Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Vom ,Sehen lernen‘ in Paris
2.1 Im Negativ der Großstadt
2.2 Im Positiv der Großstadt
3. Entwicklung im Malte?
3.1 Aufzeichnung 14 als brüchiger Umbruch
3.2 Aufzeichnungen 15 und 16 in neuer Deutung
3.3 Notwendiger Ich-Zerfall
3.4 „Eine vollkommen andere Auffassung aller Dinge“
4. Maltes Kindheit im Spiegel der Großstadtproblematiken
4.1 Ein Übergang
4.2 Blumen, Rot und Ich-Spaltung als wiederkehrende Elemente
4.3 Von Fieber und Spiegeln
5. Der Tod als Anfang
6. Das (fremde) Ich in der Krise
6.1 Der falsche Zar
6.2 Karl der Kühne
7. Die Möglichkeiten des Romanausgangs - ,Alles‘ oder ,Nichts‘?
Literaturverzeichnis
1. Einleitung
Rainer Maria Rilke schreibt von 1904 bis 1910 an den Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge1 (Huwe, 2005). Aus dieser Zeitspanne gehen 71 fragmentarische Aufzeichnungen hervor, welche den Übergang zur Moderne während der Jahrhundertwende im Raum der Pariser Großstadt spiegeln. Decker (2004) betont, dass Paris auch im Leben Rilkes eine entscheidende Rolle als „[e]in zentraler Ort der Anziehung und Abstoßung“ (S. 104) spielt. Maltes Autor empfindet seine Zeit in der Stadt als kraftraubend, dennoch kehrt er immer wieder zur abstoßenden Quelle zurück und erfährt Paris als „Medium der Selbstbegegnung“ (Decker, 2004, S. 105). Überträgt Rilke demnach einen Bruchteil seines Ich in die Hauptfigur, indem er Malte vom Land in die neue Welt der Großstadt schickt und ihn dort einsam zurücklässt? In der Tat muss sich Malte mit den negativen Seiten der Massengesellschaft - Elend, Armut, Anonymität, Krankheit und fortwährend der Tod - in Paris konfrontiert sehen. Aufgrund der grau getrübten Erfahrungen erreicht dieser visuelle Sinn im Werk eine neue Dimension: „Habe ich es schon gesagt? Ich lerne sehen“ (Rilke, 2004, S. 9)2. Wohin aber mag ihn dieses ,neue Sehen‘ führen? Was genau bedeutet es für Malte und das Werk an sich? Ein ,wohin‘ impliziert die richtungsweisende Betrachtung des Romanausgangs. Weil die sich mit Malte befassende Lektüre grenzenlos scheint, finden sich diesbezüglich verschiedenste Meinungen: Zum einen beharrt Rumold (1979) darauf, dass „ein geschlossenes Ende“ (S. 129) vorliegt, denn Malte überwindet mithilfe der Aufzeichnungen seine Identitätskrise. Grimm hingegen spricht 2003 „von Rilkes eigenen Bedenken und seinem Schwanken im Hinblick auf [die genaue Deutung von] Maltes Ende“ (S. 262). Auch Kruse (1994) schreibt davon, im Malte „kein Ende [zu verorten], da zum Schluß nicht klar ist, ob Malte stirbt oder weiterlebt“ (S. 25). Stephens (1974) konkretisiert, „daß Rilke den faktischen Untergang Maltes durch einen metaphorischen ersetzt hat“ (S. 23). Durchaus kann so von einem offenen Romanausgang gesprochen werden.
Die vorliegende Arbeit widmet sich vor der Umbruchs- und Stagnationsthematik im Malte anhand ausgewählter Aufzeichnungen gezielt der Fragestellung, ob der Romanausgang als Ende oder Anfang, als ,Nichts‘ oder , Alles‘, gedeutet werden kann.
