Märchen - Die Entwicklung von Märchen


Facharbeit (Schule), 2000

13 Seiten


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Einleitung

1. Abgrenzung gegen benachbarte Gruppen
1.1. Sage
1.2. Legende
1.3. Mythos
1.4. Fabel
1.5. Schwank

2. Geschichte des Märchens
2.1. Altertum
2.2. Mittelalter
2.3. Neuzeit
2.3.1. Renaissance 16.Jhdt.
2.3.2. Barock 17.Jhdt.
2.3.3. Aufklärung 18.Jhdt.
2.3.4. 19.Jhdt.

3.Verbreitung und Funktion des Märchens
3.1. Mündliche Verbreitung
3.2. Schriftliche Aufzeichnung
3.3. Funktion des Märchens
3.3.1. Soziale Funktion
3.3.2. Psychologische Funktion

4. Entwicklung zum Kindermärchen

5. Wesenszüge und Merkmale des europäischen Volksmärchens
5.1. Handlungsverlauf und Themen
5.2. Personal und Requisiten
5.3. Darstellungsart

Quellenangabe

ENTSTEHUNG VON MÄRCHEN

Die Bezeichnungen Märchen oder Märlein (mhd. maerlîn) sind Verkleinerungsformen zu Mär (ahd. Mâri; mhd; maere, Kunde, Bericht, Erzählung, Gerücht). Die sprachlichen Wurzeln des Begriffs reichen jedoch bis ins Germanische und Gotische zurück. Sie bezeichneten ursprünglich kurze Erzählungen. Diese Begriffe wurden aber wie andere Diminutive eher als abwertend empfunden und wurden auf erfundene und unwahre Geschichten angewendet. Aufgrund der sprachlichen Wurzeln kann nicht nur von einer weiten Verbreitung der Erzählform Märchen ausgegangen werden, sondern auch davon, dass es sich dabei um eine der ältesten Erzählformen der Literatur handelt.

Die Forschung ist sich jedoch unsicher, was Alter und Herkunft der Märchen betrifft. Die Meinungen sind geteilt, wie z.B. manche Forscher die Entstehungszeit mit der Steinzeit oder dem frühen Mittelalter datieren. Ebenso ungeklärt ist die Herkunft die in Indien, Ägypten, Babylon oder Kreta vermutet wird. Wiederum andere sind der Auffassung, Märchen entstünden überall und zwangsläufig, sobald sich der Mensch eine magische Naturvorstellung bildet.

Unsere heutige Vorstellung von Gehalt und Form des Märchens ist weitgehend geprägt von der Märchensammlung der Brüder Grimm, die in 2 Teilen 1812 und 1815 herausgegeben wurde. Zauber, Wunder, Übernatürliches sind allgemein mit dem Begriff Märchen verbunden. Seit den Brüdern Grimm verstehen wir darunter eine mit dichterischer Phantasie entworfene Erzählung, besonders aus der Zauberwelt, die das Unmögliche mit dem Gewöhnlichem verbindet. Die Geschichten lebten ursprünglich in mündlicher Überlieferung und verbreiteten oft lehrhafte Elemente und moralische Vorbilder.

Das Märchen gehört zur Literaturform der Epik. Man unterscheidet zwischen Volksmärchen und Kunstmärchen. Die typische Form ist das Volksmärchen. Im Gegensatz zu den Kunstmärchen bei denen der Autor sehr wohl bekannt ist, wie z.B. Hans Christian Andersen, bleibt bei dieser Form der Autor anonym.

1. Abgrenzung gegen benachbarte Gattungen

1.1. Sage

Mit dem Begriff Sage werden im weiteren Sinn wirkliche Vorgänge berichtet die sich jedoch von der Realität entfernt haben. Dies kann durch wiederholtes Erzählen, was zu einer charakteristischen Umformung führt (Volkssage, Lokalsage), oder durch bewusste dichterische Gestaltung (z.B. Heldensage) geschehen.

