Evidence based practice (EBP) im physiotherapeutischen Praxisalltag. Einfluss auf den Arbeits- und Denkprozess von Physiotherapeut*Innen


Ausarbeitung, 2020

73 Seiten, Note: 2,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung
1.1 Evidenz und Evidenzbasierte Praxis
1.2 Was ist Evidenzbasierte Praxis in der Physiotherapie?
1.3 Die physiotherapeutische Ausbildung in Deutschland
1.4 Aktueller Forschungsstand
1.5 Zielstellung dieser Arbeit

2 Methodik
2.1 Studiendesign
2.2 Rekrutierungsprozess
2.3 Stichprobenbeschreibung
2.3.1 Stichprobe der Fragebögen der Schüler
2.3.2 Stichprobe der Kursteilnehmer
2.4 Erstellung der Fragebögen
2.5 Erstellung des Curriculums des Kurses Evidenzbasierte Praxis in der Physiotherapie
2.6 Durchführung des Kurses Evidenzbasierte Praxis in der Physiotherapie
2.7 Datenanalyse

3 Ergebnisse
3.1 Ergebnisse Fragebögen der Onlinebefragung
3.2 Ergebnisse der Teilnehmer vor und nach dem Kurs

4 Diskussion
4.1 Kurzzusammenfassung der Ergebnisse
4.1.1 Darstellung der Ergebnisse der Onlinefragebögen
4.1.2 Darstellung der Ergebnisse der Kursteilnehmer
4.2 Vergleich der Ergebnisse mit der aktuellen Literatur
4.3 Der Stellenwert der evidenzbasierten Praxis in der physiotherapeutischen Ausbildung
4.4 Ansätze zur Implementierung der EbP in die Fachschulausbildung
4.5 Limitationen
4.6 Wissenschaftlicher Ausblick und weitere Forschungsperspektiven

5 Fazit

6 Literaturverzeichnis

7 Anhang

Abbildungsverzeichnis

Abbildung 1: Der Prozess der evidenzbasierten Praxis

Tabellenverzeichnis

Tabelle 1: Darstellung der Ergebnisse der Onlinebefragung

Tabelle 2: Darstellung der Ergebnisse der Kursteilnehmer

Abstract

Einleitung: In Deutschland ist die Ausbildung zum Physiotherapeuten bundeseinheitlich über das Masseur- und Physiotherapeutengesetz von 1994 (MPhG) im Bundesgesetzbuch (BGB) geregelt und findet an Berufsfachschulen statt. Durch stetig ansteigende Anforderungen an den Berufstand, scheint es notwendig, die physiotherapeutische Ausbildung an den internationalen Standard der Akademisierung anzupassen und die evidenzbasierte Praxis stärker in den Vordergrund der therapeutischen Ausbildung zu rücken.

Methodik: Zur Datengewinnung wurde ein Kurs zum Thema EbP mit 21 bereits ausgebildeten Therapeuten durchgeführt. Die Operationalisierung erfolgte mittels eines Fragebogens. Zudem wurde ein Onlinebefragung von Auszubildenden der Physiotherapie durchgeführt.

Ergebnisse: Die Kursteilnehmer erfuhren eine Kompetenzerweiterung hinsichtlich ihres Fachwissens bezüglich der EbP. Ebenso steigerte sich das Verständnis des EbP- Prozesses und die Motivation, die EbP im therapeutischen Alltag anzuwenden. Die Onlinebefragung ergab, dass die Auszubildenden wenige Berührungspunkte mit der Thematik EbP in ihrer Ausbildung hatten.

Diskussion: Die EbP scheint derzeit noch kein fester Bestandteil der physiotherapeutischen Grundausbildung zu sein. Es ergeben sich dennoch Möglichkeiten, Inhalte der EbP und den EbP- Prozess im Rahmen der physiotherapeutischen Fachschulausbildung zu integrieren. Schwierigkeiten ergeben sich u.a aus der strukturellen Begebenheit der Ausbildungs- und Prüfungs- verordnung.

Fazit: Es zeigte sich, dass trotz einiger Vorbehalte bzw. Unsicherheiten seitens der Teilnehmer, dass die EbP als ein wichtiger Bestandteil der physiotherapeutischen Arbeit anzusehen ist, aber das Erlernen des EbP-Prozesses in der Ausbildung nachhaltig integriert werden müsste.

Schlagworte: Evidence based practice, EbP-Prozess, Physiotherapie, Ausbildung, Akademisierung

Abstract

Introduction: In Germany, training as a physiotherapist is regulated nationwide by the Masseur- and Physiotherapist Act of 1994 (MPhG) in the Federal Code of Law (BGB) and takes place at vocational schools. Due to the constantly increasing demands on the profession, it seems to be necessary to adapt the physiotherapeutic training to the international standard of academisation and to put evidence-based practice (EbP) more in the foreground of therapeutic training.

Methods: To collect data, a course on EbP was conducted with 21 already trained therapists. The operationalisation was carried out by means of a questionnaire. In addition, an online survey of physiotherapy trainees was conducted.

Results: The course participants experienced an increase in competence regarding their expertise in EbP. Also the understanding of the EbP process and the motivation to apply EbP in everyday therapeutic practice increased. The online survey showed that the trainees had few points of contact with the topic of EbP in their training.

Discussion: EbP does not yet seem to be an integral part of basic physiotherapeutic training. Nevertheless, there are possibilities to integrate contents of EbP and the EbP process within the framework of the physiotherapeutic vocational school training. Difficulties arise, among others, from the structural occurrence of the training and examination regulations.

Conclusion: It turned out that despite some reservations or uncertainties on the part of the participants that EbP is to be regarded as an important part of physiotherapeutic work, the learning of the EbP process would have to be sustainably integrated in the training.

