„Mit dem Namen des früheren Harvard- (nunmehr UCLA-)Politologen J. Q. Wilson verbindet sich der wohl nachhaltigste und erfolgreichste Versuch einer im vollsten Kuhnschen Sinne paradigmischen Wende kriminologischen Denkens.“ (SACK 1996) Aber können anhand Wilsons folgenreicher „Broken-Windows“-Theorie, die auch unter dem Schlagwort „Zero tolerance“, „Null Toleranz gegenüber Rechtsbrechern“ Furore macht, und anhand seiner vorausgegangenen Überlegungen in dem Werk „Thinking about crime“, Aussagen zum Problem der Gewalt geleistet werden? Diese Theorie ist schließlich von Hause aus keine Gewalttheorie, sondern eine Theorie über das Entstehen und das Minimieren von Kriminalität. Doch Kriminalität trägt die Gewalt mit sich, wie sehr, hängt lediglich von der Definition von Gewalt ab. Und indem Wilson eine Theorie der Entwicklung von „kleiner“ zu „großer“ Kriminalität beschreibt, beschreibt er einen Prozeß gen Gewalt, denn er beleuchtet den Fortgang von der „Ordnungswidrigkeit“ hin zur „Gewaltkriminalität“.
Ein seit wenigen Jahren angewandtes und offenbar erfolgreiches Konzept zur Gewaltminimierung in hochentwickelten Konfliktregelungsgesellschaften wird auf die Broken-Windows-Theorie gestützt. Sie wird beschrieben als das „meistzitierte Verständigungsmedium über die Richtung einer sich neu entwickelnden Kriminalpolitik in allen kapitalistischen Ländern“. Wilson/Kelling haben als „new realists“ den Weg bereitet für eine neue konservative kriminalpolitische Schule, welche die Strategie in der Strafverfolgung verändert hat.
Inhaltsverzeichnis
0 Einleitung
1 Definitionen
1.1 Konfliktregelung und soziale Kontrolle
1.2 Kriminalität und Gewalt
2 Gewalt trotz Regulierung
2.1 Rückgang der primären Kontrolle
2.2 Nachahmungseffekte - oder Signalsetzung?
2.3 Definitionsmächte
2.4 Rückgang der Ressourcen
3 Neue alte Wege der Gewaltminimierung: Broken-Windows-Theorie
3.1 Utilitaristisches Ursachenmodell
3.2 Signalwechsel
3.3 Ressourcenverschwendung vs. Schmetterlingseffekt
3.4 Paradigmenwandel der sekundären Ressource Polizei
3.5 Stärkung der primären Konfliktregelungsressourcen
3.6 Individuum vs. Gemeinwesen
4 Deutsche Rezeption und Umsetzung des Broken-Windows-Konzepts
4.1 Rezeption
4.1.1 Wissenschaftsbetrieb
4.1.2 Politik
4.1.3 Öffentlichkeit
4.1.4 Polizei
4.2 Umsetzung
4.2.1 Beispiel Stuttgart
5 Kritik
5.1 Oberflächliche Erfolge
5.2 Bequemer Sündenbock-Effekt
5.3 Finanzierbarkeit
5.4 Gefahr von Übergriffen und Repression
5.5 Gefahr von problematischen Ausdehnungen
5.6 Probleme der Übertragbarkeit
6 Zusammenfassung
7 Stellungnahme
8 Anhang
8.1 Literaturverzeichnis
8.2 Quellenverzeichnis
0 Einleitung
„Mit dem Namen des früheren Harvard- (nunmehr UCLA-)Politologen J. Q. Wilson verbindet sich der wohl nachhaltigste und erfolgreichste Versuch einer im vollsten Kuhnschen Sinne paradigmischen Wende kriminologischen Denkens.“ (SACK 1996, S. 116) Aber können anhand Wilsons folgenreicher „Broken-Windows“-Theorie, die auch unter dem Schlagwort „Zero tolerance“, „Null Toleranz gegenüber Rechtsbrechern“ Furore macht, und anhand seiner vorausgegangenen Überlegungen in dem Werk „Thinking about crime“, Aussagen zum Problem der Gewalt geleistet werden? Diese Theorie ist schließlich von Hause aus keine Gewalttheorie, sondern eine Theorie über das Entstehen und das Minimieren von Kriminalität. Doch Kriminalität trägt die Gewalt mit sich, wie sehr, hängt lediglich von der Definition von Gewalt ab. Und indem Wilson eine Theorie der Entwicklung von „kleiner“ zu „großer“ Kriminalität beschreibt, beschreibt er einen Prozeß gen Gewalt, denn er beleuchtet den Fortgang von der „Ordnungswidrigkeit“ hin zur „Gewaltkriminalität“.