1.2. Legende

Der Sage sehr nahe steht die Legende. Sie erzählt wie die Sage von übernatürlichem Geschehen, das aber im Gegensatz zur Sage, in der Übernatürliches weitgehend ungeklärt bleibt, von einem festen religiösen System gedeutet oder von vornherein darauf hinaus gestaltet wird.

1.3. Mythos

Im Märchen werden Vorgänge auf den Menschen, in Sagen auf den vom Außerordentlichen Getroffenen und in der Legende auf den Träger des Sakralen bezogen. Im Mythos jedoch sind die kennzeichnenden Figuren fast ausschließlich Götter, jedoch auch gottähnliche Heroen.

1.4. Fabel

Die Fabel gehört ebenso zu den Erzählgattungen die über den Rahmen des irdisch Möglichen hinausgehen. Untrennbar verbunden mit dem Begriff der Fabel sind sprechende und handelnde Tiere, Pflanzen, Dinge oder Körperteile.

1.5. Schwank

Der Schwank hat mit dem Märchen nur gemeinsam, dass beide Erzählformen zum Unterschied von realistischen Erzählungen wie Epos, Roman und Novelle Unmögliches berichten. Vom Märchen jedoch trennt den Schwank die Neigung zur Parodie, zur Satire und zur Entstellung. Der Schwank soll zum Lachen bringen, das Märchen nicht.

Das Nebeneinander der verschiedenen Grundformen wie Märchen, Sage, Legende, Mythos oder Schwank bei vielen Völkern und in vielen Epochen führte dazu, diese Erzählformen mit dem Begriff der ,,Einfachen Formen" zusammenzufassen. ,,Dabei handelt es sich um Formen..., die sich, sozusagen ohne Zutun eines Dichters, in der Sprache selbst ereignen, aus der Sprache selbst erarbeiten" (A. Jolles)

2. Geschichte des Märchens

Über die Existenz von Märchen in vorgeschichtlicher Zeit sind nur Vermutungen möglich. Diese Frage gehört aber zur Theorie des Märchens und nicht zu seiner Geschichte. In der Literatur des Altertums hingegen, können jedoch schon Spuren des Märchens gefunden werden.

2.1. Altertum

Aus dem alten Ägypten wurden Erzählungen gefunden, deren Motive wir auch in Märchen finden, die sogar märchenähnlichen Ablauf haben. Die auf Papyrus aufgezeichneten Geschichten sind aber keine eigentlichen Volksmärchen, sondern für die Schicht der Gebildeten bestimmt. Die im 12. Jhdt.v.C aufgezeichnete Erzählung von Wahrheit und Lüge enthält jedoch bekannte, unserem Märchen ähnliche, Züge.

Noch spärlicher sind dem Märchen nahe Färbungen in Texten des alten Babylon, wie dem Gilgamesch-Epos oder der Etana-Erzählung, zu finden. Einen Abglanz des Märchens im alten Israel kann man in den Geschichten von Moses, Joseph oder David spüren.

Im alten Griechenland und Rom findet man in der Literatur Hinweise auf Kinder- und Ammenmärchen und Altweibergeschichten. In griechischen Sagen und Erzählungen existieren Elemente, die nicht nur den Motiven, sondern auch dem Aufbau unseres Märchens zu gleichen scheinen.

2.2. Mittelalter

Auch in der aus dem Mittelalter überlieferten Literatur kann man märchenhafte Elemente finden, die als Hinweis für die Existenz von Volksmärchen aufgefasst werden können. Märchenmotive aus der Edda können jedoch ebenso gut aus Mythen oder Sagen stammen. In der aus dem frühen Mittelalter überlieferten lateinischen Literatur findet man Geschichten, die als Schwankmärchen definiert werden können. Im Spätmittelalter erscheinen stark märchenhafte Motive, enthalten in Sammlungen von Predigtbeispielen.

Aus dem Orient, verbreitet über Byzanz und Spanien, sowie durch Kreuzzüge, erreichten orientalische Erzählungen wie das indische Pancatantra das europäische Abendland. Weitaus stärker als durch indische und orientalische Erzählungen wurde die europäische Literatur durch keltische Geschichten beeinflusst.

