hat?

1.1 Annie Leibovitz - Life through a lens

Leibovitz, die „bedeutendste Ikonographin der amerikanischen Popkultur“27 28, hat mit ihren Bildern das gesellschaftliche Bildergedächtnis seit den 70er Jahren erheblich mitbe­stimmt. Zu ihren bekanntesten Bildern zählen John Lennon, der sich nackt und in embryonaler Haltung an Yoko Ono schmiegt (Abb. 5), Whoopie Goldberg in einer mit Milch gefüllten Badewanne (Abb. 6), Bette Midler auf Rosen gebettet (Abb. 7) und Demi Moore, hochschwanger als Akt auf dem Titelcover von Vanity Fair (Abb. 8). Von Leibovitz fotografiert zu werden gilt als Ehre. Ihre inszenierten Aufnahmen von MusikerInnen, Schauspielerinnen, Künstlerinnen, Politikerinnen oder Sportlerinnen zeigen Menschen in ihrer öffentlichen Rolle und enthüllen und maskieren sie zugleich. Leibovitz versteht es wie keine andere Fotografin, die Eigenarten ihrer Porträtierten unter einem einzigen Bild zu destillieren. Ihre Porträts und Aktaufnahmen bewegen sich zwischen Glamour und Wirklichkeit.

Ihr Oeuvre umfasst neben Porträt-, Akt- und Celebrity-Fotografie auch Werbekampagnen für American Express (1987), Gap (1988) oder Dove (2006), Landschaftsfotografie und Reportagen über den Kosovokrieg oder den O.J.-Simpson-Prozess. Seit den 90er Jahren veröffentlichte Leibovitz mehrere Bildbände. Dazu zählen unter anderem Olympic- Portraits USA (1996), American Music (2003) und die Porträtsammlung Women (1999) mit einem Essay von Susan Sontag. Das umfangreichste Werk mit Arbeiten der Künstlerin ist der 2006 erschienene Bildband A Photographer's l.ifeN welches als eine intime Autobiographie in Bildern bezeichnet werden kann. Es ist zugleich Familienalbum, Werkschau und Tagebuch der letzten 15 Jahre. Anlass für den Bildband und die dazugehörige Ausstellung war der Tod ihrer langjährigen Lebenspartnerin Susan Sontag. Neben ihren Auftragsarbeiten enthält der Bildband sehr persönliche Fotos von gemeinsamen Reisen, Familienzusammenkünften, der Krankheit von Susan Sontag, dem Tod von Leibovitz' Vater und von der Geburt der eigenen Kinder. Ein Denkmal für Susan Sontag, eine Totenklage und zugleich eine Hommage an das Leben.

Um Leibovitz und ihr Schaffen zu verstehen, muss sich zunächst mit ihrem Werk in seiner Gesamtheit beschäftigt werden. Die Diskrepanz zwischen oberflächlichen Mode­Hochglanzaufnahmen für Vanity Fair oder die Vogue, ihren sehr erschütternden Kriegsbildern aus Sarajevo im Jahr 1993 und die Dokumentation des Sterbeprozesses ihrer Lebensgefährtin Susan Sontag passen auf den ersten Blick nicht zusammen und können einzeln betrachtet kaum dem gesamten Schaffen der Künstlerin gerecht werden. Im Kontext dieser Arbeit und in Bezug zum Pirelli-Kalender von 2016 werden zweifels­ohne die Porträts der Künstlerin im Vordergrund stehen, dennoch waren die frühen Aufnahmen von Leibovitz der Grundstein für ihre späteren beruflichen Erfolge und sollen im Folgenden im Zusammenhang mit ihrer Biographie kurz umrissen werden.

