Die bio-psycho-soziale Perspektive auf Anorexia nervosa. Krankheitsbild und Handlungsideen


Hausarbeit, 2018

29 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Fallbeispiel „Anna“
2.1 Problemlage
2.2 Erkrankungsgeschichte und Symptomatik

3. Die biologische Perspektive
3.1 Beschreibung: Symptomatik aus der biologischen Sicht
3.2 Erklärung: Ursachenforschung
3.3 Handlungsideen: Hilfe im medizinischen Setting

4. Die psychologische Perspektive
4.1 Beschreibung: Symptomatik aus der psychologischen Sicht
4.2 Erklärung: Ursachenforschung
4.3 Handlungsideen: Hilfe im psychotherapeutischen Setting

5. Die soziale Perspektive
5.1 Beschreibung: Symptomatik aus der sozialen Sicht
5.2 Erklärung: Ursachenforschung
5.3 Handlungsideen: Hilfe im sozialen Setting

6. Die Betroffenenperspektive

7. Die Angehörigenperspektive

8. Fazit

Literaturverzeichnis

Abbildungsverzeichnis

1. Einleitung

Wenn die Seele hungert, reagiert der Körper mit einer Essstörung! (Simchen, 2016, S.11)

Die vorliegende Hausarbeit bezieht sich auf die psychische Störung Anorexia nervosa, die auch Anorexie oder Magersucht genannt wird, und dessen bio-psycho-soziale Betrachtung. Sie wird in der internationalen Klassifikation der Krankheiten 10 (ICD-10), herausgegeben durch die Weltgesundheitsorganisation, unter dem Kapitel F 50: Essstörungen angeführt (vgl. Dilling & Freyberger, 2016, S.205). Obwohl mittlerweile vermehrt bundesweite Studien zu Adipositas, also Fettleibigkeit, durchgeführt werden, hat die Anorexia nervosa weiterhin gesellschaftliche Relevanz. Die letzte Erhebung im Jahr 2006 zeigte, dass 28,9 Prozent der Mädchen zwischen 11 und 17 Jahren in Deutschland unter einer Essstörung litten (vgl. Robert Koch-Institut, 2006, o.S). Obwohl seit diesem Zeitpunkt keine deutschlandweite Erhebung mehr stattgefunden hat, ist zu vermuten, dass Essstörungen, wie Anorexia nervosa, immer häufiger diagnostiziert werden. Das deutsche Ärzteblatt (2018) betitelte einen Artikel im April diesen Jahres mit: „Essstörungen auf dem Vormarsch“ (o.S.). Unter Versicherten der Krankenkasse Barmer gab es von 2011 bis 2016 einen bundesweiten Anstieg von Diagnosen über 7 Prozent (vgl. Ärzteblatt, 2018, o.S.). Bei Versicherten der AOK Nordost verdoppelte sich in einem Zeitabstand von sechs Jahren die Anzahl der Diagnosen von Essstörungen wie Anorexia nervosa, Bulimia nervosa oder Binge Eating (vgl. Ärzte Zeitung, 2018, S.5).

Auch in den täglich aufrufbaren „p osts “ auf der Plattform Instagram ist eine dünne, ja fast magere Frau keine Seltenheit. Daher rührte mein Interesse an diesem Thema her, da ich mich fragte, ob mehr dahinter steckt, als das Streben nach dem idealen Körper, das in einer psychischen Störung ausartet. Essstörungen wurden in der Forschung lange als Ergebnisse von Beziehungsstörungen und schwer belastenden Ereignissen gedeutet. Mittlerweile gelten die Ursachen als multifaktoriell: die Medizin erhielt Einzug, in dem sie biologische Ursachen mit verantwortlich macht, die Soziale Arbeit betrachtet eine psychisch kranke Person in ihrem Umfeld und dessen Einflüsse auf die Störung. Daher soll in dieser Hausarbeit die biologische psychologische und soziale Sichtweise beleuchtet werden. Ziel ist es, die Anorexia nervosa aus der bio-psycho-sozialen Sicht zu beschreiben, zu erklären und Handlungsideen darzustellen und dies auf das Fallbeispiel zu beziehen. Die Forschungsfrage dieser Hausarbeit lautet daher: Wie lässt sich das Krankheitsbild Anorexia nervosa anhand eines Fallbeispiels aus der biologischen, psychologischen und sozialen Perspektive beschreiben, erklären und welche Handlungsideen lassen sich darin finden? Es existieren bereits schon einige Werke, die diese Sichtweise auf Anorexia nervosa beinhalten, wie zum Beispiel das Buch Klinische Sozialarbeit: Grundlagen und Methoden psycho-sozialer Behandlung von Helmut Pauls (2013) oder das Praxishandbuch Soziale Arbeit mit Menschen mit Essstörungen von Eva Wunderer (2015).