Keywords: Evidence based practice, physiotherapy, education, EbP

1 Einleitung

1.1 Evidenz und Evidenzbasierte Praxis

Um sich für oder gegen eine Therapiemaßnahme (z.B. Krankengymnastik bei Rückenschmerzen) entscheiden zu können, ist es notwendig sich ein umfangreiches und objektives Bild über mögliche Wirkungen, Risiken, Folgen, Erfolgsaussichten oder Kosten zu machen. Dies geschieht meist über das Auswerten von Aussagen der Forschung und ist somit das Grundelement der evidenzbasierten Medizin (evidence based medicine). Das Wort Evidenz kommt vom lateinischen evidentia, was so viel bedeutet wie unmittelbare und vollständige Einsichtigkeit, Deutlichkeit oder Gewissheit. Laut dem Duden sind weitere Übersetzungen möglich wie unumstößliche Tatsache, faktische Begebenheit oder empirisch erbrachter Nachweis der Wirksamkeit eines Präparats, einer Therapieform o.ä (vgl. Duden, 2019). Weiter unterteilen lässt sich der Evidenzbegriff in die interne und die externe Evidenz (vgl. Mangold, 2013, S. 38-40). Unter der internen Evidenz versteht man die klinische bzw. therapeutische Erfahrung eines Therapeuten. Da sich manche Studien wiedersprechen, nicht eindeutig genug sind, wichtige Mängel oder Lücken aufweisen, es keine medizinische Beweisführung gibt oder der zu behandelnde Patient aufgrund von bestehenden Merkmalen vom „Durchschnittspatienten“ abweicht und hier der Patient direkt berücksichtigt werden kann, ist die interne Evidenz trotz der Subjektivität des Therapeuten von Bedeutung. Die externe Evidenz beinhaltet (wissenschaftlich gewonnenes) Faktenwissen und somit auch objektive Daten, die in medizinischen Studien auffindbar sind. Die externe Evidenz gibt statistisch geltende Aussagen. Beide Arten der Evidenz sind nicht als Kontrahenten, sondern als ergänzend anzusehen. Ein Therapeut nutzt die Erkenntnisse aus der Wissenschaft, um seine Behandlungen zu modifizieren und zu überprüfen. Die Evidenz bildet nun die Grundlage der evidenzbasierten Medizin, die in weitere Teilbereiche untergliedert werden kann, wie z.B im Bereich der evidence based practice. Statt des Begriffs evidence based practice finden sich in der Literatur weitere Begrifflichkeiten wie evidence based rehabilitation (Liedtke u. Seichert, 2000), evidence based health promotion (Perkins et al., 1999) oder evidence based decision making (Forrest u. Miller, 2001). Der Begriff evidence based wird heute der Medizin oder der Epidemiologie zugeordnet. An der McMaster Universität in Kanada wurde im Rahmen des Medizinstudiums das Fach Evidence based medicine (EbM) von Gordeon Guyatt eingeführt, um die Studenten dort zur kritischen Auseinandersetzung mit medizinischen Studien anzuregen, woraufhin über die EbM in einer Artikelserie im Journal of the American Medical Association berichtet wurde (Guyatt, Cairns, Churchil et al, 1992). Hier wurde der Paradigmenwechsel von der erfahrungsbasierten zur evidenzbasierten Praxis eingeleitet. Burkhard schreibt in ihrem Handbuch Evidenzbasierte Pflege (2018), dass obwohl das Prinzip der evidenzbasierten Praxis knapp 30 Jahre alt ist, dieses für unsere heutige Zeit nicht mehr wegzudenken sei. Vor allem die technische Entwicklung hänge eng damit zusammen. Forschungsergebnisse seien heute leicht über Datenbanken abrufbar und zunehmend nachvollziehbarer, sowie transparenter (vgl. Burckhardt, Evidenzbasierte Pflege, 2018, S.2-13). Der Begriff Evidenz wird in verschiedenem Kontext verwendet und oft intuitiv, oft aber unvollständiger weise als Beweis anstatt mit Wissenschaft verbunden (vgl. Mangold, 2013, S.2). Sackett schrieb 1996 im British Medical Journal seine Definition der evidenzbasierten Medizin. Sie sei „der gewissenhafte, ausdrückliche und angemessene Gebrauch der gegenwärtig besten vorhandenen Daten aus der Gesundheitsforschung, um bei Behandlung und Versorgung von konkreten Patienten Entscheidungen zu treffen. EbM beinhaltet die Integration individueller klinischer Expertise mit der bestmöglichen Evidenz aus klinischer Forschung und der Präferenz des Patienten“ (Sackett, EBM- what it is and what it isn´t, 1996). Themen der evidenzbasierten Medizin bilden unter anderem:

- die Überprüfung von diagnostischen Testverfahren auf deren Güte
- die Zuverlässigkeit von Prognosen
- die Wirksamkeit von präventiven, medizinischen und therapeutischen Maßnahmen
- das Einschätzen und Untersuchen von möglichen Nebenwirkungen von medizinischen Maßnahmen
- verschiedene ökonomische Fragestellungen. (vgl. Mangold, 2013, 36-37)

Die evidenzbasierte Praxis entspringt aus der evidenzbasierten Medizin (Mangold, 2013, S.37). Im Grunde geht es bei der evidenzbasierten Praxis darum, evidenzbasierte Vergleiche zu ziehen, diese zu bewerten und die am effektivsten beurteile Maßnahme in der Praxis, den anderen Optionen voranzustellen. Das entspricht auch dem Grundgedanken, der Methodik und den Zielen der evidenzbasierten Praxis. Auf den Bereich der Physio- und Ergotherapie lassen sich diese problemlos übertragen, allerdings ergeben sich für Mangold (2013, 37-39) Unterschiede gerade für die Heilmittelerbringer in folgenden Punkten:

- Fragestellungen: Therapeuten haben entsprechende therapeutische Fragestellungen, Ärzte medizinische Fragestellungen. Es bestehen inhaltliche Unterschiede zwischen der evidenzbasierten Praxis und der evidenzbasierten Medizin.
- Verbreitung der Methode: Der Ansatz der evidenzbasierten Medizin scheint vielen Therapeuten nicht bewusst bzw. ein Begriff zu sein. Die Kenntnisse seien weniger und ungenügend verbreitet.
- Publikationen: Der Bereich der Forschung ist im therapeutischen Bereich im Vergleich zur Medizin, wenn auch stetig wachsend, kleiner. 1960 gab es im therapeutischen Bereich nur 15 randomisiert kontrollierte Studien, 1970 waren es 86 und 1980 bereits 441. 2007 stieg die Zahl auf fast 11.500 Studien an. Zum heutigen Stand 1.1.2020 sind es im Bereich der Ergo- und Physiotherapie über 33.000 einzelne Studien (Pubmed, Stand Januar 2020). Die Qualität der Publikationen wird in manchen Datenbanken (u.a PEDro, OT seeker) eingeschätzt, in vielen Fällen müssen die Therapeuten aber selbst bewerten und einschätzen können, ob es sich bei den vorliegenden Studien um eine relevante, anwendbare und hochwertige Evidenz handelt.