Ein seit wenigen Jahren angewandtes und offenbar erfolgreiches Konzept zur Gewaltminimierung in hochentwickelten Konfliktregelungsgesellschaften wird auf die Broken-Windows-Theorie gestützt. Sie wird beschrieben als das „meistzitierte Verständigungsmedium über die Richtung einer sich neu entwickelnden Kriminalpolitik in allen kapitalistischen Ländern“. (SACK 1996) Wilson/Kelling haben als „new realists“ den Weg bereitet für eine neue konservative kriminalpolitische Schule, welche die Strategie in der Strafverfolgung verändert hat. (HESS 1996)
Anmerkung: Die im Kriminologischen Journal erschienene Übersetzung des Wilson/ Kelling-Aufsatzes wurde nur teilweise benutzt, weil sich darin schwerwiegende Übersetzungsfehler finden. (Die Übersetzung wurde von einer Studentin des Hamburger Aufbaustudiengangs Kriminologie fabriziert, die „mit der Vergabe eines Hausarbeits-Scheins (...) geködert“ worden war. [SACK 1996, S. 116]) Ein Ausdruck des Originaltexts ist dieser Arbeit beigelegt.
1 Definitionen
1.1 Konfliktregelung und soziale Kontrolle
„Konfliktregelung“ ist eine Bezeichnung für das Austragen, mittels angewandten Regeln, von sich offen manifestierenden Konflikten, also „echten“ und anerkannten Konfliktprozessen: Heranbildung der Gegensätze, Bewußtwerden des Interessengegensatzes und Organisierung der Konfliktgruppierungen mit anschließendem offenen Ausbruch des Konflikts. Fraglich ist, ob es sich in diesem Sinne bei der Broken-Windows-Theorie tatsächlich um ein Mittel zur Konfliktregelung handelt oder im Gegenteil um ein Modell der Konfliktunterdrückung, wobei latente Konflikte in stark integrierten Gruppen unterdrückt werden, weil Konfliktäußerungen als Gefährdung der Gruppe gewertet und deshalb verboten werden. (FUCHS-HEINRITZ 1995, S. 358)
„Soziale Kontrolle“ ist als „social control“ ein Schlüsselbegriff der Broken-Windows-Theorie, der in einem weiten Sinne benutzt, nicht aber explizit definiert wird. Der Begriff wird in der sonstigen Literatur mehrdeutig verwandt, mit dem gemeinsamen Definitionskern „Prozesse und Mechanismen, mit deren Hilfe eine Gesellschaft versucht, ihre Mitglieder zu Verhaltensweisen zu bringen, die im Rahmen dieser Gesellschaft positiv bewertet werden.“ Dies geschieht durch innere Kontrolle (Verinnerlichung) und äußere Kontrolle. Diese erzeugt Normgefolgschaft durch den Druck, der als soziale Reaktion in Form von Sanktionen als Drohung oder Ansporn wirkt, (vgl. FUCHS-HEINRITZ 1995, S. 358) wobei allerdings insbesondere bei der Broken-Windows-Theorie auch der proaktive (präventive) Aspekt der sozialen Kontrolle eingeschlossen wird. (vgl. NOGALA 1989, S. 104)
1.2 Kriminalität und Gewalt
Zum Verständnis der Broken-Windows-Theorie ist es unbedingt notwendig, Kriminalität als eine Form abweichenden Verhaltens zu verstehen, das einer strafrechtlichen Norm widerspricht. Dem Etikettierungsgedanken in dem Konzept der Kriminalisierung ist die Broken-Windows-Theorie „geradezu entgegengesetzt“. (DARNSTÄDT 1997)
„Gewalt“ kann definiert werden als Bezeichnung für einen einmaligen physischen Akt und als Bezeichnung für den Vorgang, daß ein Mensch einem anderen Menschen Schaden mittels physischer Stärke zufügt. Wichtige Perspektiven auf den Gewaltbegriff werfen auch Definitionen im Sinne von W. Benjamin, der Gewalt als einflußreichen Eingriff in sittliche, durch Recht und Gerechtigkeit umgrenzte Verhältnisse verstand, und Galtungs Begriff von Gewalt als Verhindern von geistiger und körperlicher Selbstverwirklichung. (FUCHS-HEINRITZ 1995, S. 247) Die Broken-Windows-Theorie gibt keine explizite Definition von Gewalt, sagt aber aus, daß Gewalt im eng definierten Sinne (physischer Schaden) aus Manifestationen von Gewalt im weit definierten Sinne (Gewalt gegen Sachen, Eingriffe in gemeinschaftliche Verhältnisse) entsteht.