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Da das beschriebene Fallbeispiel ein Mädchen im Alter von 13 Jahren darstellt, soll der Schwerpunkt auf Mädchen in der frühen Pubertät gelegt werden. Vor allem die körperliche Symptomatik bezieht sich daher auf weibliche Betroffene. Die Bezeichnung der betroffenen Mädchen erfolgt entweder in der weiblichen oder neutralen Form. Aus dem gleichen Grund wird die Familie, die in diesem Alter eine wichtige Rolle einnimmt, in der psychologischen und sozialen Sichtweise hervorgehoben. Auf die Schule wird nicht eingegangen, da die Fallperson keine Informationen dazu preisgegeben hat.

Anfangs wird die Problematik des Fallbeispiels Anna, das in Anlehnung an den Fall Cornelia aus dem Buch Essstörungen: eine fallrekonstruktive Studie anhand erzählter Lebensgeschichten betroffener Frauen von Stefanie Richter (2006, S. 150-210) geschrieben wurde, veranschaulicht. Anschließend wird aus jeder Perspektive beschrieben, erklärt und Handlungsideen dargestellt und dies auf das Fallbeispiel bezogen. Anfangs wird die Symptomatik aus der biologischen Sicht beschrieben, nach den Ursachen in der Neurobiologie und Genetik geforscht und Handlungsideen aus der Medizin und Psychiatrie angeschnitten. Im vierten Kapitel wird sich der psychologischen Sichtweise gewidmet. Dabei wird zuerst die Symptomatik geschildert, die Ursachenforschung in der kognitiven Verhaltenstherapie und Psychodynamik getätigt und abschließend die Handlungsideen der Psychotherapie, und besonders der psychodynamischen Therapie, ausgeführt. Daraufhin wird die Symptomatik aus der sozialen Perspektive aufgezeigt, die Ursachen auf die Familie und die gesellschaftlichen Normen bezogen und die Handlungsideen der Klinischen Sozialarbeit und weiteren Hilfsangeboten geschildert. Die Handlungsideen der Sozialen Arbeit erhalten dabei besondere Aufmerksamkeit, da diese Hausarbeit auch die Bedeutung der Essstörung für die Soziale Arbeit darstellen soll. In den letzten zwei Kapiteln steht die Sicht des Fallbeispiels Anna und die ihrer Angehörigen im Vordergrund.

2. Das Fallbeispiel Anna

Das darauffolgende Fallbeispiel ist in Anlehnung an den Fall Cornelia aus dem Buch Essstörungen: eine fallrekonstruktive Studie anhand erzählter Lebensgeschichten betroffener Frauen von Stefanie Richter (2006, S.150-210) geschrieben.1

2.1 Problemlage

Anna steht im Eingang der psycho-sozialen Beratung des örtlichen Krankhauses. Sie ist blass, ihre Wangenknochen treten hervor, ihr Blick ist traurig. Sie stützt sich am Tresen ab und drückt mit ihren Fingern schwach auf die darauf stehende Klingel. Ihr Atem geht schnell und flach. Nach wenigen Minuten erscheint die Sozialarbeiterin Linda Krug und begleitet Anna in einen kleinen Raum. Anna lässt sich auf einen Sessel sinken, atmet tief ein und aus und beginnt leise zu sprechen. Unter Tränen berichtet sie der Sozialarbeiterin, dass sie endlich mit jemandem reden müsse. Sogar jetzt, nachdem sie die ganzen Tabletten ihres Vaters geschluckt hatte, weil sie einfach nicht mehr konnte, wird nicht über ihre Probleme gesprochen.