Um die vorhandene Evidenz nach der Aussagekraft bzw. der Wertigkeit beurteilen zu können, hat sich das System der Evidenzstufen etabliert. Man unterscheidet nach der Agency for Health Care Policy and Research (1992) folgende Evidenzstufen (Grading):

Ia - mindestens ein systematisches Review auf der Basis methodisch hochwertiger kontrollierter, randomisierter Studien (RCTs)
Ib - mindestens ein größerer, methodisch hochwertiger RCT
IIa - mindestens eine hochwertige Studie ohne Randomisierung
IIb - mindestens eine hochwertige Studie eines anderen Typs experimenteller Studien
III - mehr als eine methodisch hochwertige nichtexperimentelle Studie
IV - Meinungen und Überzeugungen von Fachexperten (klinische Erfahrung); Expertenkommissionen; beschreibende Studie

Auch gesetzlich gibt es dazu Regelungen. Im Sozialgesetzbuch V (SGB V) ist die evidenzbasierte Praxis unter anderen in folgenden Paragrafen erwähnt:

§35, abs. 1: Bewertung des Nutzens von Arzneimitteln mit neuen Wirkstoffen

„Der Gemeinsame Bundesausschuss bewertet den Nutzen von erstattungsfähigen Arzneimitteln mit neuen Wirkstoffen. Hierzu gehört insbesondere die Bewertung des Zusatznutzens gegenüber der zweckmäßigen Vergleichstherapie, des Ausmaßes des Zusatznutzens und seiner therapeutischen Bedeutung. Die Nutzenbewertung erfolgt auf Grund von Nachweisen des pharmazeutischen Unternehmers, die er einschließlich aller von ihm durchgeführten oder in Auftrag gegebenen klinischen Prüfungen spätestens zum Zeitpunkt des erstmaligen Inverkehrbringens sowie vier Wochen nach Zulassung neuer Anwendungsgebiete des Arzneimittels an den Gemeinsamen Bundesausschuss elektronisch zu übermitteln hat… Grundsätze für die Bestimmung der zweckmäßigen Vergleichstherapie und des Zusatznutzens, und dabei auch die Fälle, in denen zusätzliche Nachweise erforderlich sind, und die Voraussetzungen, unter denen Studien bestimmter Evidenzstufen zu verlangen sind; Grundlage sind die internationalen Standards der evidenzbasierten Medizin und der Gesundheitsökonomie,…“.

§137f, abs. 2: Strukturierte Behandlungsprogramme bei chronischen Krankheiten

„Der Gemeinsame Bundesausschuss nach § 91 erlässt Richtlinien zu den Anforderungen an die Ausgestaltung von Behandlungsprogrammen nach Absatz 1. Zu regeln sind insbesondere Anforderungen an die Behandlung nach dem aktuellen Stand der medizinischen Wissenschaft unter Berücksichtigung von evidenzbasierten Leitlinien oder nach der jeweils besten, verfügbaren Evidenz sowie unter Berücksichtigung des jeweiligen Versorgungssektors“.

139 a, abs. 1-4: IQWIG (Institut für Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen)

„Beteiligung an internationalen Projekten zur Zusammenarbeit und Weiterentwicklung im Bereich der evidenzbasierten Medizin Bewertungen evidenzbasierter Leitlinien für die epidemiologisch wichtigsten Krankheiten. Das Institut hat zu gewährleisten, dass die Bewertung des medizinischen Nutzens nach den international anerkannten Standards der evidenzbasierten Medizin und die ökonomische Bewertung nach den hierfür maßgeblichen international anerkannten Standards, insbesondere der Gesundheitsökonomie erfolgt“.

1.2 Was ist Evidenzbasierte Praxis in der Physiotherapie?

Albert Einstein hatte in seiner Zeit an der ETH Zürich eine Prüfung abgenommen. Nach der Prüfung kamen einige Studenten auf ihn zu und meinten „Die Aufgaben kannten wir schon. Die vorherigen Semester hatten diese bereits in deren Prüfungen und wir haben diese zur Vorbereitung herangezogen“. Darauf antwortete Einstein: „Richtig, die Fragen sind dieselben geblieben, aber die Antworten haben sich verändert!“ (Aus Mangold, 2013, Quelle unbekannt)

Diese Anekdote zeigt eine wichtige Begründung für die evidenzbasierte Praxis auf. Unser heutiges Wissen, kann morgen schon wieder überholt sein. Wissen ist keine statische Größe, sondern entwickelt sich kontinuierlich, dynamisch weiter. Auch wenn Studien die Überlegenheit einer Intervention aufzeigen, könnten in späterer Forschung diese Ergebnisse anders ausfallen, da Experten im Laufe der Zeit immer bessere bzw. genauere Testmöglichkeiten, Behandlungsansätze, Hilfsmittel etc. entwickeln (vgl. Mangold, 2013, S.40). Im Prozess der evidenzbasierten Praxis verlässt sich der Therapeut nicht nur auf die externe, sondern auch auf die interne Evidenz. Sackett et al. (1997) und auch spätere Experten wie Behrens und Langer (2010) akzentuierten, dass es bei der evidenzbasierten Praxis nicht nur um eine strenge Umsetzung von externer Evidenz geht. Es solle systematisch zusammengefasstes Forschungswissen (z.B mit Systematischen Reviews oder Leitlinien) mit interner Evidenz und den Wünschen, Erfahrungen und Vorstellungen des Patienten verbunden werden (vgl. Sigma Theta Tau international Evidence Based Practice Task, 2004). Die interne Evidenz kann aber nicht durch die externe Evidenz ersetzt werden (Behrens und Langer 2010, S.33). Die Professionalisierung und damit zusammenhängende Akademisierung der nichtärztlichen Gesundheitsberufe haben zu einem Paradigmenwechsel von der erfahrungsbasierten zur evidenzbasierten

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 1: Der Prozess der evidenzbasierten Praxis (eigene Darstellung)

Praxis geführt (Pagel et al, 2010). Die therapeutischen Ansätze basierten lange Zeit vor allem auf theoretischen Überlegungen, Beobachtungen und auf dem Prinzip Versuch und Irrtum (Mangold, 2013, S.3). Im Evidenzprozess geht es um das Erkennen von klinischen Problemen, sowie das Beurteilen und Nutzen von wissenschaftlicher Evidenz. Dieser Prozess umfasst folgende fünf Schritte, die im Folgenden aus der Sicht mit Beispielen, angepasst an die Physiotherapie aufgezeigt werden (vgl. Page et al., 2010):