1.1.1 Kindheit und Ausbildung

Annie Leibovitz wurde 1949 in Waterbury, Connecticut, geboren und wuchs in einer harmonischen Familie der Mittelklasse auf. Sie war das drittälteste von sechs Kindern und wurde von Eltern osteuropäischer und jüdischer Abstammung erzogen. Ihre Mutter Marilyn war eine moderne Tanzlehrerin, die in Leibovitz die Leidenschaft für Kunst, einschließlich Tanz, Musik und Malerei, weckte. Diese Leidenschaft ist bis heute in ihren fotografischen Arbeiten erkennbar. Sie veröffentlichte 1992 das Buch Dancers: Photographs by Annie Leibovitz29 30 und vier Jahre später das Werk The White Oak Dance Project: Photographs by Annie Leibovitz 39 , für das sie die Tänzer der Mark Morris Dance Group fotografierte. Zudem bedienen sich viele ihrer Porträts Anleihen der Malerei, so zum Beispiel ihre Aufnahmen für den Pirelli-Kalender im Jahr 2000. Ihre sogenannten Körperstudien sind in allen Schaffensperioden zu finden.

Ihr Vater Sam war Oberstleutnant der US-Luftwaffe und wurde häufig versetzt, wodurch die Familie oft umzog.31 Leibovitz sagte dazu, dass die Familie im Auto die stabile Einheit war und ihre Schwester fasste es einmal wie folgt zusammen: „Wenn du im Auto aufwächst, ist es leicht Künstler zu werden, weil wir die Welt durch einen Bilderrahmen gesehen haben, nämlich den Rahmen des Autofensters.“32

In den späten 1960er Jahren wurde ihr Vater während des Vietnamkrieges auf den Philippinen stationiert. In dieser Zeit begann sie erstmals mit der Fotografie zu experi­mentieren und Bilder rund um den Militärstützpunkt und nahegelegene Orte aufzunehmen. Sie war sehr engagiert darin, das neu entdeckte Medium Fotografie zu erlernen, hatte jedoch zu diesem Zeitpunkt keine Ambitionen, eine professionelle Foto­grafin zu werden. Das änderte sich 1967, als sie an die Westküste zog, um das San Francisco Art Institute zu besuchen.33 Sie begann ein Studium der Malerei mit der Absicht, Kunstlehrerin zu werden und nahm die freigeistige, jugendliche Hippie-Kultur an, die zu dieser Zeit gerade aufkam. Während ihres zweiten Semesters nahm sie an einem Fotografie-Workshop teil und wechselte ihren Studiengang. Die Professoren lehrten auf der Grundlage der Ideen berühmter moderner Fotografen. Insbesondere waren die Fotografen Robert Frank und Henri Cartier-Bresson für Leibovitz äußerst einflussreich.34 Frank war bekannt für seinen dokumentarischen Stil und sein Engagement für alltägliche und berühmte Themen. Cartier-Bresson setzte sich für einen ähnlichen aktiven fotografischen Stil in Europa ein. Beide Fotografen arbeiteten in einer grafischen Weise im Stil der persönlichen Berichterstattung.35

1.1.2 Gegenkultur und das Rolling Stone

Leibovitz zeigte 1970, noch während ihrer Studienzeit und eher widerstrebend, Jann Wenner dem Gründer der Zeitschrift Rolling Stone, ihr Foto des Dichters Allen Ginsberg bei einem Anti-Vietnam-Marsch. Wenner erkannte ihr Talent und stellte sie als mitwir­kende Fotografin ein. Zu dieser Zeit war der Rolling Stone ein experimentelles, neues Magazin, das sich auf Rockmusik und die Gegenkultur konzentrierte, die aus dem Bohemian-Denken der späten 1950er Jahre hervorging. Zwei Jahre später und mit nur 23 Jahren war Leibovitz Cheffotografin der Zeitschrift und hatte die volle künstlerische Freiheit und Möglichkeit, mit ihrer Arbeit zu experimentieren. Im Gegenzug produzierte sie einige der ikonischsten Bilder der Publikation mit den einflussreichsten Musikern der Epoche, darunter den Rolling Stones, Elton John und Bob Dylan. Ihre Arbeit für das Rolling Stone machte sie mit vielen der berühmtesten und kreativsten Menschen der Zeit bekannt, darunter die amerikanische Fotoikone Richard Avedon36. Avedon arbeitete hauptsächlich als Modefotograf und war bekannt dafür, Beziehungen zu anderen Foto­grafen zu vermeiden. In der jungen und noch naiven Fotografin sah er jedoch etwas Interessantes und Neuartiges und beide kamen sich näher. Avedon wurde Leibovitz Mentor.37 Noch heute sind in den Bildern von Leibovitz die Unmittelbarkeit und Offenheit zu erkennen, die sich auch in den von Avedon gefertigten Schwarz-weiß Porträt-Aufnahmen zeigen. Auch Richard Avedon hielt den Sterbeprozess seines Vaters in ungeschönten und sezierend exakten Bildern fest.