2 Gewalt trotz Regulierung
Hat eine Gesellschaft einen hohen Grad an Konfliktregulierung, gibt es trotzdem spezifische Räume in ihr, in denen Aggressionen ausgelebt und Konflikte gewalttätig ausgetragen werden können. (ECKERT 1993, S. 361)
2.1 Rückgang der primären Kontrolle
Die Gewaltminimierung durch Konfliktregelung zeichnet sich in einem kontrollierbaren Rechtsstaat dadurch aus, daß primäre Kontrolle abgebaut und sekundäre Kontrolle aufgebaut worden ist. (vgl. ECKERT 1993, S. 359f)
Bei der sekundären Kontrolle garantieren Gruppen und Instanzen, mit denen man nicht so eng verbunden ist (Verein, Betrieb, Staat), das Einhalten von sozialen Verhaltensnormen. (FUCHS-HEINRITZ 1995, S. 358) Diese Kontrolle wird auch von spezifischen Instanzen wie Lehrern, Sozialarbeitern und privaten Wachdiensten geleistet. Doch auch in der höchstentwickelten Konfliktregelungsgesellschaft, dem kontrollierbarem Rechtsstaat, greift die sekundäre Kontrolle nicht in allen gesellschaftlichen Räumen - weil es ein Charakteristikum des Rechtsstaats ist, daß individuelle Freiheitsrechte gelten. (ECKERT 1993, S. 361ff)
Bei der primären Kontrolle garantieren soziale Gruppen, in denen man sich intim kennt (Familie, Dorf), das Einhalten von sozialen Verhaltensnormen. (FUCHS-HEINRITZ 1995, ebd.) Die primäre Kontrolle wird nicht nur zugunsten der sekundären Kontrolle abgebaut, im Zuge der Abkehr vom Prinzip der „privaten Vergeltung“, sondern sinkt zudem aufgrund entsprechender sozialstruktureller Entwicklungen in modernen Industriegesellschaften. Kontrollinstrumente wie Verwandtschaft und Nachbarschaft verlieren gerade in hochentwickelten Konfliktregelungsgesellschaften an Bedeutung. (ECKERT 1993, S. 362)
2.2 Nachahmungseffekte - oder Signalsetzung?
Der soziale Nachahmungseffekt verfügt offenbar über viel Kraft. In einer Untersuchung von Polizisten im Einsatz gegen gewalttätige Demonstranten wird der Nachahmungseffekt als ein Legitimationsmuster herausgefunden, weshalb Polizisten gewalttätig gegen Demonstranten vorgehen. Polizeibeamte richten ihr Verhalten in Konfliktsituationen häufig nach dem Verhalten ihrer Kollegen aus, wobei es zu Auseinandersetzungen außerhalb der Legalität kommt. (WILLEMS 1988, z. B. S. 147f) Zwar setzen sozialwissenschaftliche Erklärungsmodelle in der Regel voraus, daß eine Gewaltäußerung zuvor als Bereitschaft vorhanden gewesen sein muß. Doch Gewaltbereitschaft wird oft in einer speziellen Situation überhaupt erst erzeugt. (ECKERT 1993, S. 368)
In einer Untersuchung der fremdenfeindlichen Ausschreitungen in Hoyerswerda und Rostock-Lichtenhagen wird festgestellt, daß die Gewalttaten Effekte der Nachahmung, Rekrutierung und Mobilisierung auslösten, die von entscheidender Bedeutung für die Diffusion und Eskalation von Gewalt sind. Die gewalttätigen Gruppen machten die Erfahrung, daß die massive Anwendung von Gewalt „erfolgreich“ ist. Die Taten konnten risikolos ausgeübt werden, ermöglichten eine mediale Selbstinszenierung, die Durchsetzung politischer Ziele und die Lösung lokaler Konflikte (die Asylbewerber wurden aus der Stadt heraus, in andere Unterkünfte verlegt).