1. Die klinische Fragestellung: der Physiotherapeut erkennt eine für den Patienten bedeutende Frage und formuliert dieser aus. Beispiele: Verbessert Manuelle Therapie die Gelenkbeweglichkeit im Schultergelenk? Erfasst Test A das Sturzrisiko eines geriatrischen Patienten genauer als Test B? Senkt die kontinuierliche Einnahme von ASS das Risiko einen Herzinfarkt zu erleiden? Zur Formulierung der klinischen Frage haben sich bestimmt Schemata erwiesen. Unter anderem das PICO(s) Schema (vgl. AWMF, Leitlinienregelwerk, 2019). Dabei steht jeder Buchstabe für einen Teil der Fragestellung:

P= Population/Patient. Um welchen Patientenstamm/ um welche Population handelt es sich? (z.B. Schlaganfall-Patienten, Asthmatiker, Kinder, schwangere Frauen, Demenzpatient u.a)

I= Intervention. Welches Therapieverfahren/ welcher Test /… wird untersucht? (z.B Manuelle Therapie, Lagerungstherapie, Ergotherapie, Bewegung, Musik, Medikament XY u.a)

C= Comparisson; dt. Vergleich. Wer ist die Kontrollgruppe? Mit welcher Maßnahme wird die Intervention verglichen? (z.B. Manuelle Therapie, Lagerungstherapie, Ultraschall, Ernährung, Medikament XY)

O= Outcome; dt. Ergebnis. Welcher Endpunkt soll untersucht werden? (z.B Schmerzempfinden, Lebensqualität, Sturzrisiko, Mortalitätsrate u.a)

2. Literaturrecherche: Dabei wird passend der Fragestellung Fachliteratur und Evidenz in medizinischen Datenbanken, Fachjournalen und/oder Fachbüchern gesucht. Hier bietet sich aus Gründen der Vollständigkeit und Aktualität die Recherche in den medizinischen Datenbanken wie Pubmed, Cochrane oder PEDro an. Ausgewählt werden Primärstudien, systematische Reviews oder Leitlinien. Da die Forschung in der Regel in der englischen Sprache veröffentlicht wird, ist es eine Grundvoraussetzung die englische Sprache auf gutem Niveau zu beherrschen.
3. Literaturbewertung: Die gefundene Literatur wird hinsichtlich ihrer methodischen Qualität kritisch beurteilt. Hier sind verschiedene Aspekte zu beachten: Um welches Studiendesign handelt es sich? Wie hoch ist das Risk of bias? Aus welchem Jahr der Veröffentlichung stammt die Studie? Gibt es Interessenkonflikte der Studienverantwortlichen? Ist die Studie auf meinen Patientenstamm/mein Land übertragbar? Zur Bewertung eignen sich je nach Studiendesign verschiedene Bewertungsleitfäden wie STROBE, PRISMA, AGREE oder CONSORT, die gesammelt im Equator Network zu finden sind. Es sollten nur die qualitativ und für die Fragestellung passenden Studien ausgewählt werden.
4. Implementierung in die Praxis: Die Erkenntnisse aus der Literaturrecherche werden in die therapeutische Praxis umgesetzt. Das können u.a bestimmte Therapiemaßnahmen, das Einführen einer Testbatterie oder Veränderung des Therapiesettings (z.B zeitintensivere Therapiesitzung) sein. Hier sollte der Therapeut die Ziele und Möglichkeiten des Patienten, die Umsetzbarkeit und seine eigenen Möglichkeiten genau und ehrlich im Blick haben.
5. Evaluation: Um zu überprüfen ob die Maßnahme Wirkung gezeigt hat, müssen bestimmte Assessments und Testverfahren Vergleiche durchgeführt werden. Es sind folgend mehrere Ergebnisse möglich. Wenn eine erkennbare Verbesserung eingetreten ist, kann die Maßnahme weiter fortgeführt und in regelmäßigen Abständen evaluiert werden. Wenn die Maßnahme keine Verbesserung gezeigt hat, beginnt der Prozess von neuem bei Schritt 1, der Erstellung, Änderung oder Präzisierung der klinischen Fragestellung.