1.1.3 Hochglanz und Vanity Fair

Die Zeitschrift Vanity Fair wandte sich 1983 an Leibovitz und bat sie, die erste Cheffotografin der Zeitschrift zu werden. Es war ein großes Risiko für die berühmte Rock'n'Roll-Fotografin, zu einer Hochglanz-Mainstream-Publikation überzugehen. Für sie persönlich war es aber der richtige Zeitpunkt, denn ihr exzessiver Drogenkonsum beeinträchtigte ihre Arbeit beim Rolling Stone. Nach einem Drogenentzug war die Fotografin bereit, das nächste Kapitel zu beginnen und Vanity Fair sah in Leibovitz die Fortsetzung von Edward Steichens38 großer Tradition der Porträtmalerei, die ein zusätz­liches Gegenkultur-Gütesiegel beinhaltete. Auch Vanity Fair gab Leibovitz volle künstlerische Freiheit und bald forderten Prominente, die zuvor nie für die Publikation fotografiert werden wollten, mit Leibovitz arbeiten zu wollen, in der Hoffnung, Teil eines interessanten Projekts zu sein. Im Gegensatz zum Rolling Stone waren die Budgets bei Vanity Fair kein Thema und Leibovitz konnte experimenteller sein. Ihre Porträts wandelten sich von einfachen Schwarz-Weiß-Bildern zu extravaganten, inszenierten Produktionen voller Drama und satter Farbe.39

Als die Schriftstellerin, Kritikerin und politische Aktivistin Susan Sontag 1989 Werbe­fotos benötigte, bat sie Leibovitz, sie aufzunehmen. Die beiden entwickelten eine dauerhafte und intime Liebesbeziehung. Leibovitz und Sontag waren oberflächlich ge­sehen ein ungewöhnliches Paar, denn die intellektuelle Schriftstellerin war 16 Jahre älter als die Popkulturfotografin, beide schienen sich jedoch gut zu ergänzen. Leibovitz führte Sontag in die Welt der Berühmtheit ein, während Sontag, eine berühmte Kritikerin der Fotografie und der Medien, neue Dimensionen in Leibovitz' Arbeit brachte. Sontag konnte manchmal sehr hart sein, aber Annie Leibovitz schreibt ihr zu, dass sie ihr dabei geholfen hat, einen Intellekt und Ernst in ihren Fotografien zu entdecken. Unter anderem durch Sontags Einfluss erhielt Leibovitz 1991 eine Einzelausstellung in der National Portrait Gallery in London, die erste überhaupt von einer Künstlerin.40

Die frühen 2000er Jahre bereiteten Leibovitz einige private Veränderungen. Im Alter von 51 Jahren brachte sie 2001 ihre erste Tochter Sarah zur Welt. Ihre Partnerin Susan Sontag hatte in dieser Zeit immer wieder gegen akute Leukämie gekämpft. Zur gleichen Zeit, als Sontag gegen ihre Krankheit kämpfte, erkrankte auch Leibovitz‘ Vater und starb einige Wochen nach Susan Sontag an Lungenkrebs. Beide Sterbeprozesse dokumentierte Leibovitz mit ihrer Kamera.41 Die Fotografin sagte einmal dazu, dass sie sich mehr Zeit mit ihren geliebten Menschen wünschte, aber was bliebe wäre ihre Arbeit und schlussfolgerte, dass sich ihre Arbeit als die großartigste Beziehung in ihrem Leben herausstelle.42

1.1.4 Annie Leibovitz heute

Leibovitz ist als prominente Porträtfotografin bekannt und ebenso berühmt geworden wie die Menschen, die sie abbildete. Sie gilt als Meisterin der Erfassung populärkultureller Ikonen auf dramatische und innovative Weise und hat mit ihrer Arbeit den Weg für andere zeitgenössische kommerzielle Fotografien, wie beispielsweise die von Mario Testino43, geebnet, als legitime Kunstwerke zu gelten. Leibovitz arbeitet und entwickelt ihr künstlerisches Schaffen kontinuierlich weiter. Ihre Arbeit hält zudem an einem hohen Standard fest, den aufstrebende Fotografen zum Vorbild nehmen.