2.3. Neuzeit

2.3.1. Renaissance 16.Jhdt.

Aus dem 16.Jhdt. ist weitaus mehr überliefert als aus Altertum und Mittelalter. Verschiedene Aschenbrödelvarianten in Deutschland, Frankreich und Portugal weisen auf die sichtliche Existenz und weite Verbreitung von Volksmärchen hin. Auch Hinweise auf andere Märchennamen werden immer häufiger. Das Erscheinen von ,,Ergötzlichen Nächten" von G.

F. Straparola, eine Sammlung von 73 aus mündlicher Überlieferung stammenden

Erzählungen, von denen 21 als Märchen definiert werden können, kann man als Hauptereignis in der Geschichte des Märchens bezeichnen.

2.3.2. Barock 17.Jhdt.

Im 17.Jhdt. trug vor allem die italienische Literatur mit dem ,,Pentamerone" unter dem Titel ,,Das Märchen aller Märchen, oder Unterhaltung der Kinder" von G. Basile zum Bestand des Volksmärchens bei. Vorbild dieser Rahmenerzählung ist Boccaccios ,,Decamerone". In dem meisten seiner Erzählungen sind Parallelen zu der Märchensammlung der Brüder Grimm zu entdecken. Von einigen Märchen erscheint in seiner Sammlung die älteste bekannte Vollform. Es ist anzunehmen, dass Basile die Geschichten durch mündliche Überlieferung kennen lernte und sie später, durchsetzt von typisch barocken Wortvariationen, Allegorien und Schnörkel, weitererzählte und niederschrieb.

Als Beweis für die Existenz von Märchen in Deutschland gilt z.B. die Erzählung des Bärenhäuters in den ,,Simplicianischen Schriften" von Grimmelshausen. Weiters waren Predigtmärlein, Mirakelgeschichten, Fabeln, Schwankmärchen und Liebesgeschichten beliebt.

Im Gegensatz dazu fanden Zaubermärchen keine große Verbreitung. Sie waren offenbar weder als moralische Beispiele noch zur Unterhaltung zu gebrauchen. Ende des 17.Jhdt. gab der französische Schriftsteller Charles Perrault sieben gesammelte Volksmärchen, wie Dornröschen, Rotkäppchen oder Frau Holle, heraus. Er erzählte in einem naiven, halb ironischen Tonfall und benutzte im Gegensatz zu den Barockdichtern eine einfache Sprache.

Großer Beliebtheit erfreuten sich auch die sogenannten Feenmärchen, die aus einer phantastischen Kombination von orientalischen Erzählungen und eigener Erfahrungen stammten.

2.3.3. Aufklärung 18.Jhdt.

Wenige Jahre nach Herausgabe der Perraultschen Märchen veröffentlichte J.A.

Galland ,,Tausend und eine Nacht auf französisch". Diese 10 Bände basierten auf einer aus dem 14.Jhdt. stammenden arabischen Handschrift und mündlichen Erzählungen eines syrischen Maroniten. Diese freie Bearbeitung hatte großen Erfolg und wenig später veröffentlichten F. Pétis de la Croix und Le Sage nach persischen Manuskripten ,,Tausend und eine Nacht". Die Folge war eine Flut von pseudoorientalischen Schriften. Um das geheime Bedürfnis nach Phantastischem und Wunderbarem zu befriedigen, waren diese Erzählungen genauso wie die stark verbreiteten Feengeschichten gut geeignet.

2.3.4. 19.Jhdt

Das entscheidende Ereignis in der Geschichte des deutschen Volksmärchens war zweifelsohne die Herausgabe der gesammelten ,,Kinder- und Hausmärchen" der Brüder Grimm. Die Veröffentlichung einer derartigen Sammlung hatte zwei wichtige Folgen. Das lange Zeit verachtete Volksmärchen wurde nun gesellschafts- und buchfähig gemacht. Eine weitere wichtige Folge war, dass nun in ganz Europa nach Vorbild der Brüder Grimm Volksmärchen aufgezeichnet und veröffentlicht wurden. Damit wurden zwar einerseits viele, schon in Vergessenheit und somit dem Untergang geweihten Märchen gerettet, andererseits trat das Buch anstelle der mündlichen Erzählung von Generation zu Generation.

