Sprache und Geschlecht. Geschlechtsspezifischer Sprachgebrauch am Beispiel des Russischen


Bachelorarbeit, 2016

46 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Begriffserklärung
2.1 Sexus
2.2 Genus
2.3 Gender

3. Forschungsüberblick
3.1 Entstehung der Genderlinguistik
3.2 Genderlinguistische Studien in der Russistik

4. Theoretische Konzeptionen von geschlechtsspezifischem Sprachgebrauch
4.1 Defizitkonzeption und Neue Defizitkonzeption
4.2 Differenzkonzeption
4.3 Die Code-Switching-Hypothese
4.4 Das Konzept des Doing Gender

5. Geschlechterunterschiede in der Sprachverwendung im Russischen
5.1 Phonetik
5.2 Lexik
5.3 Gesprächsthematik
5.4 Syntax
5.5 Gesprächsverhalten

6. Zusammenfassung

Literaturverzeichnis

1. Einleitung

Die vorliegende Arbeit befasst sich mit dem Thema „Sprache und Geschlecht“ im Russischen. Dieser Thematik liegt die These zu Grunde, dass es geschlechtsspezifische Unterschiede im Sprachgebrauch des Russischen gibt. Um diese These zu untersuchen, werden verschiedene wissenschaftliche Werke analysiert und passende Beispiele vorgestellt. Alle Textbeispiele wurden (sofern nicht anders vermerkt) aus dem Sprachkorpus „Nacional'nyj korpus russkogo jazyka“, „Ustnyj korpus“1, entnommen.

Die Genderlinguistik beschäftigt sich „mit dem Zusammenhang von Sprache und Geschlecht und teilt sich in einen systemlinguistisch und einen pragmatisch-gesprächsanalytisch orientierten Flügel“ (Thielemann 2009: 1091). Systemlinguistisch orientierte Arbeiten wenden sich der Untersuchung „[der] im Sprachsystem vorhandenen Ausdrucksmöglichkeiten der außersprachlichen Kategorie ‚Geschlecht’ [zu]“ (ebd.). Pragmatisch-gesprächsanalytische linguistische Arbeiten untersuchen den geschlechtsspezifischen Sprachgebrauch bzw. das Kommunikationsverhalten (vgl. ebd.: 1092).

In dieser Arbeit wird auf die Unterschiede im weiblichen und männlichen Sprachgebrauch sowie auf das geschlechtsspezifische Gesprächsverhalten eingegangen. Die Analyse beschränkt sich dabei auf die Sprachverwendung in informellen Gesprächssituationen.

Die Arbeit besteht aus vier Teilen. Das erste Kapitel widmet sich der terminologischen Klärung. Dabei werden Begriffe wie Sexus, Genus und Gender erläutert und voneinander abgegrenzt.

Im zweiten Kapitel wird ein kurzer Forschungsüberblick verschafft. Zuerst wird die Entstehungsgeschichte der Genderlinguistik betrachtet. Anschließend werden genderlinguistische Studien in der Russistik dargestellt.

Das dritte Kapitel stellt die theoretischen Konzeptionen von geschlechtsspezifischem Sprachgebrauch dar: die Defizit- und Neue Defizitkonzeption, die Differenzkonzeption, die Code-Switching-Hypothese sowie das Konzept des Doing Gender.

Im vierten und letzten Kapitel werden die Unterschiede im weiblichen und männlichen Sprachgebrauch bzw. Gesprächsverhalten veranschaulicht. Zunächst wird auf phonetische und lexikalische Eigenschaften eingegangen. Anschließend werden die von Frauen und Männern bevorzugten Themen genannt und syntaktische Besonderheiten präsentiert. Zum Schluss werden die geschlechtsspezifischen Unterschiede im weiblichen und männlichen Gesprächsverhalten dargestellt.

2. Begriffserklärung

Die terminologische Unterscheidung zwischen dem biologischen Geschlecht, welches weiblich-männliche Dualität aufweist, dem sozialen Geschlecht, das mit bestimmten, sozial bedingten geschlechtsspezifischen Rollen verbunden ist sowie dem grammatischen Geschlecht, ist eine wichtige Grundlage der Genderlinguistik (vgl. Bußmann/Hof 1995: VIII; Tafel 1997: 49).

Das Geschlecht „eines Lebewesens ist ein zentrales Merkmal, und dem Geschlecht eines Menschen kommt eine ganz besondere – soziale – Bedeutung zu“ (Tafel 1997: 49).