2. Vom ,Sehen lernen4 in Paris
Sowohl der fragmentierte Roman als auch die Hauptfigur brechen mit herkömmlichen Strukturen (Stephens, 1974). Malte „begünstigt durch den Charakter des Selbstgesprächs [eine] neue [zu gestaltende] Subjektkonzeption“ (Ajouri, 2009, S. 33). Malte wiederum siedelt, nachdem er ohne Familie, „ohne Haus, ohne ererbte Dinge, ohne Hunde“ (R., S. 18) dasteht, vom Lande Dänemarks in die Hauptstadt Frankreichs um. Er beginnt, an einem 11. September ein Tagebuch zu führen, welches seine eigene gegenwärtige und vergangene Reise durch und für ihn ,erzählt‘. Der erste Satz zeigt sogleich an, wie Malte seine neue Wahlheimat konträr den allgemeinen Meinungen Anderer deutet: als Ort des massenhaften Sterbens (Rilke, 2004, S. 7). Bereits in der ersten Aufzeichnung gibt Malte seine visuellen Eindrücke, die von Krankheiten und Obdachlosigkeit zeugen, wieder („Ich habe gesehen [...].“, R., S. 7). Ergänzend schreibt Malte die von ihm wahrgenommenen olfaktorischen und in Aufzeichnung 2 auditiven Reize auf. Letztere halten Malte von nächtlicher Ruhe ab, erst ihm vom Land bekannte Tiergeräusche lassen ihn im Morgengrauen einschlafen. All jene neu gewonnenen Sinneseindrücke der modernen Großstadt müssen auf und für Malte Eindruck erwecken, da er sie notiert. Ajouri (2009) bezeichnet diese allerdings als „Ich- dissoziierend, also Ich-auflösend“ (S. 195) - als negative Wirkung für das Ich. In Aufzeichnung 4 realisiert Malte, dass er Gesehenes nicht einfach nur sieht, sondern in „ein Inneres, von dem [er] nicht wußte“ (S. 8), aufnimmt. Er entdeckt also seine äußere Umwelt und sein Inneres auf eine neue, ihm noch nicht klar ersichtliche Weise. Eine „Realität, die zugleich im Bewusstsein des Beobachters und in der Umgebung ist“ (Ajouri, 2009, S. 32), wobei der Übergang zwischen Sub- und Objekt fließend wirkt. Der bedeutende Aspekt des , Sehen lernen‘ wird nun im Negativ und Positiv der Großstadt betrachtet, wobei auf Umbruch- oder Stagnationstendenzen geachtet wird, um der zentralen Fragestellung näher zu kommen.
2.1 Im Negativ der Großstadt
Das Negative der Stadt offenbart sich anfangs für Malte im Hässlichen, im Kranken und im Sterben. Hierfür ist Aufzeichnung 6 ein Beispiel: „Es wäre sehr häßlich, hier krank zu werden [...]“ (R., S. 10). In der folgenden Aufzeichnung bestätigt Malte, dass in Paris „fabrikmäßig“ (R., S. 11) gestorben wird und das Individuum in dieser Masse untergeht. Somit bezieht sich Maltes Aussage „Ich fürchte mich“ (R., S. 10) hier auf einen entindividualisierten Tod im Sinne einer Stagnation. Der Tod ist vergleichend auch auf Ulsgaard präsent, jedoch trägt „man den Tod [auf dem Land] in sich“ (R., S. 12). Zudem wird der Tod von Malte personifiziert: Großvater Brigges Sterben hinterlässt eine Stimme, die „schrie und stöhnte“ (R., S. 15), weil er „[a]lles [verbliebene] Übermaß an [innerem] Stolz, Willen und Herrenkraft“ (R., S. 17) des Herrn Brigge nach außen kehrte, sodass jeder davon mitbekam. Maltes Erinnerung an diesen Tod führt in Aufzeichnung 10 zu einer Art umbruchshaften Befreiung, da er „etwas [...] gegen die Furcht [getan hat]“ (R., S. 17). Über die Schreibarbeit gelangt der mittellose Schriftsteller im Folgenden zu einer auf den ersten Blick gefestigteren Sicht von Paris.