3. Verbreitung und Funktion von Märchen

3.1. Mündliche Verbreitung

Zuerst wurden Märchen durch mündliche Erzählung überliefert. Die meisten der uns bekannten Märchen haben keinen Autor oder einen einzelnen Urheber. Man geht davon aus, dass jede soziale Gemeinschaft über einen bestimmten Märchen-Schatz verfügt, der durch besonders begabte Erzähler weitergegeben und auch verändert wird. Die Folge ist die Mitgestaltung vieler Menschen. Märchen behandeln meistens Themen und Situationen, die viele Menschen betreffen und wichtig sind. Nach und nach wurde das allzu persönliche der Helden herausgefiltert um die Märchen so der Allgemeinheit noch zugänglicher zu machen. Die Bilder die vermittelt werden sind daher kein persönlicher, sondern ein allgemein menschlicher Ausdruck von Gefühlen. Märchen sind sozusagen ,,von der Menschheit an die Menschheit" gerichtet.

3.2. Schriftliche Aufzeichnung

Ab dem 17.Jhdt. begann man mündliche Überlieferungen aufzuzeichnen und zu veröffentlichen. Bis zu diesem Zeitpunkt kann nur aus der Literatur Rückschlüsse auf die Existenz und Form von Märchen gezogen werden. Ein bedeutendes Ereignis war sicherlich die Veröffentlichung der Grimmschen ,,Kinder- und Hausmärchen". Ein positiver Faktor der schriftlichen Aufzeichnung war zweifelsfrei die Rettung in Vergessenheit geratene Märchen. Jedoch trug die schriftliche Fixierung dazu bei, dass die Erzählungen von diesem Zeitpunkt an der mündlichen Weitergabe entzogen und somit unveränderlich waren. In den nun aufgezeichneten Erzählungen war die ständigen Angleichung, die das Märchen an örtliche Gegebenheiten und historische Veränderungen anpasste, nicht mehr wirksam. So entfernt sich schriftlich festgehaltene Märchen immer weiter von seinem Leser, der sich wie seine Umgebung ständig ändert. Alltägliche Lebensumstände der Helden wirken nun fremd und phantastisch.

3.3. Funktion des Märchens

3.3.1. Soziale Funktion

Ursprünglich sind Märchen Geschichten für Erwachsene, da es in Zeiten ohne Medien keine andere Form der ernsthaften Auseinandersetzung mit einem wichtigen Thema gab. Sie dienten dazu, Menschen in schwierigen Lebenssituationen zu helfen und waren eigentlich nur zweitrangig zur Unterhaltung gedacht. Das Märchen ist oft ein Kontrastbild zur wirklichen Welt. Durch die ,,Seinsollensdichtung" zeigt es, wie es in der Welt eigentlich zuzugehen habe. Aber auch versteckte Sozialkritik ist oft zu erkennen. Sie verbindet Seinsollensdichtung mit einer Kennzeichnung schlechter sozialer Zustände.

Das europäische Zaubermärchen drückt den Wunsch der unterdrückten, ländlichen Bevölkerung in der feudalistischen Epoche nach einem freien und glücklichen Leben. Die hoffnungslose Anfangssituation des benachteiligten Helden spiegelt die aussichtslose Lage der Bevölkerung wieder. Die Lösung des Konflikts geschieht nicht durch Aktivität des Helden sondern durch Hilfe von außen.

Schwankmärchen, handeln vor allem von den städtischen Unterschichten wie Handwerksgesellen und Wanderburschen. Hier versucht der Held alltägliche Konflikte durch List und Klugheit, oder ins Gegenteil gekehrt, durch besondere Dummheit zu meistern.

Das eigentliche Glück liegt in der Lösung des Konfliktes. Die natürliche Ordnung wird vom Held wieder hergestellt, die zu Beginn gestört war. Das Märchen hilft bei der Lebensbewältigung, weil es mit den realen Erfahrungen der Erzähler und Hörer eine Welt vereint, die optimistisch, phantastisch und durch Wunder bestimmt wird, da keine andere Möglichkeit zu Lösung der Konflikte des alltäglichen Lebens besteht.