1.3 Die physiotherapeutische Ausbildung in Deutschland

In Deutschland gibt es verschiedene Ausbildungswege Physiotherapeut zu werden. Allen gemein ist die staatliche Abschlussprüfung, die der Person nach erfolgreichem Bestehen gestattet, die Berufsbezeichnung Physiotherapeut zu führen (Bundesministerium für Justiz und Verbraucherschutz, 1994b). Wie auch die Berufe der Ergotherapie und Logopädie, ist die Ausbildung zum Physiotherapeuten nicht über das Berufsbildungsgesetz geregelt (Klemme, 2011, S.2), sondern wird auf Bundesebene (inhaltlich wie strukturell) über die Ausbildungs- und Prüfungsverordnung für Physiotherapeuten (PhysTh-APrV) und das Gesetz über die Berufe in der Physiotherapie, Masseur- und Physiotherapeutengesetz (MPhG) geregelt. Auf Landesebene gibt es weitere Gesetze, wie z.B. das Schulgesetz (SchulG) des Landes Berlin, im Teil VII mit den Gesetzen für Schulen der freien Trägerschaft, oder die Ausbildungs- und Prüfungsverordnung für die Berufsfachschulen des Landes Berlin (Berufsfachschulverordnung -APO – BFS) regeln die therapeutische Ausbildung auf organisatorischer Ebene, wie Prüfungsabläufe oder zeitliche Abläufe der Ausbildung. Eine genaue Definition und Vorschrift der Inhalte der einzelnen zu unterrichtenden Fächer gibt es nicht, vielmehr werden Oberbegriffe und weitfassende Begrifflichkeiten genannt. Die Berufsausbildung zum Physiotherapeuten erfolgt in Deutschland über eine 3-jährige Ausbildung und wird an staatlichen oder privaten Schulen absolviert. Im Jahr 2009 beschloss der Bundestag das Gesetz zur Einführung einer Modellklausel in die Berufsgesetze der Hebammen, Logopäden, Physiotherapeuten und Ergotherapeuten (Bundesgesetzblatt, 2009, S. 3158) welches einen ersten Schritt Richtung Akademisierung bildete und somit die Möglichkeit bot, die physiotherapeutische Ausbildung an die Hochschulen zu binden um somit zusätzlich zum Staatsexamen einen Bachelorabschluss zu erwerben. Dieses wurde nach dem Auslaufen am 31.12.2017 um weitere vier Jahre verlängert- Ende 2021 enden die Modellstudiengänge (Kühne, Physio Deutschland im Gespräch, 2019). Das Ziel der physiotherapeutischen Ausbildung ist es, die „Ausbildung entsprechend der Aufgabenstellung des Berufs insbesondere dazu befähigen, durch Anwenden geeigneter Verfahren der physikalischen Therapie in Prävention, kurativer Medizin, Rehabilitation und im Kurwesen Hilfen zur Heilung und Linderung, zur Wiederherstellung oder Verbesserung der Arbeits- und Erwerbsfähigkeit, zu gesundheitsförderndem Verhalten und zum Kurerfolg zu geben“ (Gesetz über die Berufe in der Physiotherapie MPhG, 1994, §3). In der physiotherapeutischen Ausbildung sind mindestens 2900 Stunden theoretischer und praktischer Unterricht, sowie 1600 Stunden praktische Ausbildung zu absolvieren (PhysTH-APrV, Abschnitt 1, §1 1994). Zum theoretischen Unterricht zählen u.a die Fächer Anatomie/Physiologie, Spezielle Krankheitslehre, Biomechanik oder Berufskunde. Zum praktischen Unterricht gehören die Fächer Krankengymnastik, Manuelle Therapie, Bewegungstherapie und die physiotherapeutischen Fächer der einzelnen Fachrichtungen, wie z.B. Physiotherapie in der Neurologie. Der Unterricht findet in der Regel in der Schule statt. Die praktische Ausbildung findet am Patienten u.a in physiotherapeutischen Praxen, in Rehabilitationseinrichtungen, in Pflegeheimen oder in Kliniken unter Anleitung des Lehrpersonals statt (Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz, 1994a). Das Lehrpersonal, meist bestehend aus Physiotherapeuten der jeweiligen Einrichtung, kann weiter als Praxisanleiter, Mentor o.ä bezeichnet werden. Aus den Ausbildungszielen, der Lehrerqualifikation und möglichen Maßnahmen der Qualitätsverbesserung (wie dem Interessenverband zur Sicherung der Physiotherapieausbildung e.V, ISQ) innerhalb der Rahmenbedingungen ergibt sich ein qualitativer und inhaltlicher Rahmen der physiotherapeutischen Ausbildung (Dittmar, 2019, S.5). Manche Bundesländer haben deshalb Rahmenlehrpläne für die Berufsfachschulen der Physiotherapie entwickelt, unter anderem im Jahr 2005 das Sächsische Staatsinstitut für Bildung und Schulentwicklung, im Jahr 2007 das Kultusministerium Niedersachsen oder im Jahre 2005 des Ministeriums für Bildung, Wissenschaft und Kultur und Sozialministerium Mecklenburg-Vorpommern. In anderen Bundesländern, darunter das Land Berlin, gibt es keinen Rahmenlehrplan für die physiotherapeutische Ausbildung. Hier orientieren sich die einzelnen Schulen an schulinternen Curricula oder dem Curriculum zur Ausbildung in der Physiotherapie des Deutschen Verbandes für Physiotherapie (ZVK e.V). Dies hat zur Folge, dass in manchen Schulen nach Fächern, in anderen wiederum in Lernfeldern unterrichtet wird. Die pädagogische Ausführung der Lehre ist demnach frei, da die Abschlussprüfung in vier Fächergruppen und praktischen Prüfungen in Behandlungstechniken, am Patienten, sowie in mündlichen Prüfungen stattfindet (PhysTh-APrVo, 1994, Abschnitt 1, §2). Folgend soll kurz auf die Unterscheidung zwischen Fächern und Lernfeldern eingegangen werden.

Fächerorientierter Unterricht: Schulischer Unterricht findet meist in Form von Schulfächern statt. Sowohl der Inhalt der Fächer als auch die Zuständigkeit einzelner Lehrkräfte auf die Fächer, Schulbücher, Stundenpläne, Fachräume sind nach Fächern geordnet (vgl. Klemme, Handbuch der Berufsbildung, 2006, 2.Aflg., S.260). Folgend sind die Charakteristika der Fächerorientierung nach Ute Clement (2003) aufgeführt: Die Wahl der Inhalte eines Faches orientiert sich nach den Wissenselementen die Bestandteil eines Schulfaches sind, die für eine Berufsgruppe als relevant zählen und die dem Schwierigkeitsgrad des Klientelen der Lernenden entspricht. Des Weiteren folgt die Unterrichtsorganisation (wie Stundenplanung) und die Notengebung dem Fächerprinzip. Die Qualifikation der Lehrkräfte ist nach den Fachdisziplinen ausgerichtet. Die Einteilung und Vermittlung der Inhalte entspricht der Anordnung in Fächern (Clement, Fächersystematik oder Situationsorientierung als curriculare Prinzipien für die Berufliche Bildung, 2003, S. 1f) Laut Clement (2003) bilde fächerorientierter Unterricht aufgrund der Begrenzung einzelner Fächer und Fachgebiete die Realität nicht vollständig ab. Weiter fördere diese Strukturierung schematisches Denken. Gründe für das Festhalten an fächerorientiertem Unterricht in der beruflichen Schule findet Blättner bereits im Jahr 1947. Die berufliche Schule musste um ihre Position im Bildungswesen kämpfen und hatte daher eine Fächerorientierung nach schulischem Vorbild angestrebt. Des Weiteren waren die ersten Berufsschullehrer ehemalige Volkschullehrer, die sich vom Selbstverständnis an Fächern orientiert haben. So lässt sich hier eine traditionell-historische Bedeutung erkennen. Zuletzt fehle die pädagogische Theorie, weshalb es nicht möglich war von Unterrichtsfächern abzukommen (vgl. Blättner, Krechberger, Menschenbildung und Beruf, 1947, S.47).