2.2 Im Positiv der Großstadt
Die Aufzeichnungen 11-13 gestalten ein positiveres Bild der Stadt (Walisch, 2012). Rumold (1979) erachtet sie als „durch sein dichterisches Auge gestaltet“ (S. 77). Tatsächlich nutzt Malte umbruchartig sanfte Adjektive wie „schöner“ und „leicht“, „licht“ und „hellen“ (R., S. 18) sowie Substantive der Natur, die an seine Heimat erinnern können. „[E]in sehr großer, schlanker Mann [...] hielt [eine Krücke] vor sich her“ (R., S. 18), wodurch der ehemals Kranke am schönen Tag genesen wirkt. Das auffallende Rot im Grau der Stadt wird von Kruse (1994) als Liebesprolepse gedeutet. Rot erinnert aber auch an Blut oder kann eine Warnung implizieren, das positivere Wahrnehmen eben nicht als „eine Vollzähligkeit, in der nichts fehlt“ (R., S. 19) zu erfassen. Schließlich tragen die vorigen dunklen Aufzeichnungen bereits zum Ich-Zerfall bei. Um das Rot genauer in diesem Kontext zu analysieren, wird anschließend ein Blick auf eine mögliche Entwicklung Maltes geworfen.
3. Entwicklung im Malte?
Das zuvor positiv gezeichnete Bild kann nur bedingt als Umbruch gesehen werden. Dies wird im dritten Kapitel anhand der Aufzeichnung 14, den Aufzeichnungen 15-16, 18-19 und 21 -22 verdeutlicht.
3.1 Aufzeichnung 14 als brüchiger Umbruch
Malte will „anfangen, etwas zu arbeiten, jetzt da [er] sehen lerne“ (R., S. 19). Doch prompt stellt er sein bisheriges dichterisches Können infrage (Walisch, 2012). „Um eines Verses willen“ (R., S. 20) braucht es nämlich Erfahrungen. Diesbezügliche Erinnerungen müssen „Blut werden in uns, Blick und Gebärde, [.] erst dann kann es geschehen, daß in einer sehr seltenen Stunde das erste Wort eines Verses aufsteht in ihrer Mitte [...]“ (R., S. 20-21). In Aufzeichnung 11 ist ebenfalls vereinzelt blumiges Rot an einem für Malte seltenen, schönen Tag in Paris aufgestanden. In Hinblick auf Aufzeichnung 14, in der es als schreibnotwendige Erfahrung gilt, zu wissen, „mit welcher [Gebärde] die kleinen Blumen sich auftun am Morgen“ (R., S. 20), kann das Rot in Blume und Blut als ein aufblühendes, aufkeimendes (Wieder-)Erinnern verstanden werden, das Malte zum neuen Schreibprozess führt. Dies ist ein Umbruch, setzt jedoch totale Stagnation voraus: Verse müssen erst in ein ,Nichts‘ übergehen, um aus dem Inneren heraus schreibbar zu sein und Malte wird als Ich vollständig dekonstruiert, da er nun noch seine Schriftstelleridentität verliert. „[S]eine Selbstkritik führt ihn [ebenfalls] an einen Nullpunkt, an dem er sich als ,Nichts‘ empfindet [... ]“ (Kruse, 1994, S. 74). Mit den sieben ,großen Fragen‘ entwirft Malte Möglichkeiten („Ja, es ist möglich.“ R. , S. 22-24), starre Gesellschaftskonventionen zu hinterfragen, welche bislang „an der Oberfläche des Lebens geblieben [sind]“ (R., S. 22). Malte befindet sich im „[Abnabelungsp]rozess der Ablehnung des [aus seiner Sicht] überkommenen Weltverständnisses [. . .] hin zu einer Neubegründung [seiner] Existenz“ (Grimm, 2003, S. 189). Damit dringt alles Wahrgenommene jetzt tiefer in ihn ein. Mit diesem neugewonnen Schreibbeginn als Umbruch prophezeit Malte zugleich: „das wird das Ende sein“ (R., S. 24).