2.1 Sexus

Der Begriff Sexus (russ. ‚пол’, engl. ‚sex’) bezeichnet „das natürliche, das biologische Geschlecht, d.h. die Unterscheidung zwischen weiblichen und männlichen Menschen und Tieren“ (Tafel 1997: 65). Dabei „spiegeln sich diese, vor allem bei den Menschen offensichtlichen (sichtbaren), biologischen Unterschiede [...] in den Systemen von Sprachen wieder“ (ebd.).

Dem Sexus kommt eine wichtige Rolle in der Sprache zu: „Der Sexus einer oder mehrerer spezifischer menschlich-belebter Referenzeinheiten stellt ein wichtiges Identifikations- und Orientierungskriterium dar und mu [ ss ] somit im Kommunikationsproze[ss] verbalisiert werden“ (Tafel 1997: 65). Wenn auf eine konkrete Einzelperson referiert wird, muss ihr Sexus genannt werden (vgl. ebd.). Die Sexus-Markierung „kann dabei über eine Vielzahl verschiedener, ko(n)textabhängiger Mittel (u.a. auch über das Genus) erfolgen“ (ebd.). Tafel weist darauf hin, dass „sich die außersprachlichen, sprachlichen und kognitiven Kategorien Sexus, Genus und soziales Geschlecht [überschneiden können]“ (ebd.).

2.2 Genus

Unter dem Begriff Genus (russ. ‚род’, engl. ‚gender’) versteht man im engeren Sinne das grammatische Geschlecht (vgl. Tafel 1997: 49, 66; Scheller-Boltz 2015: 20). Das grammatische Geschlecht ist „ein inhärentes Merkmal eines jeden Substantivs und damit auch ein Klassifikationsmerkmal, nach dem die Substantive einer Sprache […] in verschiedene Klassen eingeteilt werden“ (Tafel 1997: 66). Im Russischen gibt es drei Genera: Femininum, Maskulinum und Neutrum (vgl. Hellinger 1990: 60; Tafel 1997: 76). Das Genussystem des Russischen ist dabei „sexusbasiert: Männliche Personenbezeichnungen gehören dem Maskulinum an, weibliche dem Femininum“ (Doleschal 2004: 6).

Im weiteren Sinne wird unter Genus nicht nur das grammatische, sondern auch das lexikalische (semantische), referentielle und soziale Geschlecht verstanden (vgl. Bußmann 2005: 486-487; Hellinger/Bußmann 2001: 6; Kroll 2002: 149).

Das lexikalische (semantische) Geschlecht bezieht sich auf die „inhärente semantische Spezifizierung belebter Nomina“ (Kroll 2002: 149). So unterscheidet man im Bereich der Personenbezeichnungen geschlechtsspezifische Ausdrücke (z.B. брат, сестра, писатель, писательница) und geschlechtsindefinite Ausdrücke (z.B. ребенок, человек), die sowohl auf Männer als auch auf Frauen referieren können (vgl. ebd.).

Das referentielle Geschlecht verweist auf das natürliche Geschlecht einer bezeichneten Person und identifiziert eine Referentin bzw. einen Referenten als weiblich, männlich oder genus-indefinit (vgl. Bußmann 2005: 487; Hellinger/Bußmann 2001: 8; Kroll 2002: 149). So kann z.B. das grammatische Maskulinum врач auf eine männliche oder weibliche Person verweisen.

Das soziale Geschlecht bezieht sich auf die Verknüpfung von Personenbezeichnungen mit stereotypen Eigenschaften, Geschlechterverhältnissen oder sozialen Rollen (vgl. Bußmann 2005: 487-488; Hellinger/Bußmann 2001: 11; Kroll 2002: 149). Im Russischen zeigt sich diese Kategorie vor allem bei sozial höherstehenden Berufsbezeichnungen, wie z.B. дипломат, адвокат, доцент u.a.

2.3 Gender

Der Begriff Gender 2 bezeichnet im Gegensatz zum biologischen oder natürlichen Geschlecht das soziale bzw. kulturelle Geschlecht (vgl. Samel 2000: 164; Tafel 1997: 50, 1999: 500; Scheller-Boltz 2015: 20). Im Allgemeinen werden unter diesem Terminus „die mit dem jeweiligen Geschlecht verbundenen Rollenbilder, Statusvorstellungen usw. verstanden“ (Tafel 1997: 50). Dabei sind „die unterschiedlichen Geschlechterrollen das Ergebnis historischer, kultureller, sozialer und psychologischer Prozesse […]“ (ebd.: 51).