Ihre Eltern lieferten sie zwar in das Krankenhaus ein aber mit ihr darüber sprechen, das wollten sie nicht. Von ihrer Mutter wird ihr nur eine Reise nach Rom angeboten, ihr Vater erschien erst gar nicht im Krankenhaus (vgl. Richter, 2006, S.165).

Linda Krug möchte von Anna wissen, worüber sie sprechen möchte und in der Familie stattdessen nur geschwiegen wird. Aus dem Gespräch entwickelt sich eine Problemexploration, in der sich herausstellt, dass Anna zuvor in einer psychosomatischen Klinik für Menschen mit Essstörungen behandelt wurde und bei ihr die Essstörung Anorexia nervosa diagnostiziert wurde. In der Klinik wurde sie mit dem verhaltenstherapeutischen Ansatz behandelt. Ihr Essverhalten und ihre Bewegung wurde tagtäglich kontrolliert, so dass sie mit 47 Kilo entlassen werden konnte. Sie berichtet, dass sie dachte die Essstörung überwunden zu haben. In der Klinik lernte sie wie viel Nahrung der Körper braucht, um zu überleben. Daran wollte sie sich halten. In einem schleichenden Prozess begann bei ihrer Rückkehr ein unkontrollierter Bewegungsdrang, den sie als Wahn beschreibt. Die Familie hielt an regelmäßigen Mahlzeiten fest und kontrollierte ihr Essverhalten. Ihre Bewegung wurde nicht im Auge behalten (vgl. Richter, 2006, S.159-164).

Linda Krug lässt sich von Anna ihre Erkrankungsgeschichte erzählen, um Näheres über die Essstörung zu erfahren.

2.2 Erkrankungsgeschichte und Symptomatik

Anna ist eines von vier Kindern eines Regionalpolitikers und einer Schneiderin. Sie wuchs in einem kleinen Ort in Bayern auf. Sie hat zwei größere Schwestern und einen kleinen Bruder. Sie beschreibt sich als unauffälliges, eigentlich zu unauffälliges Kind. Der Vater ist durch seine politische Arbeit viel außer Haus. Wenn er nach Hause kommt ist er meist stark betrunken, was ihr von klein auf Angst machte. Sie beschreibt ihren Vater als einen Menschen mit einer starken Alkoholsucht (vgl. Richter, 2006, S.153). Durch die öffentliche Position des Vaters wird bis heute versucht nach außen ein Bild einer glücklichen Familie unverändert zu erhalten. Allerdings war das massive Trinken des Vaters schon in Annas Kindheit in der kleinen Gemeinde bekannt, wofür sich sie sehr schämte. Anna erzählt, dass in der Familie nicht über Konflikte gesprochen wird, es herrscht eine starke Kontrolle über die Kinder. Zum Beispiel bleibt es ihnen verwehrt sich im Haus zurückzuziehen. Die Geschwister leben alle in einem Zimmer und dürfen im Bad nicht die Türe hinter sich abschließen. In ihrer Kindheit fühlte sich Anna sehr allein, da sie mit ihren Schwestern kein gutes Verhältnis hatte und nicht über Freunde im Ort verfügte. Die große Schwester war sehr schwer krank und benötigte viel Aufmerksamkeit von der Mutter. Schon als kleines Kind versuchte Anna dem Vater aus seiner Alkoholsucht zu helfen. Da sie sehr katholisch erzogen wurde begann sie mit täglichem Beten, suchte dann aber nach anderen Möglichkeiten. Schließlich begleitete sie ihren Vater auf alle öffentlichen Feste, um ihn vom Trinken abzuhalten. Da dadurch großteilig ihre Freizeit bestimmt wurde, hatte sie fast keine Freunde. Sie reagierte schüchtern und verängstigt gegenüber Gleichaltrigen in der Schule (vgl. Richter, 2006, S.154-156). Mit 12 Jahren fand sie schließlich Anschluss zu einer Gruppe von Gleichaltrigen und war viel mit ihnen unterwegs. Allerdings entstand dadurch ein Widerspruch mit ihrer Aufgabe den Vater zu öffentlichen Veranstaltungen zu begleiten. Damit entstand eine Spannung zwischen ihren Wünschen sich von der Familie zu lösen und selbstständig zu sein und ihrem Verantwortungsbewusstsein gegenüber dem Vater und der Familiennähe. Anstatt offen darüber zu kommunizieren wurde auch dieses Problem tot geschwiegen, da Anna das Gefühl hatte mit niemandem darüber reden zu können. Im gleichen Jahr ging sie auf ein Ferienlager. Sie war für ihr Alter sehr groß und dadurch relativ schlank, was andere Kinder dazu brachte sie zu hänseln. Durch die erst kürzlich geschlossenen Freundschaften und die dadurch erst geringen Erfahrungen mit Gleichaltrigen, konnte sie die Verspottungen nicht einordnen. Sie erzählt, dadurch einen Schaden davon getragen zu haben und seitdem kein normales Verhältnis zum Essen mehr zu haben. Die beginnende Pubertät unterstützte dies durch die Verunsicherung gegenüber dem eigenen Körper (vgl. Richter, 2006, S.156-157). Sie erzählt, wie sie nach der Zeit im Ferienlager nicht mehr sorgenlos essen konnte. Ihre Gedanken kreisten nur noch um das Essen. Sie beschreibt sich selbst Vorwürfe gemacht zu haben, weil sie zu viel oder zu viel Süßes gegessen hatte und davon dominiert wurde. Sie konnte sich nicht dagegen wehren, so sehr sie auch wollte (vgl. Richter, 2006, S.158). Schließlich aß sie fast gar nichts mehr und fastete tagelang. Gleichzeitig begann sie damit sich zunehmend auf sich selbst zu konzentrieren. Die Konflikte und Probleme in der Familie waren ihr nicht mehr so wichtig. Sie sah ein, dass ihre Anstrengungen den Vater vom Trinken abzuhalten ohne Erfolg waren und sie ihn nicht ändern konnte. Durch die Konzentration auf das Essen und auf sich zog sie sich immer weiter zurück und hatte keinen Kontakt mehr zu Gleichaltrigen (vgl. Richter, 2006, S.158-159). Sie betont, dass sie mit dem hohen Gewichtsverlust plötzlich Aufmerksamkeit bekam. Von der Lehrerin und vor allem von ihren Eltern, die zuvor keine ihrer Probleme wahrgenommen hatten (vgl. Richter, 2006, S.160).