3.3.2. Psychologische Funktion

Das eigentliche Leben des Märchens findet heute in der Kinderstube statt. Um sich mit dem gegenwärtigen Leben des Märchens als Psychologe zu beschäftigen, muss man nach dem Verhältnis des Kindes zum Märchen fragen.

Worauf beruht die Empfänglichkeit und Faszination des Kindes auf das Märchen also? Schon rein formal entspricht das Märchen den Bedürfnissen des kindlichen Denkens. Es ermöglicht wie keine andere Erzählform die Übung des Vorstellungsmechanismus. An seinen plötzlichen Übergängen (groß-klein, Versetzung an einen anderen Ort, Umschlagen in die Gegensituation etc.) kann das Kind, mit oft lebhaftem Vergnügen, die Fertigkeit und Gewandtheit des Vorstellens üben. Da das Kind jede Einzelheit mit großer Gefühlsintensität erlebt, genügt ihm die bloße Nennung von Figuren und Vorgängen. Zusätzlich dazu halten sich Wiederholung und Variation die Waage und es herrscht ein Gleichgewicht zwischen Bekanntem und Unbekanntem. Das Ungewöhnliche, das Wunderbare beschäftigt den Geist des Kindes. Wunsch und Gerechtigkeitsbedürfnis kommen auf die Rechnung, das Gute siegt.

Märchen helfen die Eigenen Entwicklungsschwierigkeiten zu bewältigen und stärken die kindliche Bereitschaft, sich dem Übermächtigen zu stellen. ,,Märchen sind nicht grausam, sie bereiten auf das Grausame im Leben vor." ,,Kinder, die dem Märchen nicht begegnet sind, trifft das Grausame im Leben unvorbereitet." (Wittgenstein, ,,Märchen, Träume, Schicksale")

4. Entwicklung zur Kinderliteratur

Erzählungen in Art des Zaubermärchens gehören zu den ältesten Überlieferung der Menschheit. Sie gehören zum Kulturbesitz jedes Volkes. Was ehemals Eigentum ganzer Gesellschaften bzw. bestimmter sozialer Schichten war, gehört heute selbstverständlich der Kinderliteratur an. Den Naturvölkern, welche die Wirklichkeit immer noch in ihren Märchen abgebildet sehen, sind Kindermärchen fremd. Erst als die Märchen im Bewusstsein der Menschen sich zu unglaubwürdigen Geschichten wandeln, werden sie für Kinder zugänglich gemacht und für sie erzählt. Schon sehr frühe, abschätzige Hinweise in der deutschsprachigen Literatur über Ammenmärchen deuten darauf hin, dass das aufgeklärte Bürgertum Märchen als geringgeschätzt, bestenfalls als Kindererzählungen akzeptiert wurden. Durch die zahlreichen Märchensammlungen nach den Brüdern Grimm kann jedoch auf den Fortbestand der Märchen in den Unterschichten geschlossen werden.

Durch den Titel der Erstausgabe der Grimmschen Kinder- und Hausmärchen lässt sich darauf schließen, dass das Bürgertum bereits zu Beginn des 19.Jhdt. das Märchen als Kinderlektüre einstufte. Trotz der Bedenken W. Grimms wurde eine stärkere pädagogische Bearbeitung der Märchen für Kinder gefordert. Die folgenden bearbeiteten Auflagen wurden zu einem grundlegendem Werk der nationalen und internationalen Kinderliteratur. Der Inhalt der Bearbeitung war vor allem die Entschärfung sexueller Symbolik, Milderung in der Darstellung sozialer Konflikte und stärkere Propagierung bürgerlich-ethischer Werte. Das Ergebnis war ein stilistisch kunstvolles und ideologisch einheitliches Werk, dass auf bürgerliche Kinder zugeschnitten war.