Das soziale Geschlecht eines Menschen als ein zentrales Merkmal der Identifikation und der Selbstidentifikation bestimmt sein/ihr eigenes Verhalten und das auf ihn/sie gerichtete Verhalten anderer, es spielt eine Rolle bei der Strukturierung unserer Gesellschaft, beim Sozialisierungsproze[ss], kurzum: es ist in allem, was wir tun, in mehr oder weniger starkem Maße präsent. (Tafel 1997: 56)

Die Geschlechtsidentität wird nicht angeboren, sondern mit der Sozialisation eines Kindes in dessen alltäglichen Interaktionen erworben (vgl. Goffman 1977; Günthner 1997: 133; Kroll 2002: 141). Dabei muss „[z]ur Herstellung einer stabilen Geschlechtsidentität [...] das soziale Geschlecht und damit auch die Geschlechtsidentität immer wieder in verschiedenen Situationen von den Interaktionsteilnehmer/innen bestätigt werden“ (Günthner 1997: 133).

3. Forschungsüberblick

Die ersten Forschungen zu dem Thema „Sprache und Geschlecht“ gab es bereits im 17. Jahrhundert (vgl. Baur 2005: 15; Jespersen 1925: 220; Günthner/Kotthoff 1991: 8; Gräßel 1991: 12; Samel 2000: 24). Dabei wurden geschlechtsspezifische Unterschiede in den „exotischen Sprachen“ untersucht (vgl. ebd.). Otto Jespersen beschrieb in seinem Buch „Sprache, ihre Natur, Entwicklung und Entstehung“ (1925) im Kapitel „Die Frau“ neben exotischen Frauensprachen auch die Unterschiede im Sprachgebrauch westeuropäischer Frauen und Männer (vgl. Jespersen 1925: 220-238). Diese früheren Arbeiten sind „vom Standpunkt der heutigen Forschung eher als unwissenschaftlich zu charakterisieren“ (Motschenbacher 2006: 23).

3.1 Entstehung der Genderlinguistik

Im Zuge der Frauenbewegung der 60er und 70er Jahre in den USA und Westeuropa entstand ein großes wissenschaftliches Interesse zu dem Themenkomplex „Sprache und Geschlecht“ (vgl. Baur 2005: 15; Kirilina 2005: 15; Kotthoff 2006: 2494; Potapov 2002b: 103; Tafel 1999: 499; Gräßel 1991: 17; Günthner 1997: 122, 2006: 35; Günthner/Kotthoff 1991: 14; Samel 2000: 20). Im Vordergrund der Bewegung stand „die Benachteiligung von Frauen in verschiedenen Bereichen des öffentlichen Lebens“ (Baur 2005: 15). Dabei wurde „nicht nur das politische Geschehen diskutiert und analysiert, sondern auch das Verhältnis der Geschlechter zueinander“ (Samel 2000: 15). Die Frauen versuchten herauszufinden, was Weiblichkeit ist, was also die weibliche Identität konstituiert. Sprache und Sprechen wurden dabei ins Zentrum der weiblichen Selbstfindung gerückt. Das Thema ‚weibliche Identität’ verknüpfte sich mit dem Thema ‚Sprache der Frauen’. (Samel 2000: 18-19)

Als Folge ist die Feministische Linguistik entstanden (vgl. Günthner/Kotthoff 1991: 14; Kirilina 2005: 15; Potapov 2002b: 103), die sich mit der Frage beschäftigt, „ob bzw. wie sich die ungleiche soziale Stellung von Frauen und Männern in patriarchalisch strukturierten Gesellschaftssystemen in der Sprache als ein soziales Phänomen niederschlägt” (Tafel 1999: 499). Dabei wurden sowohl das Sprachsystem als auch das Sprachverhalten analysiert (vgl. Günthner/Kotthoff 1991: 14).

Robin Lakoff, Vertreterin der feministischen Linguistik, beschreibt in den Aufsätzen „Language and Woman’s Place“ (1973, 1975) die Sprache der amerikanischen Frauen. Die von Lakoff postulierten Thesen dienen zur Ausrichtung und als Rahmen für weitere linguistische Untersuchungen (vgl. Baur 2005: 16). Lakoff hat „die linguistische Genderforschung sämtlicher Ausrichtung nachhaltig und bis heute beeinflusst […]“ (Motschenbacher 2006: 23).