3.2 Aufzeichnungen 15 und 16 in neuer Deutung
Malte will ab Aufzeichnung 15 probieren, solche neu angestrebten Deutungen zu erkunden. Dafür begibt er sich in seine kindliche Vergangenheit, womöglich weil Kinder innerlich formbare Wesen sind, die den gesellschaftlichen Konventionen noch nicht gänzlich unterliegen (Kruse, 1994). Malte schreibt rückwirkend neu über die „Sichtbarkeit des Unsichtbaren“ (Kruse, 1994, S. 89): über die ihm einfallende ,Gabe‘ des Großvaters Brahe, den Tod nicht als Ende anzusehen, sondern mit ihm vertraut zu sein (Kruse, 1994). Somit versucht Malte nun, eine „fremde perspektivische Welt zu erfassen, oder [...] fremde Perspektiven [zu] übernehmen [...]“ (Walisch 2012, S. 183). In der 16. Aufzeichnung schreibt Malte von den ,Fortgeworfenen‘, den „Abfälle[n], Schalen von Menschen“ (R., S. 37), „[d]ie wissen, daß [er] eigentlich zu ihnen gehöre“ (R., S. 36). Die Bibliothek bietet Malte also einen Zuflucht- und Rückzugsort („Aber hier [.] bin ich sicher vor euch.“ R., S. 38), an dem er seine Vorstellung vom eigenen Dichteridyll entwirft. „Aber es ist anders gekommen“ (R., S. 40) - Malte reflektiert, dass ihn hier in der Großstadt selbst das kulturelle Prestige der Bibliothekskarte nicht mehr von den , Fortgeworfenen ‘ zu trennen vermag (Kruse, 1994). Wie sich schon das positivere Bild von Paris nicht als beständig erwies, „ist auch diese Art der Zuflucht von nur begrenzter Gültigkeit“ (Stephens, 1974, S. 93). Dass es Malte nach der Erkenntnis in die Augen regnet, kann auf eine Reinigung des Sehorgans hinweisen, damit er seine alten Vorstellungen abwäscht und sich ganz dem ,neuen Sehen‘ zuwendet (Kruse, 1994).
3.3 Notwendiger Ich-Zerfall
Das Bild der Mauer in Aufzeichnung 18 symbolisiert Maltes Enthüllungsprozess von dem Bruch mit den gesellschaftlichen Konventionen (Stephens, 1974). „Man sah ihre Innenseite“ (R., S. 42), so wie Malte nun von seinem Innersten weiß. Die man-Formulierung lässt das ,empirische Ich‘ zurücktreten und Malte zum reinen Beobachter und Notierenden werden (Kruse, 1994). Allerdings besteht diese „letzte der früheren [Mauern]“ (R., S. 42) weiterhin und Malte erfasst, dass er „die Mauer [in sich selbst] erkannt hatte“ (R., S. 43). Der gewollte Umbruch aus Aufzeichnung 14 ist demnach noch nicht vollzogen, weil eine letzte Mauer Maltes Sicht versperrt. Zudem entspricht die letzte Mauer dem „Tod, der noch Leben [in Malte] ist“ (Kruse, 1994, S. 107). Er fürchtet sich davor, dass die letzte Mauer fällt, da sie gewohnte Stabilität bedeutet, jedoch auch Stagnation. Dieser Zwiespalt führt zu Maltes immenser Furcht vor einem Ich-Zerfall. Nach der Flucht vor dem Tod in der Crémerie rekapituliert er diesen wie folgt: „[U]nd doch habe ich jenen Mann nur begreifen können, weil auch in mir etwas vor sich geht, das anfängt, mich von allem zu entfernen und abzutrennen“ (R., S. 47). Wenn Malte anführt, dass er „vor etwas Großem steht“ (R., S. 48), kann damit der neue Schreibprozess oder auch der in ihm wohnende Tod beziehungsweise der Ich-Verlust, Umbruch oder Stagnation, gemeint sein. Das ,Große‘ in Aufzeichnungen 18-19 wird auf ein neues Bewusstsein in und aus Malte heraus bezogen (Grimm, 2003). Er spürt den aufsteigenden Prozess trotz Furcht. Das ,Große‘ bezeichnet nach Grimm (2003), „was vom einzelnen aktiv zu leisten ist [, um dem] Verlust einer vereinenden, objektivierbaren Weltauffassung“ (S. 211) entgegenzuwirken. Dies stellt einen geforderten Umbruch dar. Kruse (1994) sieht das ,Große‘ als das das Subjekt zerreißende Ungetüm an. Ferner betont Kruse (1994), dass