Lernfeldorientierter Unterricht: Ein Lernfeld ist eine durch Handlungskompetenz mit inhaltlichen Konkretisierungen und Zeitrichtwerte beschriebene Einheiten (vgl. KMK, Handreichung Glossar, 2018, S.32). Wenn ein Rahmenlehrplan 1996 oder danach von der Kultusministerkonferenz (KMK) beschlossen wurde, ist dieser nach Lernfeldern strukturiert. Die einzelnen Bundesländer gingen allerdings bei der Umsetzung der Rahmenlehrpläne der KMK unterschiedlich vor, indem sie nur Teile daraus übernahmen, Zielformulierungen ergänzten oder diesen ganz übernahmen als Landeslehrplan (Lipsmeier, Pätzold, Buisan, Lernfeldorientierung in Theorie und Praxis, 2007 Band 15, S.139). Dabei wurden und werden je nach Rahmenlehrplan bzw. Ausbildungsgang zwischen 10 und 20 Lernfelder beschrieben, die sich aus der Grundlage von Handlungsfeldern bestimmter beruflicher Aufgaben und Problemstellungen zusammenfassen lassen und über den Ausbildungsverlauf weg didaktisch so strukturiert werden, dass eine spiralcurriculare Erweiterung der Kompetenz erfolgen kann (vgl. KMK, Handreichung, 2018, S. 25). Grund der Einführung des Lernfeldkonzepts war die „von der Wirtschaft angemahnte stärkere Verzahnung von Theorie und Praxis“ (KMK Handreichung, 2018, S. 11). Anders als beim fächerorientierten Unterricht kehrt die Lernfeldorientierung die Perspektive um: es werden berufliche Aufgaben- und Problemstellungen herangezogen, die aus dem „beruflichen Handlungsfeld entwickelt und didaktisch aufbereitet werden“, um eine Mehrdimensionalität (u.a ökonomisch, rechtlich, kommunikativ, sozial, fachlich, ethisch) herzustellen (KMK, Handreichung, 2018, S.11). Dies soll die Lernenden laut der KMK Handreichung (2018) für ein „erfolgreiches, lebenslanges Lernen und Lernen in der digitalen Welt“ rüsten. Dabei obliegt die Lehre der Lernfelder in Lernsituationen handlungsorientierter Art den Lehrenden der Berufs-(fach)schule. Handlungen greifen die Erfahrungen der Lernenden auf und helfen dabei, die Auswirkungen ihres Handelns zu reflektieren, sowie soziale Prozesse wie Konfliktbewältigung oder Interessenerklärung zu berücksichtigen (vgl. KMK Handreichung, 2018, S. 17). Zusammengefasst nach Linke und Rohland (2000) liegen die Stärken des lernfeldorientierten Unterrichts darin, dass Lernfeldlehrpläne die Möglichkeit bieten, betriebliches Handeln in den Mittelpunkt des Unterrichts zu stellen und eine Vielzahl an Kompetenzen, die vorher durch Fächer getrennt wurden miteinander zu integrieren. Handlungen und Umgang mit Problemen interdisziplinärer Natur seien Voraussetzung dafür komplexen Handlungsanforderungen unserer Zeit begegnen zu können. Bezüge zum schulischen Inhalt und lebensweltliche Erfahrungen können so besser hergestellt werden (vgl. Clement, 2006, S. 260). Schwierigkeiten gebe es vor allem dabei, dass die Tätigkeit auf der Lehrplanebene auf den Lehrer verlagert wird, der dies zeitlich und fachlich kaum bedienen könne und mit den höheren Anforderungen pädagogisch und persönlich umgehen müsse. Die Schule stehe ebenso vor größeren strukturellen und organisatorischen Herausforderungen als beim fächerorientierten Unterricht. Zudem stehen offene Lernfeldlehrpläne einer zentralen Prüfung gegenüber, dessen Prüfungsschwerpunkte vielmehr als „heimliche Lehrpläne“ zählen (vgl. Linke, Rohland, Lernfeldorientierer Ansatz in der Berufsausbildung, 2000, S. 250). Hansis formuliert die Kritik weiterhin wie folgt: "Handlungs- und Fachsystematik stehen in einem komplementären Verhältnis. Das gilt für die curricularen Ebenen ebenso wie für die unterrichtliche Ebene. Lernfeldstrukturierte Lehrpläne kommunizieren sich nicht ausreichend selbst, die umfängliche curriculare Ausgestaltung vor Ort benötigt ebenso wie die unterrichtliche Umsetzung Angaben über die handlungs- wie über die fachsystematischen Bezüge in den Rahmenlehrplänen. Der Rückgriff auch auf Fachstrukturen ist sowohl inhaltlich didaktisch als auch unterrichtsorganisatorisch geboten. Das Konzept wird dadurch nicht gefährdet, eher gefördert." (Hansis, Lernfeldorientierung in Kaufmännisch-verwaltenden Berufen, 2000, S. 123).

Für die Qualitätssicherung der physiotherapeutischen Ausbildung gibt es das externe Qualitätsmanagement des „Interessenverbandes zur Sicherung der Qualität der Physiotherapieausbildung e.V“. (ISQ, 2019). Eine Grundlage hierfür bildet eine Checkliste, in der Qualitätskriterien definiert sind. Dazu zählen unter anderem die Ausbildung der Lehrkräfte, die Raumverteilung und Nutzung, das Vorhandensein und benutzen der Bibliothek, Internetzugänge, Verfügbarkeit von Mensen, Dokumentationen von Lern- und Evaluationsergebnissen, sowie weitere, die sich an der Zahl auf 65 Qualitätskriterien zählen lassen (vgl. ISQ Checkliste, 2017, S.1-65). Auch im ISQ ist es unerheblich, ob in der Fächer- oder Lernfeldstruktur unterrichtet wird, sofern kein ministerieller Lehrplan (z.B in Bayern) vorhanden ist. Auch bei der Qualifikation der Lehrkräfte (einem Wichtigen Determinanten zur Sicherstellung der Lehre der EbP) ist ein großer Spielraum vorhanden. Es werden für das Unterrichten in praktischen Fächern mindestens 3 Jahre Berufserfahrung genannt, therapeutische Fortbildungen (min. 30 Unterrichtseinheiten in 3 Jahren), pädagogische Fortbildungen (min. 15 Unterrichtseinheiten mit pädagogischer Ausrichtung), 30 % der festangestellten Lehrkräfte müssen einen akademischen Abschluss besitzen oder sich in pädagogischer Ausbildung befinden (vgl. ISQ Checkliste, 2017, S. 4-9)Kein explizites Qualitätskriterium nach der ISQ scheint der Stellenwert der evidenzbasierten Praxis zu haben. Es wird die Dokumentation der Lernenden nach ICF, sowie das Anwenden des Clinical Reasoning empfohlen (ISQ Checkliste, 2017, S. 15), sowie die „Nutzung englischsprachiger Fachquellen bzw. Lernressourcen“ oder das „Datenbanken (Pedro, Pubmed) oder andere englischsprachige Internetressourcen“ verwendet werden (ISQ, Checkliste, S.20). Da die Berufsgesetze und die Ausbildungs- und Prüfungsverordnung der Physiotherapie(ausbildung) bereits seit 1994 bestehen, die Strukturvorgabe für die Rahmenlehrpläne der Kultusministerkonferenz aber erst seit 1995 besteht, sind hier keine Lernfelder vorgesehen (vgl. Linke und Rohland, 2000, S. 249). Der Ruf nach einer Novellierung und Professionalisierung der physiotherapeutischen Ausbildung, aufgrund der Kosten- und Qualitätssicherung, besteht seit Jahren (vgl. Jörger, Physiotherapie: Ausbildung ändern! Deutsches Ärzteblatt, 2002). Ebenso Vertreter von der Seite der Physiotherapie, wie der Deutsche Verband für Physiotherapie (ZVK e.V), fordern eine kontinuierliche Weiterentwicklung der Physiotherapie (vgl. Leitbild Physio Deutschland). Gerade aber mit der Forderung nach dem Direktzugang der Physiotherapie, also der Möglichkeit des direkten Weges des Patienten zum Physiotherapeuten ohne vorherigen Arztkontakt, scheint es absolut notwendig, dass Physiotherapeuten die Methodik der Evidenzbasierten Praxis beherrschen und Anwenden.