3.2 Genderlinguistische Studien in der Russistik

In der Russistik etablierte sich die Genderlinguistik erst in den 90er Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts als eigeständige Forschungsrichtung (vgl. Kirilina 2003: 113; Thielemann 2009: 1093, 2010: 13; Baur 2005: 20; Scheller-Boltz 2015: 15) . Die ersten Arbeiten zum weiblichen Sprachgebrauch verfassten Olga Yokoyama (1992), Bettina Strewe (1993) sowie Elena Zemskaja / Margarita Kitajgorodskaja / Nina Rozanova (1993).

Olga Yokoyama (1992) geht in ihrem Aufsatz „Soziolingvističeskij aspekt russkoj intonacii“ auf phonetische Besonderheiten in der russischen Sprache ein. Sie stellt fest, dass „Frauen zur Verwendung markierter prosodischer und informationsstruktureller Realisierungen von Aussagen und Ausrufen neigen, die besondere Nähe bzw. Vertrautheit der GesprächspartnerInnen voraussetzen bzw. besondere Emotionalität signalisieren“ (Thielemann 2010: 29).

Bettina Strewe (1993) untersucht ausgewählte phonetische und prosodische Phänomene bei ca. 100 Personen aus St. Petersburg und Umgebung. In ihrer Arbeit (1993) berücksichtigte sie folgende Aspekte: „das Sprechtempo, die Aussprachevariation bei /č/, die Aussprache von /a/, /o/ und /u/ im Zusammenhang mit der Betonung, das Fehlen der Palatalität in der Aussprache von /m’/ und die palatalisierte Aussprache von /n/ sowie Palatalisierung bzw. Affrizierung von /t’/“ (Strewe 1993: 405).

Zemskaja/Kitajgorodskaja/Rozanova (Z./K./R.) (1993) stellen in „Osobennosti mužskoj i ženskoj reči“ geschlechtsspezifische Unterschiede im Sprachgebrauch auf der phonetischen, prosodischen und lexikalischen Ebene dar. Außerdem werden Besonderheiten des männlichen und weiblichen Gesprächsverhaltens beschrieben. Z./K./R. (1993) haben objektiv, ohne Verbindung mit feministischer Bewegung, die Unterschiede im weiblichen und männlichen Sprechen betrachtet:

Мы считаем, что связь с феминистическим движением мешает объективному исследованию. Беспристрастное научное исследование нередко отсутствует и подменяется излишне страстными рассуждениями, порождающими перегибы в оценках, а иногда и ложные выводы. (Z./K./R. 1993: 94)

Die Linguistinnen haben die Forschungsergebnisse von amerikanischen und deutschen Forschern auf das Russische angewendet.

Seit 1993 sind zahlreiche Publikationen zu dem Themenkomplex „Sprache und Geschlecht“ erschienen: Tafel (1997, 1999), Grenoble (1999), Yokoyama (1999, 2002, 2003), Doleschal (2002, 2003, 2004), Potapov (1997, 2002a, 2002b), Kirilina (2003, 2005), Baur (2005), Thielemann (2009, 2010) u.a.

Karin Tafel (1997) verschafft einen Überblick über das Thema „Frau und Geschlecht“. In ihren Arbeiten (1997, 1999) untersucht sie die Verbindung der grammatischen Kategorie des Genus mit dem biologischen Geschlecht. Ursula Doleschal (2002, 2003, 2004), Daniel Weiss (1985, 1988, 1991, 1993) und Maksim Krongaus (1996) beschäftigen sich mit den Ausdrucksmöglichkeiten der Kategorie Geschlecht im Russischen.

Natalija Baur (2005) untersucht in ihrer Dissertation den geschlechtsspezifischen Sprachgebrauch auf der Wortebene anhand von 17 russischen Talkshowsendungen. Baur stellt fest, dass es Unterschiede in den Redebeiträgen von Männern und Frauen gibt, und zwar bei der Eigendarstellung und bei der Orientierung auf andere Personen (vgl. Baur 2005: 341).

Nadine Thielemann (2010) beschreibt den weiblichen Diskussionsstil am Beispiel von ukrainischen, russischen und polnischen Sprecherinnen. Sie weist auf die interkulturellen Unterschiede zwischen den drei Sprechgemeinschaften hin.

4. Theoretische Konzeptionen von geschlechtsspezifischem Sprachgebrauch

Im Rahmen der Genderlinguistik sind verschiedene Konzepte entstanden, die sich mit dem weiblichen und männlichen Kommunikationsverhalten beschäftigen: die Defizit- und Neue Defizitkonzeption, die Differenzkonzeption, die Code-Switching-Hypothese sowie das Konzept des Doing Gender (vgl. Günthner 1997: 126; Thielemann 2010: 23).