„Das Lernen am erfolgreichen Modell hat daher gerade für die Erklärung einer wellenartigen Eskalation und Ausweitung von Gewaltaktionen nach spektakulären ‘Einzelerfolgen’ eine große Bedeutung.“ (WILLEMS 1993, S. 231) Handlungen können potentiell Bereitschaften erzeugen: Vorbildhandeln schafft Nachahmungsbereitschaft. (ECKERT 1993, S. 368)
An derartige Beobachtungen knüpft die Broken-Windows-Theorie an. Jene bestätigt insbesondere, daß das Erleben von erfolgreicher oder augenscheinlich nicht sanktionierter Gewalt zu einem Anwachsen der Gewalt führt. Zur Erklärung dessen wird aber weniger der aus der Psychologie stammende Nachahmungseffekt herangezogen, sondern biosoziologische Gedanken sowie ein philosophisch-ethisches Modell, das in der Ökonomielehre angewandt wird: die Utilitätstheorie (vgl. 3.1). Der Gewalttäter wählt den Weg des Unrechts, weil er ihm als erfolgreich erscheint - obwohl er sich auch für das Recht hätte entscheiden können. (vgl. HESS 1996) In diesem Modell ahmt der Täter nicht die Gewalt anderer nach, sondern verwendet die Gewaltmanifeste als „Entscheidungshilfe“.
Die Väter der Theorie, die beiden US-Sozialforscher George L. Kelling und James W. Wilson, bezeichnen die Gewaltmanifeste als „Signale“ und verdeutlichen dies anhand der Metapher vom „zerbrochenen Fenster“: „If a window in a building is broken and is left unrepaired, all the rest of the windows will soon be broken ... One unrepaired broken window is a signal that no one cares, and so breaking more windows costs nothing.“ (WILSON/KELLING 1982)
2.3 Definitionsmächte
Soziale Gruppen haben eine eigene Definitionsmacht der legitimierten Gewaltanwendung, was so unterschiedliche Gruppen betrifft wie etwa Familien und Terroristengruppen sowie Gruppenmitglieder wie Sportler und Slumbewohner. Ethnische, religiöse und ideologische Gruppen können ihre Chance nutzen, legitime Gründe für Gewalt zu definieren. (ECKERT 1993, S. 361) Gemäß der utilitaristischen Broken-Windows-Theorie ist ein legitimer Grund für Gewalt bereits dann vorhanden, wenn Gewalt als ein erfolgversprechendes Mittel zur Erreichung eines Nutzens gelten kann.
2.4 Rückgang der Ressourcen
Im Laufe des Verfalls einer Gemeinschaft werden die Konfliktregelungsressourcen im Bereich der primären Kontrolle dadurch geschwächt, daß die Menschen einander meiden. (vgl. WILSON/KELLING 1982) Das Resultat von „zerbrochenen Scheiben“ ist der Rückzug jener aus der Gemeinschaft, die fähig sind, die soziale Kontrolle zu erhalten. (ELLIOT/ELLINGWORTH 1997)
Die sekundäre Kontrolle greift immer weniger, weil nicht genügend Ressourcen bereitgestellt werden („Der Polizeichef erklärt, er habe zu wenig Personal“) und die Polizei die Bewohner eines solchen Sozialraums für „Tiere“ hält, „die einander verdient haben“, woraufhin die Bevölkerung schließlich den Eindruck bekommt, daß die Polizei „nichts tun kann“ und die Beamten darum immer seltener alarmiert (WILSON/KELLING 1982 [eig. Übers.]), also selbst zum Rückgang der Ressource beiträgt. Wird die Ressource anhand der Kriminalitätsrate etatisiert, führt das dazu, kritisieren Wilson/Kelling, daß Kriminalität in weniger gefährdeten Terrains stattfinden kann, während die Polizei dort ermittelt, wo die Situation bereits hoffnungslos ist.