Die Fort- und Weiterbildungsindustrie der Heilmittelerbringer ist sehr umfassend. Bereits nach Abschluss der physiotherapeutischen Ausbildung beginnen die ersten Berufseinsteiger die ersten weiteren Qualifikationen. Unter einer beruflichen Fortbildung versteht man eine Maßnahme, die eigenen beruflichen Kenntnisse und Fertigkeiten im Berufsfeld zu aktualisieren und zu erweitern, um seine Qualifikation der Entwicklung anzupassen (Anpassungsfortbildung) oder beruflich Aufzusteigen (Aufstiegsfortbildung) (vgl. Gabler, Wirtschaftslexikon, 2019). Nach Beendigung bekommt ein Teilnehmer meist eine Teilnahmebestätigung. Eine Weiterbildung muss nicht zwingend in direktem Bezug zum ausgeführten Beruf stehen, sondern ist in erster Linie dafür da, das eigene Qualifikationsprofil zu erweitern- ein Teilnehmer bekommt nach (erfolgreichem) Beenden der Maßnahme meist ein Zertifikat (vgl. Gabler, Wirtschaftlexikon, 2019). Beim Betrachten der Fort- und Weiterbildungsbildungskataloge diverser Einrichtungen und Anbieter sieht man fachspezifische Weiterbildungen wie Manuelle Therapie (MT), Manuelle Lymphdrainage (MLD), Propriozeptive Neuromuskuläre Fazilitation (PNF), Sportphysiotherapie, Bobath Therapie oder übergreifende Angebote wie Praxismanagement oder Abrechnungskurse (vgl. TOP Physio, Katalog 2019). Gerade die MT, MLD oder PNF stellen über den Heilmittelkatalog (Stand 2019) als Zertifikatskurse eine Möglichkeit der Abrechnung über die gesetzliche Krankenkasse dar und sind daher bei Physiotherapeuten beliebte Kurse, die auch in der PhysTH-APrVP (1994) stehen und somit in meist geringerem Stundenumfang bereits in der Ausbildung (ohne Möglichkeit der Abrechenbarkeit mit den gesetzlichen Krankenkassen) gelehrt werden. Zudem stehen weitere Kurse wie Tai-Chi, Faszienyoga, Tierosteopathie, Dry Needling, Schlaftherapeut, Hand-reflexzonenmassage, Knorpeltherapie oder Moxatherapie auf dem Plan (vgl. TOP Physio, Katalog 2019). Hier zeigt sich, dass es eine Vielzahl an verschiedenen Kursen gibt, bei denen die Wirkweise und Wirtschaftlichkeit fraglich ist. Ein Physiotherapeut, der die evidenzbasierte Praxis beherrscht, könnte hier mit kritischem Blick einen wesentlichen Beitrag zur Überprüfung von Therapien, nicht zuletzt seiner eigenen Therapie leisten.

1.4 Aktueller Forschungsstand

Die Forschung im Bereich der evidenzbasierten Therapie in der Physiotherapie ist übersichtlich. Ein Schwerpunkt ist der praktische Sektor. Schulze beschäftigte sich 2010 in einer Studie für ihre Masterarbeit Experience of German Physiotherapists with Evidence Based Practice mit den Erfahrungen, Vorteilen und Hindernissen der evidenzbasierten Praxis von deutschen Physiotherapeuten (Schulze, 2010). Im Jahre 2014 erstellten Scurloc-Evans, Upton und Upton das systematische Review Evidence-Based Practice in physiotherapy: a systematic review of barriers, enablers and interventions in dem sie Forschungsergebnisse über die Barrieren, Förderfaktoren und Interventionen zusammengefasst haben um Methoden zur Verbesserung der Akzeptanz und Umsetzung der EbP aufzuzeigen (Scurloc-Evans, Upton und Upton, 2014). Ein weiterer Forschungsbereich ist die Frage, was Wissenschaft in der Physiotherapie bedeutet, auf welchen Ebenen diese stattfindet und wie diese implementiert werden kann. So schrieben Richter, Höppner und Schäfer 2019 in ihrem Artikel Was ist Physiotherapiewissenschaft? What is physiotherapy research? (Richter, Höppner, Schäfer, 2019). Über die Sinnhaftigkeit und den Bedarf an evidenzbasierter Praxis in den therapeutischen Berufen sind einige Studien durchgeführt worden (Klemme, Geuter, & K.Willimczik, 2007). In diesem Zusammenhang untersuchten Bruderer-Hofstetter, Bechter, Schämann, Tal und Nidermann im Jahr 2017 in einer Absolventennachbefragung, wie gut die Umsetzbarkeit der vermittelten Kompetenzen im physiotherapeutischen Masterstudium in der Praxis ist (Bruderer-Hofstetter, Bechter, Schämann, Tal und Nidermann, 2017). Einige Studien bestätigen den Trend der Physiotherapie, sich vom „Trial und Error“-Prinzip, hin zu einer evidenzbasierten Praxis zu entwickeln (Schulze, 2010). Um eine Argumentationsgrundlage und Rechtfertigung bestimmter therapeutischer Maßnahmen gegenüber den Patienten, den Angehörigen und Verantwortlichen, weiteren Angehörigen des Gesundheitswesens oder den Krankenkassen zu haben, stützt sich ein großer Zweig der therapiewissenschaftlichen Forschung auf die Analyse der Wirkungen bestimmter Interventionen (vgl. Page, Reithe, Luomajoki, Schämann, und Kohl, 2010, S.164). Scherfer schrieb, die evidenzbasierte Praxis sei kein Teil der momentanen physiotherapeutischen Ausbildung (Scherfer, 2011, S.7). Das eine dreijährige, fachschulische Ausbildung meist unzureichend Bezug auf wissenschaftliche Kompetenzen legt, zeigt eine Untersuchung der Unterrichtsevaluation in Klagenfurt von Umschaden (Umschaden, 2007, S.3). Zusammengefasst lässt sich erkennen, dass der Gegenstand der Forschung die Umsetzbarkeit, die Hindernisse und die Vorteile der evidenzbasierten Praxis in der Physiotherapie sind, woran auch diese Arbeit in Teilen anknüpft. Zum jetzigen Zeitpunkt fehlt allerdings die Forschung über die Möglichkeit der Implementierung der evidenzbasierten Praxis und der wissenschaftlichen Inhalte in die physiotherapeutische (fachschulische) Ausbildung. Der wissenschaftliche Fokus liegt eher bei der therapeutischen Ausbildung auf Vergleiche von Inhalten in bestimmten Studiengängen (Bachelor und Master) im internationalen Vergleich (Weeber, 2017).