das Wahrgenommene immer schon subjektiv „eingebildete Wirklichkeit“ (S. 34) ist, wenn es stets durch ein Inneres wandert. Das führt zu Maltes Zerreißprobe von Innen (das ,Große‘) und Außen (das Wahrnehmen). Malte ist dementsprechend kein agierendes Individuum mehr, sondern ein notwendiges Instrument, welches die in ihm und von ihm als eigenständiges Ich getrennten Erfahrungen nur aufschreibt (Kruse, 1994). Indem er sich selbst ins Krankenhaus zu denen ihm gleichwertigen ,Fortgeworfenen‘ begibt, ist Malte - aufgrund seines inneren Weges ins Ungewisse - „ins Innere der Moderne hinabgeglitten und muß sich [...] mit [der] Ignoranz dieser technischen Moderne“ (Kruse, 1994, S. 115) auseinandersetzen. Die Moderne stagniert aus dieser Sicht Maltes in Gleichgültigkeit gegenüber dem Individuum: „Verbände, die den ganzen Kopf Schichte um Schichte umzogen [...]“ (R., S. 51). Dann bricht das ,Große‘ aus ihm heraus, „[d]as, was mir das erste, tiefe Entsetzen eingejagt hatte, wenn ich als Kind im Fieber lag“ (R., S. 55). Er ergreift die Flucht und verliert die Orientierung. Hat das moderne, großstädtische Krankenhaus Malte erst völlig krank gemacht und somit komplett entindividualisiert? Wenn Malte in Aufzeichnung 21 versteht, dass „dieses Hüpfen [im Körper eines Mannes] herumirrte, daß es versuchte, hier und da auszubrechen“ (R., S. 61), so spiegelt der Fremde die Ich-Vernichtung in Malte aufgrund der „Negativität der Gesellschaft“ (Kruse, 1994, S. 27) und Großstadt wider.
3.4 „Eine vollkommen andere Auffassung aller Dinge“
Die ersten 21 Aufzeichnungen stellen gewissermaßen3 den Niedergang des Ich zu einem ,Nichts’ der Moderne dar (Kruse 1994). Der städtische Tod gilt als endgültiges Vergessenwerden, als pure Stagnation. Aufzeichnung 22 begründet jedoch einen ästhetisch stilistischen Umbruch im Werk: Das ,neue Sehen‘ verhilft Malte zur „veränderten] Weltauffassung, [die] auch die negativen Aspekte der Realität integriert“ (Rumold, 1979, S. 135). Rumold (1979) sieht es als Fortschritt, dass Malte die „Wirklichkeit in seine Ästhetik“ (S. 93) einbettet und spielt damit unter anderem auf Elend, Krankheit und Tod in der Großstadt konträr den Aufzeichnungen 11-13 an. Wiederholungen dieser Themen sind nicht im stagnierenden Sinne zu deuten, sondern als Erarbeiten einer tiefergehenden Erkenntnis für Malte (Rumold 1979). Dies stellt „einen radikalen Bruch mit dem poetischen Realismus des 19. Jahrhunderts und dem Ästhetizismus der Jahrhundertwende“ (Rumold, 1979, S. 95) hin zur Moderne dar. Jeder Aspekt der Wirklichkeit muss in Maltes neues Bewusstsein einbezogen werden, auch das Hässliche, um sehend zu verstehen. Hieraus ergibt sich ein Umbruch im Werk als Ganzes sowie in Maltes kreativem Schreiben: Vermeintlich negative Bilder werden nicht ausgeschlossen, sondern als Teil des Prozesses aufgefasst, um allgemeine Konventionen zu durchbrechen. Rumold (1979) versteht Malte deswegen als Entwicklungs- und Künstlerroman aus ästhetischer Perspektive.
Maltes Ich-Hülle dient als Werkzeug für den Schreibprozess. „So lassen sich die Aufzeichnungen auch als Protokoll der Arbeit eines Unterbewußtseins lesen [...]“ (Kruse, 1994, S. 172). Um mit allgemein begrenzenden Konventionen zu brechen, bricht er sich selbst: Die Fragmente des Malte können als zum Ziel führender Umbruch gedeutet werden.
[...]
1 Alle Textbelege aus dem Werk sind der kommentierten Ausgabe von Engel entnommen. Der Titel wird künftig mit Malte abgekürzt.
2 Diese Quelle wird bei wörtlich übernommenen Zitaten künftig mit (R., S. x) abgekürzt.
3 (Rilke, 2004, S. 64)