Aufgrund dessen und des Wandels der Polizei vom „Ordnungshüter“ zum „Crimefighter“ gehen die informellen Konfliktregelungsressourcen weiter zurück, denn „the essence of the police role in maintaining order is to reinforce the informal control mechanisms.“ Einen Ersatz der informellen Konfliktregulierung könnte die Polizei jedoch nur unter Aufbringung außerordentlicher Ressourcen leisten. Spezifische Instanzen der sekundären Kontrolle wie Sozialarbeiter könnten die Konfliktregulierung zwar ebenfalls leisten, sind aber als Ressource oft gerade dort nicht vorhanden, wo die Deinstitutionalisierung bereits vorangeschritten ist. (WILSON/KELLING 1982) Zudem ist die „professionelle Kontrolle“ durch Sozialarbeiter, Lehrkräfte, Polizisten und Hausmeister, die in großen Wohneinheiten mit heterogener Bevölkerung die informelle soziale Kontrolle ersetzt, „immer schlecht an die Verhaltensweisen der Jugendlichen angepaßt.“ (TROTHA 1997, S. 223)
3 Neue alte Wege der Gewaltminimierung: Broken-Windows-Theorie
Wie kurz unter Punkt 2.2 skizziert, stützt sich das Broken-Windows-Konzept auf die Utilitätstheorie. Diese bestimmt das Konzept der Gewaltminimierung.
3.1 Utilitaristisches Ursachenmodell
In der ätiologischen Theorie der Gewalt erfährt man viel, „ich möchte beinahe sagen ‘alles’, über Risikolagen, soziale und ökonomische Unterprivilegierung, Arbeitslosigkeit, Erziehungsdefizite, Schulversagen, Statusfrustration, psychische und soziale Pathologien.“ (TROTHA 1997) Das Konzept der „zerbrochenen Fenster“ reduziert komplexe Theorien von der Ätiologie der Gewalt. Ursache der Gewalt ist, kurz gesagt, der Gewalttäter.
Die Broken-Windows-Theorie ist ein Utilitätskonzept, also ein Nützlichkeitsmodell von der Gewaltentstehung, d. h. das treibende Motiv des Handelns ist die Erzielung eines Nutzens, wobei der hierfür günstige Einsatz an Mitteln die Gewalt ist. Dieses Mittel wird kausal-intentional, per „rational choice“ ausgewählt. (vgl. SACK; FUCHS-HEINRITZ 1995, S. 702 u. 538)
Die Broken-Windows-Theorie steht damit den orthodoxen „root causes“-Theorien der 60er, 70er und 80er Jahre (Armut, Arbeitslosigkeit, soziale Ungleichheit etc. als „tiefere Ursachen“) in einem krassen Gegensatz entgegen (HESS 1996, S. 181) Der „Ursachen-Reduktionismus“ in der Soziologie der Gewalt blendet die Verantwortung der Täter aus. (TROTHA 1997, S. 19) Horst Schüler-Springorum, in den siebziger Jahren ein Vordenker der Strafvollzugsreform: „Rückblickend betrachtet waren wir Reformer wirklich zu stark auf den Täter fixiert.“ Der Täter war das Opfer, der Leidtragende seiner sozialen und politischen Umstände. (KLINGST 1997)
Die Idee zerstört tatsächlich ein Dogma, das die moderne Kriminalpolitik der Neuen wie der Alten Welt bislang bestimmt hat: Kriminalität, so die Lehre von Rechten und von Linken, lasse sich nur bekämpfen, wenn man deren tiefere Ursachen bekämpft. Der Unterschied zwischen dem linken und dem rechten Weltbild bestand allein in der Antwort auf die Frage, was wohl die „tieferen“ Ursachen seien. Die sozialen Ungerechtigkeiten, sagen die einen; der Verfall von Moral und Erziehung, sagen die andern. (DARNSTÄDT 1997)