Sie kann sich nicht mehr genau erinnern wie es dazu kam, aber ein paar Wochen später befand sie sich in einer psychosomatischen Klinik. Seit der Klinik weiß sie, dass sie essen muss. Aber eigentlich will sie nicht.

Sie erzählt, sie empfindet eine Stärke, wenn sie keinen Hunger hat und nichts essen muss. Es baut sie auf und lässt sie Stolz empfinden. Das heimliche Sporttreiben löste nach ihrer Heimkehr das Hungern zwangsläufig ab (vgl. Richter, 2006, S.202).

Die Familie kontrolliert bis zu ihrem Zusammenbruch ihr Essverhalten und zwingt sie bei jeder Mahlzeit teilzunehmen. Äußerlich ist sie angepasst. Sie isst mit aller Mühe das, was ihre Eltern von ihr verlangen. Innerlich ist sie eine Getriebene, die nach Strategien sucht die Kalorien so schnell wie möglich loszuwerden. Ihr jetziges Gewicht empfindet sie als zu viel. Sie will leichter werden, findet sich dick.

Sie beschreibt, wie sie zu Mittag isst und danach sofort auf das Fahrrad steigen muss, weil sie einen vollen Bauch hat. Zuerst waren es 40 Kilometer, dann 50, bis hin zu 100 Kilometer, die sie radelt. Zusätzlich läuft sie exzessiv auf dem Sportfeld. Sie steht dafür früh auf, egal bei welchem Wetter und läuft heimlich ihre Strecke, bevor die Familie aufwacht. Der exzessive Sport beansprucht ihre volle Aufmerksamkeit, sie ist abgesondert von Gleichaltrigen. Das geht so lange, bis sie den Kontrollverlust klar wahrnimmt, aber nicht entgegenwirken kann. Sie kommt in ein Befinden der totalen Erschöpfung und will nichts mehr fühlen (vgl. Richter, 2006, S.163-164).