1.2 Das ist alles ein Leben

Ob die Bilder von Leibovitz als künstlerisch wertvoll und bedeutend zu betrachten sind oder nicht, in jedem Fall stellt der offensichtliche Widerspruch in ihrem Oeuvre einen spannenden Untersuchungsgegenstand dar. Die nachfolgenden Ausführungen gehen auf die Diskrepanz in ihrem bisherigen Werk ein und schlagen am Ende eine Brücke zu ihren Aufnahmen für The Cal. Versteht man die Widersprüchlichkeit in Leibovitz Arbeit, lassen sich ihre Bilder für den Pirelli-Kalender 2016 besser einordnen und im Gesamtkontext der Kalendergeschichte bewerten.

Im Folgenden Kapitel wird sich zu einem maßgeblichen Teil auf die Erkenntnisse von Catherine Zuromskis bezogen. Die Assistenzprofessorin für bildende Kunst forscht an der School of Photographic Arts and Sciences am Rochester Institute of Technology mit den Schwerpunkten Fotografie, zeitgenössische Kunst und amerikanische visuelle Kultur des 20. Jahrhunderts. Zuromskis ist Autorin von Snapshot-Photography: The Life of Images (2013) und The Factory: Photography and the Warhol Community (2012).

Im Jahr 2017 verfasste Zuromskis ein Essay über Leibovitz und widmete sich den hergestellten Intimitäten, die die Autorin in den Darstellungen der Fotografin zu erkennen glaubt. In All One Life: Celebrity and Intimacy in the Photographs of Annie Leibovitz 4 ' 4 geht sie auf die Fähigkeit von Leibovitz ein, die Diskrepanz zwischen der Celebrity- Kultur und intellektueller Intimität glaubhaft zu vereinen.

1.2.1 Die Ausstellung A photographer‘s Life und ihre Rezeption

Ausgehend von der im Jahr 2006 eröffneten Retrospektive von Leibovitz Annie Leibovitz: A Photographer’s Life, 1990-2005, die die ikonischen Prominenten-Portraits der Fotografin mit dramatisch persönlichen Fotos ihrer Familie, Freunde und Geliebten Susan Sontag kombiniert, untersucht Zuromskis die Zusammenhänge zwischen Promi­Porträts und intellektueller Intimität. Wie von Leibovitz behauptet wird, stellen die von ihr ausgestellten Fotografien ein Leben dar und die Fotografin verweist auf die voll­kommen logische Verbindung zwischen den verschiedenen Arbeiten der Ausstellung und begründet dies mit der Aussage, sie hätte nicht zwei Leben: „Ich führe keine zwei getrennten Leben. Ich habe ein einziges Leben, und zu dem gehören die persönlichen Bilder ebenso wie die Auftragsarbeiten.“44 45

Das mag zunächst schlüssig klingen, die von Leibovitz ausgestellten Bilder stießen jedoch auch auf sehr kritische Stimmen. Für Liz Jobey, die für den Guardian schrieb, war das ständige Wechseln zwischen Werken unterschiedlicher Größe, Genre und emotionaler Tiefe „verwirrend“ und „unrichtig“.46 Auch die Frage, warum sich Leibovitz dafür entschied, persönliche Fotografien sehr privater Momente in einem so öffentlichen Raum zu zeigen, kam immer wieder auf und die Fotografin musste sich den Vorwurf der Selbstsucht und des Voyeurismus gefallen lassen.47

„Schizophren“ lautet das Urteil von Vince Aletti, einem Kurator und Kunstkritiker, der für den New Yorker schreibt.48 Auch Zuromskis fragt sich in ihrem Essay, welche Art von Innerlichkeit Leibovitz in einer Vanity Fair-Mode-Serie mit Glamour-Shots von Scarlett Johansson offenbart und stellt fest, dass intime Momente aus Leibovitz‘ persönlichem Leben, neben solch glamourösen, aber leeren Celebrity-Porträts, die Ausbeutung von Angehörigen riskieren und bestenfalls in eine sich selbst verschärfende Autobiografie münden.49