Das Broken-Windows-Konzept beruft sich auf die Theorien von Hobbes und Bentham. (WILSON 1985, S. 247) Also das mehr als dreihundert Jahre alte Menschenbild von Thomas Hobbes (Kampf aller gegen alle, der Mensch ist egoistisch und wird vor allem von dem Selbsterhaltungstrieb bewegt) kombiniert mit den hedonistischen Vorstellungen des englischen Philosophen und Juristen Jeremy Bentham (1748-1832), der es als Tatsache ansah, daß die Menschen ausschließlich nach Lust und dem Vermeiden von Schmerzen streben. Bentham gilt als Begründer des Utilitarismus und beeinflußte den zweiten großen Vertreter dieser Denkweise, John Stuart Mill. (HÜGLI/LÜBCKE 1991; HILLEBRANDT 1997) Die Utilitätstheorie erklärt soziales Handeln mit dem treibenden Motiv „Erzielung eines Nutzens“. Eine inhaltliche Bestimmung dessen, was als Nutzen zu gelten hat, erfolgt nicht. (FUCHS-HEINRITZ 1995, S. 702) Das ganz spezifische Paradigma des Utilitarismus lautet: Jeder individuelle Akteur optimiert seine Entscheidungen danach, zu minimieren, was er für Verluste hält, und zu maximieren, was er für Gewinne hält. (ROBERT 1990, 187)
In der Broken-Windows-Theorie überprüft der Täter die „Kosten“ seines Handelns, und wenn die „Kosten“ zu hoch sind, weil er zum Beispiel mit hoher Sicherheit erwischt und dann streng bestraft wird, unterbleibt die gemeinschaftsschädliche Handlung. (ALBERTS 1998) Die Wahl der Mittel anhand einer „rationalen Wahl“ bedeutet, daß im Blick auf eine Rangfolge von Zielen oder Bedürfnissen jene Mittel ausgewählt werden, die deren Verwirklichung mit dem geringsten Aufwand und den geringsten unerwünschten Nebenfolgen garantieren. (FUCHS-HEINRITZ 1995, S. 729)
Die Rückkehr zum Ansatz der rationalen Wahl wird von Wilson teilweise mit der „enttäuschenden Erfahrung vieler Menschen bei der Rehabilitierung von Straftätern“ erklärt. (WILSON 1985, S. 247) In Deutschland werden über zwei Drittel der Strafgefangenen rückfällig. (KLINGST 1997) Die „root causes“ in der orthodoxen Sichtweise seien Armut und Hilfebedürftigkeit, welche mit Sozialprogrammen beseitigt werden könnten, konstatiert Wilson. Es sei aber völlig unklar, ob mehr Möglichkeiten und höhere Einkommen für Straftäter die Kriminalitätsrate sinken lassen. Und nach dem Utilitätsdenken gebe es wenig Grund zur Annahme, daß das Handeln von Menschen nur mit den Handlungsgründen „Arbeitsplätze“ gestaltet werden kann - und nicht auch mit dem Handlungsgrund „Strafe“. (WILSON 1985, S. 6)
Grundlage für das Auswählen des Mittels Gewalt sind als Signal wirkende Manifestationen früherer Akte von erfolgreicher Gewalt. Jene Akte scheinen nicht negativ normiert, weil ihre Folgen nicht beseitigt, folglich „hingenommen“ werden. „Graffiti, Müll, Exkremente sind Signale für Randale: Hier kümmert sich keiner, egal was passiert.“ (DARNSTÄDT 1997) Diese Signale zeigen dem potentiellen Gewalttäter, daß die Gewalt ein günstiges Mittel zur Erzielung eines Nutzens ist, weil das Risiko gering erscheint, daß ein Verhalten wider die Normen negativ sanktioniert wird. „Die Broken-Windows-Theorie sagt, daß eine eingeworfene Scheibe oder ein Vandalismusschaden dem Bürger signalisiert: Hier ist ein Ort, der nicht kontrolliert wird oder nicht kontrollierbar ist. Er schlußfolgert daraus: Wenn es an diesem Ort möglich ist, ungestraft eine Telefonzelle zu demolieren, so wird es auch möglich sein, mich zu berauben, ohne daß jemand eingreift.“ (HOLECEK/HALT 1997)
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