1.5 Zielstellung dieser Arbeit

Das evidenzbasierte Arbeiten scheint gerade mit dem Blick in die Zukunft nicht mehr wegzudenken. Gerade in der Physiotherapie, einer Profession, die sich lange Zeit über Erfahrungsbasierung entwickelt hatte, gibt es ein hohes wissenschaftliches Potential um die sektoralen, aber auch übergreifenden Fragen zu untersuchen. Im Hinblick auf die fortschreitende Akademisierung und die klare Stellungnahme der Berufsverbände hinsichtlich einer Vollakademisierung scheint dies auch bei der physiotherapeutischen Ausbildung Zukunft zu sein. In der vorliegenden Arbeit soll auch in die Gegenwart geschaut werden. Wie sicher fühlen sich bereits ausgebildete Physiotherapeuten mit EbP relevanten Themen? Sind sie bereits mit diesen Themen in Berührung gekommen? Welche persönliche Einstellung haben die ausgebildeten Therapeuten zur Thematik EbP und ändert sich diese, sobald sie einen Zuwachs an potenziell benötigtem Fachwissen erhalten? Welche Inhalte der EbP sind für den praktischen Alltag der Therapeuten notwendig? Wie lassen sich diese Inhalte pädagogisch am besten aufbereiten und welche Methoden bieten sich dabei für Lernende wie auch für bereits ausgebildete Therapeuten an? Ist ein Kursformat sowohl als eigenständiges Fach, als auch in Lernfelder integrierbar? In diesem Zusammenhang soll der Frage nachgegangen werden, ob und unter welchen Bedingungen und Voraussetzungen es grundsätzlich leistbar wäre, evidenzbasierte Praxis in der fachschulischen Ausbildung zu integrieren.

2 Methodik

Im folgenden Abschnitt wird die Methodik dieser prospektiven Kohortenstudie vorgestellt. Hierbei wird Bezug auf das Forschungsdesign genommen. Weiterhin erfolgt die Beschreibung der Stichprobe, mit den Ein- und Ausschlusskriterien und den zugehörigen Rekrutierungsprozess. Zur Operationalisierung der Arbeit wurden Fragebögen für Teilnehmer und Auszubildende erstellt und modifiziert. Ebenso wird auf die Erstellung des Curriculums des Kurses Evidenzbasierte Praxis in der Physiotherapie eingegangen und die Rahmenbedingungen der Durchführung beschrieben.

2.1 Studiendesign

Für diese Arbeit wurde das Studiendesign der prospektiven Kohortenstudie gewählt. Hintergrund dieser Wahl ist die Möglichkeit der Beobachtung und Analyse. Da ausschließlich fachschulisch ausgebildete Physiotherapeuten rekrutiert und in die Studie eingeschlossen werden, lässt sich so der Effekt eines Kurses zur evidenzbasierten Praxis in der Physiotherapie adäquat nachweisen. Da der Verfasser dieser Arbeit an einer Fortführung der Studie nach Beendigung der Arbeit interessiert ist und ein Follow up zur Effektanalyse in 12 Monaten plant, eignet sich dieses Design.

2.2 Rekrutierungsprozess

Für die Teilnehmergewinnung des Kurses Evidenzbasierte Praxis in der Physiotherapie wurde unter anderem das Netzwerk der physiotherapeutischen Fachschule des Verfassers genutzt. Dieses besteht aus diversen Einrichtungen des Gesundheitswesens, wie Kliniken, physiotherapeutische Praxen, Rehabilitations-kliniken und medizinische Fachzentren in Berlin, dem Berliner Umland und Brandenburg. Diese wurden per E-Mail angeschrieben und zum Kurs eingeladen. Ein weiteres Mittel der Rekrutierung stellten die sozialen Netzwerke dar. Hier wurde am 14. August. 2019 in der Facebook Gruppe „Physiotherapie Deutschland“ eine Einladung eingestellt. Zudem wurde an einem Fortbildungstag am Medizinischen Fortbildungszentrum Berlin auf die Veranstaltung aufmerksam gemacht. Für die Teilnehmergewinnung an dem Onlinefragebogen Evidence based practice in der Physiotherapie wurden Lernende im dritten Ausbildungsjahr des Fachbereichs Physiotherapie aus drei Schulen in Berlin, die kurz vor dem Staatsexamen standen, mit einem Link zu der Umfrage eingeladen. Hier wurden die E-Mail-Verteiler der Schule genutzt um per Mail die oberen Semester zu erreichen. Eine Einladung wurde ebenso am Schwarzen Brett in zwei physiotherapeutischen Praxen für die Mitarbeiter ausgehangen. Im Rekrutierungsprozess wurde stets auf die Freiwilligkeit der Teilnahme und die Datenschutzbestimmungen hingewiesen.

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Ende der Leseprobe aus 73 Seiten

Details

Titel
Evidence based practice (EBP) im physiotherapeutischen Praxisalltag. Einfluss auf den Arbeits- und Denkprozess von Physiotherapeut*Innen
Hochschule
SRH Hochschule für Gesundheit Gera
Note
2,0
Autor
Jahr
2020
Seiten
73
Katalognummer
V982751
ISBN (eBook)
9783346338914
ISBN (Buch)
9783346338921
Sprache
Deutsch
Schlagworte
evidence, praxisalltag, einfluss, arbeits-, denkprozess, physiotherapeut*innen
Arbeit zitieren
Daniel Völker (Autor:in), 2020, Evidence based practice (EBP) im physiotherapeutischen Praxisalltag. Einfluss auf den Arbeits- und Denkprozess von Physiotherapeut*Innen, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/982751

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