Dies könnte für Zuromskis ein möglicher Grund sein, weshalb sich bisher noch niemand mit dem Wirken von Leibovitz in einem wissenschaftlichen Kontext beschäftigt hat. Ihr erstes Fazit lautet, dass Leibovitz‘ Arbeit zugleich zu kommerziell, zu oberflächlich und zu schizophren ist, um ein eigenes Studium zu verdienen.50

Dennoch weist Zuromskis darauf hin, dass es genau wegen ihrer Popularität in der Massenkultur und ihrer immer breiteren Auseinandersetzung mit dem fotografischen Genre Zeit ist, für Kunst- und Bildwissenschaftler auf Leibovitz als Ausnahme-Talent aufmerksam zu werden und sich mit der Fotografin auch in einem wissenschaftlichen Kontext auseinander zu setzen. Trotz vieler Widersprüche, so argumentiert sie, steckt in Leibovitz' Arbeit ein Zusammenhang, weil er auf „hergestellte Intimitäten“ hinweist.51 Dem ist zuzustimmen, denn im Laufe des Studiums von Leibovitz‘ Bildern ließen sich die von Zuromskis bezeichneten hergestellte Identitäten in vielen Darstellungen der Künstlerin verorten und sollen an späterer Stelle noch einmal diskutiert werden und exemplarisch herangezogen werden.

Zuromskis sieht im Werk von Leibovitz mehr als bloßen Narzissmus und widmet sich in ihrem Essay anschließend den zwei wahrscheinlich gegensätzlichsten Fäden in der Arbeit der Fotografin: die Prominentenporträtierung und ihre persönlichen Momentaufnahmen.52 Dabei konstatiert die Autorin zunächst, dass sich die Arbeit von Leibovitz im Laufe ihrer Karriere auf verschiedene Weise auf das Provokative, das Sensationelle und das Offenbare gerichtet hat und das Werk von Annie Leibovitz dramatisch und manchmal problematisch normativ ist und oft die Konventionen verstärkt, die sie eigentlich zu stürzen versucht.53 Zudem stellt Zuromskis fest, dass die Darstellungen von Leibovitz selten etwas erzählen, was der Betrachter nicht schon weiß.54

1.2.2 Hinter den Kulissen

Laut Zuromskis sind nur wenige Fotografen im zeitgenössischen Medienzeitalter so bekannt oder repräsentativ für die amerikanische Promi-Kultur wie Leibovitz.55 In den Prominentenbildern erkennt die Professorin eine kraftvolle und offene Gestaltung und spricht von der Vorstellung einer „echten“ individuellen Intimität und einem Gefühl verborgener Innerlichkeit innerhalb der Prominentenidentität.56 Dabei sieht sie den Versuch problematisch, kulturelle Topoi im Wesentlichen als wahr darzustellen.57 Umgekehrt scheinen Leibovitz‘ persönliche Fotos sowohl das intime Drama des Alltags, als auch eine theatralische Darstellung des Lebens hinter den Kulissen zweier bedeutender Persönlichkeiten der Öffentlichkeit zu zeigen: Sontag und Leibovitz. Zuromskis findet dabei wenig Provokatives im Abweichen von Familiennormen, sondern vielmehr eine Herstellung von Intimität, sowohl auf persönlicher, als auch auf öffentlicher Ebene, die aufrichtig empfunden wird, aber niemals ganz real ist.58

Der Schlüssel zu dem von Zuromskis beschriebenem Ansatz ist die strenge Kontrolle von Leibovitz über das Bild.59 Ihre Arbeit ist unfehlbar präzise, sorgfältig zusammengestellt, scharf und akribisch beleuchtet und das Atelier ist ihr Milieu. Durch aufwendige Kombinationen aus Beleuchtung, Kostümen, Requisiten, Sets und zunehmend auch digitaler Manipulation entstehen bei Leibovitz Bilder, die sie als konzeptuelle Bilder bezeichnet.60 Diese Konzepte von Leibovitz sind visuelle Metaphern, Phantasien der Identitäten ihrer Subjekte, die durch sorgfältige Inszenierung verwirklicht und lebendig realistisch gemacht werden.61