In den Pionierarbeiten zur Genderlinguistik wird weibliches Kommunikationsverhalten als „Frauensprache“3 bei Jespersen (1925), bei Lakoff (1973, 1975) und als „weibliches Register“ (auch „Frauensprache“) bei Trömel-Plötzt (1990; 1997) bezeichnet (vgl. Thielemann 2010: 23).

4.1 Defizitkonzeption und Neue Defizitkonzeption

In Dominanz- bzw. Defizitansätzen gilt die Männersprache als Norm und die Frauensprache wird als defizitär bewertet, weil sie von dieser Norm abweicht (vgl. Baur 2005: 58; Motschenbacher 2006: 23). Jespersen (1925), der klassische Vertreter dieser Hypothese, geht davon aus, dass „die Frauensprache keine eigenständige Sprache, sondern eine minderwertige Variante der Männersprache [ist]“ (Samel 2000: 30).

Jespersen beschreibt die Grammatik, den Wortschatz und die Syntax der Frauensprache (vgl. Jespersen 1925: 226-236). Dabei stellt er fest, dass der wortschatz einer frau […] in der regel weit weniger umfassend als der eines mannes [ist]. Die frauen bewegen sich vorzugsweise auf dem mittelfelde der sprache, wobei sie alles abseits des weges liegende oder seltsame vermeiden, die männer dagegen prägen oft entweder neue wörter und ausdrücke oder nehmen altmodische auf […]. Die frauen folgen regelmäßig der landstraße der sprache, die männer aber geben häufig der neigung nach, einen schmalen seitenpfad einzuschlagen oder sogar sich einen neuen weg erst zu bahnen. (Jespersen 1925: 231-232)

Nach Jespersen sei die Syntax der Frauensprache primitiver als die der Männersprache (vgl. Klann-Delius 2005: 4): während die Männer die Hypotaxe bevorzugen, präferieren die Frauen die Parataxe (vgl. Jespersen 1925: 236). Die sprachlichen geschlechtsspezifischen Unterschiede basieren nach Jespersen auf die sozialen und kulturellen Bedingungen und sind biologisch vorgegeben (vgl. Baur 2005: 58; Samel 2000: 30).

In den Neuen Defizitansätzen wird die Frauensprache bzw. das weibliche Sprachverhalten als Zeichen gesellschaftlicher Unterdrückung, mangelnden Selbstbewusstseins und weiblicher Zurückhaltung gesehen (vgl. Baur 2005: 58; Günthner/Kotthoff 1991: 22).

Die Frauensprache wird folgendermaßen beschrieben (vgl. Lakoff 1975: 53-56; Trömel-Plötz 1990: 45-47, 1997: 246-248; Samel 2000: 34-35):

- Der Wortschatz der Frauen, der von ihren traditionellen Rollen, unterschiedlichen Arbeitsbereichen und Interessen abhängig ist, beinhaltet vor allem Wörter aus den Bereichen Kinderpflege, Haushalt und Mode.
- Frauen verwenden öfter als Männer Formen der Verniedlichung, z.B. Diminutiva und Euphemismen, um Freundlichkeit und Liebenswürdigkeit auszudrücken.
- Frauen sprechen korrekter als Männer, sie passen sich der Standardsprache an.
- Der Sprechstil der Frauen ist unsicher und indirekt durch die Verwendung von Rückversicherungsfragen (tag-questions) wie z.B. ne, gell, oder und Unschärfemarkierer (hedges) wie z.B. irgendwie, oder so, finde ich.
- Frauen gebrauchen häufiger als Männer bestimmte Intensivierungsmittel, wie z.B. so oder wirklich, weil sie ihren Aussagen Gewicht verleihen wollen.
- Frauen benutzen keine oder andere Vulgärausdrücke, Zweideutigkeiten oder Flüche als Männer. Frauen gebrauchen überhöfliche Formen und harmlose Ausdrücke, weil sie schön und höflich sprechen sollen. Frauen erzählen keine Witze.