Die Grimmschen Märchen wurden immer weiter in die bürgerliche Erziehung der Kinder integriert. Es fand bald Eingang in die Schullesebücher, wo sie heute noch zu finden sind. Trotzdem wurden sie in der ersten Hälfte des 19.Jhdt. als Literatur für bäuerliche und proletarische Kinder abgelehnt, da sie gefährliche Phantasien erweckten. ,,Man hüte sich, in den Kinderherzen Wünsche zu erwecken, die das Leben nicht gewähren kann , in die Kinderbrust ein Sehnen einzupflanzen, welches sie mit den gegebenen Verhältnissen unzufrieden macht" (Anweisung über die in ,,Kinderbewahranstalten" zu verwendende Literatur; zit. nach Richter/Merkel)

5. Wesenszüge und Merkmale des europäischen Volksmärchens

Auch wenn die Eigenart jedes Volkes und jeder Epoche den Stil der Erzählungen beeinflusst, so kann man doch von einem Grundtyp des europäischen Volksmärchens sprechen. Ein Vergleich der in den letzten Jahrhunderten zutage getretenen Märchen zeigt über die nationalen, zeitlichen und individuellen Verschiedenheiten hinweg, gewisse gemeinsame Züge. Man kann jedoch nur von einem Idealtyp sprechen. Das europäische Volksmärchen ist hauptsächlich durch Neigung zu einem bestimmten Personal, Requisitenbestand und Handlungsablauf sowie zu einem bestimmten Stil gekennzeichnet.

5.1. Handlungsverlauf und Themen

Das allgemeine Schema, des europäischen Volksmärchens ist ein Konflikt und dessen Lösung. Schwierigkeiten und deren Bewältigung sind Kernvorgänge des Märchens. Dazu gehört der stets gute Ausgang, der ein weiteres Charakteristikum des Märchens darstellt. Die Ausgangslage ist ein Mangel oder eine Notlage, eine Aufgabe, ein Bedürfnis oder andere Schwierigkeiten, die bewältigt werden müssen.

Inhaltlich werden in fast jedem Märchen wesentliche menschliche Verhaltensweisen und Unternehmungen dargestellt: Kampf, Stellen und Lösen von Aufgaben, Intrige und Hilfe, Schädigung und Heilung, Mord, Gefangensetzung und Befreiung, Werbung und Vermählung, sowie Berührung mit den zauberischen und jenseitigen Mächten. Zu den Themen zählt auch Widerstreit von Schein und Sein, Verkehrung der Situation in ihr Gegenteil und Sieg des Kleinen über den Großen. Paradoxien und Ironie ist für das Märchen charakteristisch.

5.2. Personal und Requisiten

Hauptträger der Handlung sind Held oder Heldin, die beide der menschlich- diesseitigen Welt angehören, sowie ihre Gegner. Dazu treten typische Figuren wie Auftraggeber, Helfer, Neider und von Held/in gerettete, befreite oder sonst wie gewonnene Personen. Alle wichtigen Figuren stehen in Zusammenhang mit dem Held. Gegner oder Helfer sind oft, im Gegensatz zu Held selbst, Mitglieder der außermenschlichen Welt.

An Stelle der zu gewinnenden Person kann aber auch ein Ding stehen, wie das Lebenswasser, ein Ring oder ein Schlüssel. Hauptrequisit ist aber die Gabe, de den Helden zur Lösung seiner Aufgabe instand setzt.

Personen und Dinge des Märchens sind im allgemeinen nicht individuell. Handelnde Personen bekommen nie Eigennamen. Oft werden aber neue Namen definiert, die maßgebliche Eigenschaften hervorheben und in direktem Bezug zur Person stehen. Viele Personen werden lediglich auf ihren Beruf hin bezeichnet. Die Helden wurden mit beliebten und weit verbreiteten Allerweltsnamen wie Hans genannt. Mit dem russische Name Iwan bezeichnet man den Russen schlechthin, der deutsche Hans wurde fast zum Gattungsnamen.