Die für Leibovitz identifizierenden Merkmale reichen von stark reduzierend bis hin zu völlig fiktiven Merkmalen, wie sie in ihren fantastischen Erzählsequenzen zu finden sind, bei der ganze Scharen von Prominenten engagiert wurden, um Alice im Wunderland, Der Zauberer von Oz (Abb. 9) oder Szenen aus beliebten Disney-Filmen nachzustellen. Das Promi-Individuum wird hier in eine bestimmte Idee eingebunden, die ganz von einer naturalistischen Darstellung entfernt ist.62

Diese Diskrepanz sieht Frau Zuromskis als kritisches Element, macht dies aber zugleich für das visuelle Vergnügen der Leibovitz-Bilder verantwortlich.63 Um besser zu verstehen warum das so ist, ist es für die Autorin wichtig den radikalen Unterschied zwischen dem sich unterscheidenden konzeptuellen Stil und dem fotografischen Ansatz zu beachten, der in die frühe Schaffensperiode von Leibovitz zuzuordnen ist - ihre Arbeit beim Rolling Stone64 Wie im Absatz „Frühe Periode“ beschrieben, begann die Karriere von Leibovitz als Chronistin des „Rockstar-Lifestyle“ für die Zeitschrift Rolling Stone in den 70er Jahren.

Ihre frühen Arbeiten waren von einem ausgefallenen Verité-Stil gekennzeichnet, der mit einer fliegenden Identität kombiniert wurde, die den Betrachter in den Bildraum rückte und die subtile und überraschende Menschlichkeit ihres Prominenten offenbarte.65 Dieser frühe Dokumentarstil passte perfekt zu dem New-Journalist Ansatz, der von den Rolling Stone -Mitwirkenden S. Thompson und Tom Wolfe gepflegt wurde. Besonders wichtig war in diesem Kontext die unverfälschte Ich-Perspektive beim Eintauchen in die Welten ihrer Modelle. Diese dokumentarische Wahrheit sollte auch die späteren Werke von Leibovitz maßgeblich mitbestimmen und auf der Tour mit den Rolling Stones viele Bilder schaffen, die sowohl epische, als auch intime Momente zeigten.

[...]


1 Amy Schumer, unter: https://twitter.com/amyschumer/status/671353092630253569.

2 Anna-Lou Leibovitz (* 2. Oktober 1949 in Waterbury, Connecticut, Vereinigte Staaten).

3 Body Shaming bedeutet, dass eine Person aufgrund ihrer körperlichen Erscheinung beleidigt oder diskriminiert wird. Vor allem weibliche Körper werden beim Body Shaming bewertend und herablassend kommentiert.

4 Als Tweet wird ein Beitrag auf der sozialen Plattform Twitter bezeichnet.

5 (wie Anm. 2)

6 Nils Markwardt, Schluss mit nackt, unter: https://www.zeit.de/kultur/2015-10/playboy-usa-nacktbilder.

7 Ebd.

8 Ellen von Unwerth (* 1954 in Frankfurt am Main, Deutschland).

9 Die Phrase Me too geht auf die Aktivistin Tarana Burke zurück. Die Schauspielerin Alyssa Milano machte den Hashtag populär und ermutigte betroffene Frauen, mit Tweets auf das Ausmaß sexueller Belästigung und sexueller Übergriffe aufmerksam zu machen. Seitdem wurde das Hashtag millionenfach benutzt. Im Oktober 2017 war der Weinstein-Skandal publik geworden, bei dem mehrere Frauen den Filmproduzenten Harvey Weinstein der sexuellen Belästigung, Nötigung oder Vergewaltigung beschuldigten.