Die Frauensprache, als defizitäre Sprache, wird von Lakoff (1975) und Trömel-Plötz (1990) abgelehnt (vgl. Samel 2000: 35). Im Unterschied zu Defizithypothese wird in Neuen Defizitansätzen vor allem die soziale Situation der Frau als Ausgangspunkt für ihre defizitäre Sprache gesehen […]: Nicht weil die Frau so ist, wie sie ist, benutzt sie […] eine sogenannte Frauensprache, sondern weil die gesellschaftlichen Verhältnisse sie dazu zwingen, ihr Sprachverhalten darauf abzustimmen, dass sie trotz ihrer untergeordneten Stellung Gehör findet. (Samel 2000: 36)

Das weibliche Kommunikationsverhalten hat seine Ursache in der untergeordneten und machtlosen gesellschaftlichen Stellung von Frauen (vgl. Samel 2000: 36; Gottburgsen 2000: 24). Um die soziale Position der Frauen zu verbessern, kam die Forderung auf, Frauen sollen den männlichen Stil übernehmen (vgl. Lakoff 1975; Baur 2005: 58; Gottburgsen 2000: 24; Günthner/Kotthoff 1991: 22).

Günthner kritisiert an den Dominanz- bzw. Defizitansätzen, dass „Frauen (und Männer) […] in der Regel als homogene soziale Gruppe betrachtet und die zahlreichen Unterschiede (ethnische, soziale, kulturelle, generationsspezifische, etc.) vernachlässigt [werden]“ (Günthner 1997: 127-128).

4.2 Differenzkonzeption

Den Defizitansätzen folgt der Differenzansatz bzw. Zwei-Kulturen-Ansatz, in dem die Andersartigkeit des weiblichen Sprachverhaltens betont wird (vgl. Thielemann 2010: 24; Samel 2000: 37). Die Theorie der zwei Kulturen basiert auf Studien zur interethnischen Kommunikation von Gumperz (1982) und sieht Frauen und Männer als Angehörige unterschiedlicher Subkulturen mit spezifischen Kommunikationsstilen (vgl. Maltz/Borker 1991: 52; Günthner 1992a: 94, 1992b: 123; Samel 2000: 160). Die weibliche Sprache wird im Zwei-Kulturen-Ansatz nicht mehr negativ bewertet, sondern „im Gegenteil bewiesen die Zurückhaltung und die Höflichkeit im Sprechen von Frauen ihre Stärke“ (Samel 2000: 37).

[...]


1 http://www.ruscorpora.ru/search-spoken.html

2 Für den englischen Begriff Gender im Sinne von sozialem Geschlecht gibt es im Deutschen bislang keine Entsprechung (vgl. Bußmann/Hof 1995: VIII; Kroll 2002: 141; Kotthoff 2006: 2494). Der englische Terminus Gender bezog sich ursprünglich nur auf das grammatische Geschlecht der Substantive (vgl. ebd.).

3 Der Terminus „Frauensprache“ hat seinen Ursprung in Reiseberichten vom Dominikaner Breton und von Rochefort, die auf den karibischen Inseln im 17. Jahrhundert die Unterschiede in der Sprache der Männer und der Frauen beobachteten: die Männer benutzten verschiedene Ausdrücke, die die Frauen verstanden aber niemals gebraucht haben; andererseits verwendeten Männer keine Wörter und Redensarten von Frauen, um nicht lächerlich auszusehen (vgl. Jespersen 1975: 220; Günthner/Kotthoff 1991: 7, 8-9; Samel 2000: 23-24). Die Sprache der Männer wurde als die eigentliche „Sprache“ betrachtet, während die Variante der Frauen als abweichende „Frauensprache“ aufgefasst wurde (vgl. Günthner/Kotthoff 1991: 9). Der Begriff „Frauensprache“ wurde nach der Frauenbewegung aufgegriffen und auf die europäischen Sprachen übertragen (vgl. Samel 2000: 23).

Ende der Leseprobe aus 46 Seiten

Details

Titel
Sprache und Geschlecht. Geschlechtsspezifischer Sprachgebrauch am Beispiel des Russischen
Hochschule
Ludwig-Maximilians-Universität München  (Slavische Philologie)
Veranstaltung
Bachelorarbeit
Note
1,0
Autor
Jahr
2016
Seiten
46
Katalognummer
V982745
ISBN (eBook)
9783346338969
ISBN (Buch)
9783346338976
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Sprache und Geschlecht, Russisch, Genderlinguistik, weiblicher Sprachgebrauch, männlicher Sprachgebrauch, Sexus, Genus, Gender, Defizitkonzeption, Differenzkonzeption, Doing Gender
Arbeit zitieren
Kateryna Markov (Autor:in), 2016, Sprache und Geschlecht. Geschlechtsspezifischer Sprachgebrauch am Beispiel des Russischen, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/982745

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