Die handelnden Personen haben keinen individuellen Charakter, sonder treten als Typen auf. So wie die ganze Welt des Märchens in schwarz und weiß gezeichnet ist, so scheiden sich auch seine Figuren scharf in gut und böse, schön und hässlich, vornehm und niedrig, usw. Die aufgezählten Kontraste zeigen, dass vom König über die fleißige Bäuerin bis zum Schweinehirten die wesentlichen Erscheinungen der menschlichen Welt umspannt werden. Zu den diesseitigen Personen treten zusätzlich noch der Über- und Unterwelt angehörigen Wesen wie Hexen, Feen und Zauberer. Nicht nur Personen sondern auch Dinge können der Alltags- oder der Zauberwelt angehören. Aber es handelt sich wiederum nur um allgemeine Repräsentanten der Dingwelt.

Im Gegensatz zu den mitteleuropäischen Märchen, in denen Naturgeister wie Feen, Trolle, Gnome oder Salamander im allgemeinen eher selten bzw. alleine vorkommen, finden sie vor allem in den nordischen Märchen große Verbreitung. Dem mittelalterlichen Menschen erschien die noch nicht gebändigte Natur, besonders die undurchdringlichen Wälder, von seltsamen, meist unsichtbaren Naturwesen bevölkert. Das Resultat dieser Vorstellungen war eine große Vielfalt an Naturgeistern, ganze Heere von Elfen und Zwergen lebten in den Geistern der Menschen.

So spiegeln nicht nur Handlungen, sondern auch Gestalten und Dinge des Märchens die Welt des Menschen. Personen und Requisiten gewöhnlicher und übernatürlicher Art haben ihren festen Platz im Märchen.

5.3. Darstellungsart

Das europäische Märchen neigt zum raschen Fortschreiten der Handlung und nur zur knappen Benennung der Figuren und Requisiten. Auch Beschreibungen und Schilderungen der Umwelt oder Innenwelt seiner Gestalten sind selten. Die meist einsträngig geführte Handlung gibt dem Märchen Bestimmtheit und Klarheit. Um dies Klarheit noch zu betonen kommt die Vorliebe für alles klar Ausgeprägt überhaupt: Metalle, Mineralien, Extreme und Kontraste, Verbote, Bedingungen und Tests sowie Lohn und Strafe.

Beliebte Farben des Märchens sind rot, weiß und schwarz, ferner noch golden und silbern, was auf Freude am Metallischen hinweißt. Aber nicht nur Gegenstände können metallisch sein. Auch Wälder, Kleider und Haare könne kupfern, silbern und golden sein. Diese Mineralisierung und Metallisierung bedeutet die Verfestigung der Ding, ihre Härte und Kostbarkeit heben sie aus ihrer Umgebung heraus. Das Märchen lässt auch seine Figuren einzeln auftreten, während die Sage oft vom Volk der Zwerge oder vom Zug der Geister spricht. Im Allgemeinen kann man davon ausgehen, dass das Märchen das Extrem allen Mittel- oder Zwischenzuständen vorzieht.

Aufgaben, Verbote, Bedingungen, Ratschläge und Hilfen aller Art bezeugen, dass die Handlung nicht von innen, vom Helden selbst, sondern von außen gelenkt wird. Innenleben und Umwelt der Figuren spielen ebenso geringe Rolle wie die Regionen, in denen die Jenseitsfiguren ihren Platz haben. Nur was auf die Ebene der Handlung tritt, wird sichtbar. Statt des Ineinander und Miteinander herrscht das Nebeneinander und Nacheinander.

Quellenangabe

Und wenn sie nicht gestorben sind...Perspektiven auf das Märchen; Helmut Brackert; SV Märche n; Max Lüthi; J.B. Metzler Verlag

Märchen aus 1000 und 1 Leben; Thomas Schäfer; Silberschnur

Ende der Leseprobe aus 13 Seiten

Details

Titel
Märchen - Die Entwicklung von Märchen
Autor
Jahr
2000
Seiten
13
Katalognummer
V98375
ISBN (eBook)
9783638968263
Dateigröße
429 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Märchen, Entwicklung, Märchen
Arbeit zitieren
Andrea Bichler (Autor:in), 2000, Märchen - Die Entwicklung von Märchen, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/98375

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Titel: Märchen - Die Entwicklung von Märchen



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