10 Philippe Daverio, Pirelli - the calendar. 50 years and more 2015.

11 Emanuela Di Lallo (Hg.), Der Pirelli-Kalender. 1964-2004, München 12004.

12 Barbara Leibovitz, Annie Leibovitz - Life Through a Lens. 2006.

13 Annie Leibovitz, Annie Leibovitz at Work, Berlin 2018.

14 Catherine Zuromskis, “All One Life”: Celebrity and Intimacy in the Photographs of Annie Leibovitz, in: Photography and Culture, 10, Heft 3, 2017, 267-285.

15 Volker Nickel, Das Frauenbild in der Werbung. Nackte Tatsachen, Bonn 1993.

16 Ulrike Wohler, Weiblicher Exhibitionismus. Das postmoderne Frauenbild in Kunst und Alltagskultur (= Gender Studies), Bielefeld 2015.

17 Ebd.

18 Shohini Chaudhuri, Feminist film theorists. Laura Mulvey, Kaja Silverman, Teresa de Lauretis, Barbara Creed (= Routledge critical thinkers), London 2007.

19 Di Lallo (wie Anm. 11), 11.

20 PIRELLI & C. S.P.A, Making of Pirelli-Kalender 2016, unter: https://www.youtube.com/watch?v=Aq- HQoW4Kko.

21 Ebd.

22 Daverio (wie Anm. 10), 341.

23 Ebd.

24 PIRELLI & C. S.P.A (wie Anm. 20).

25 Barbara Leibovitz und Annie Leibovitz, Annie Leibovitz - Life through a lens, ICA Films 2006.

26 Ebd.

27 Johanna Adorjan, Was bleibt, unter: https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/kunstmarkt/kunstbuecher/was-bleibt-1385960.html.

28 Annie Leibovitz, A photographer’s life. 1990 - 2005, New York 2009.

29 Annie Leibovitz, Dancers (= Photographers at work), Washington 11992.

30 Annie Leibovitz, The White Oak Dance Project.

31 Annie Leibovitz u.a., Annie Leibovitz, the early years, 1970-1983, archive project #1, Köln, Germany 2018, 143.

32 Leibovitz u. Leibovitz (wie Anm. 25).

33 Leibovitz u.a. (wie Anm. 31), 143.

34 Leibovitz (wie Anm. 13), 13.

35 Ebd., 14.

36 Richard Avedon (* 15. Mai 1923 in New York City; f 1. Oktober 2004 in San Antonio, Texas).

37 Ebd.

38 Edward Steichen war ein US-amerikanischer Fotograf luxemburgischer Herkunft, der als Patriarch der Fotografie bezeichnet wird.

39 Ebd.

40 Ebd.

41 Ebd.

42 Leibovitz (wie Anm. 28).

43 Mario Testino (* 30. Oktober 1954 in Lima, Peru).

44 Zuromskis (wie Anm. 14).

45 Leibovitz (wie Anm. 28), 12.

46 Liz Jobey, Fame and death collide in Annie Leibovitz photography exhibition, unter: https://www.theguardian.com/artanddesign/2008/oct/20/annie-leibovitz.

47 Zuromskis (wie Anm. 14), 270.

48 Vince Aletti, From Page to Wall, unter: https://www.newyorker.com/magazine/2006/11/06/from-page- to-wall.

49 Zuromskis (wie Anm. 14), 270.

50 Ebd.

51 Ebd., 271.

52 Ebd.

53 Ebd.

54 Ebd., 267.

55 Ebd.

56 Ebd.

57 Ebd., 271.

58 Ebd.

59 Ebd.

60 Ebd., 272.

61 Ebd.

62 Ebd.

63 Ebd.

64 Ebd.

65 Ebd.

Ende der Leseprobe aus 79 Seiten

Details

Titel
Annie Leibovitz und der Pirelli-Kalender 2016. Ein bildästhetischer Wendepunkt?
Hochschule
Technische Universität Dresden
Note
1,3
Jahr
2019
Seiten
79
Katalognummer
V981495
ISBN (eBook)
9783346338426
ISBN (Buch)
9783346338433
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Fotografie, Pirelli, Pirelligeschichte, Annie Leibovitz, Frauenwandel, Frauenbild
Arbeit zitieren
Anonym, 2019, Annie Leibovitz und der Pirelli-Kalender 2016. Ein bildästhetischer Wendepunkt?, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/981495

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