Im Folgenden werden die biologische, psychologische und soziale Perspektive und dessen Ansätze darauf analysiert, ob sie für Anna nützlich sein könnten.

3. Die biologische Perspektive

In diesem Kapitel wird die Anorexia nervosa unter biologischen Gesichtspunkten betrachtet. Die Abmagerung und deren körperlichen Folgen sowie dessen Behandlung stehen dabei im Vordergrund. Die möglichen Ursachen werden aus der neurobiologischen und genetischen Sicht betrachtet.

3.1 Beschreibung: Symptomatik aus der biologischen Sicht

Nach der ICD-10 ist der deutliche Gewichtsverlust das Hauptkriterium A. und Folge der Erkrankung Anorexia nervosa. Das Gewicht ist nach der ICD 10 unter 15 Prozent des, für das Alter und die Körpergröße gewöhnlichen, Normalgewichts. Der Gewichtsverlust ist selbst herbeigeführt, was das Kriterium B. darstellt (vgl. Dilling & Freyberger, 2016, S. 205). Die Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (DSM-5), die ein amerikanisches psychiatrisches Klassifikationssystem darstellt, beschreibt Kriterium A. folgendermaßen: „Eine in Relation zum Bedarf eingeschränkte Energieaufnahme, welche [...] zu einem signifikant niedrigen Körpergewicht führt (Falkai, 2015, S.463). Das heißt der Gewichtsverlust ist zurückzuführen auf das Reduzieren von Kalorien oder gar ein ganzer Verzicht auf Essen. Von manchen Betroffenen werden andere Maßnahmen wie zum Beispiel das Verwenden von Abführmitteln, Erbrechen oder übertriebene körperliche Aktivität angewendet (vgl. Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung, 2010, S.40). Nach dem Body Maß Index (BMI) kann das Gewicht in Relation zur Größe ermittelt und damit ein mögliches Untergewicht ersichtlich werden. Bei Kindern und Jugendlichen kommt es bei einer Anorexia nervosa oft nicht zu einer Gewichtsabnahme, sondern sie nehmen mit wachsendem Alter und Größe nicht an Gewicht zu (vgl. Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung, 2010, S. 38-40)2.

Die Folgen der Magersucht sind weitreichend und unterschiedlich. Dem Organismus fehlen Nährstoffe und Energie, was zum Absinken der Vitalzeichen führen kann, das Blut langsamer zirkulieren lässt, die Körpertemperatur sinken lässt. Die niedrige Temperatur bringt dauerndes Frieren mit sich. Die Verdauung ist verlangsamt, was dazu führt, dass schon bei geringen Mengen an Essen ein Völlegefühl und Schmerzen entstehen. Es kommt zu Herz-Kreislaufproblemen und Ohnmacht. Das Hungern schwächt den Hormonhaushalt, was zum Ausbleiben der Periode oder bei Erkrankung vor der Pubertät fehlendem Einleiten der Periode führen kann, was das Kriterium D. der ICD-10 darstellt. Langfristig kann eine Osteoporose, also ein irreversibler Knochenschwund entstehen. Besonders für Jugendliche ist das folgenreich, denn über 50 Prozent der Knochenmasse wird vor oder während der Pubertät erzeugt. Schließlich werden alle Organe in Mitleidenschaft gezogen (vgl. Nolte, 2013, S. 32-34). Laut Raabe kam man bei einer Langzeitstudie zum Ergebnis, dass 15 Prozent der erkrankten Menschen den Folgen der Anorexia nervosa erliegen (vgl. Raabe, 2009, S.8). Im Folgenden wird die körperliche Symptomatik des Falles Anna geschildert.

Linda Krug sichtet nach dem Gespräch Annas Krankenmappe. Ihr körperlicher Zustand war während des Besuches in der psychosomatischen Klinik besorgniserregend. Bei einer Größe von ungefähr 1.57 cm wog sie nur noch 29 Kilo. Während der jetzigen stationären Aufnahme hat sie ein Gewicht von 37 Kilo. Nach dem BMI- Rechner der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung hat Anna einen BMI von 15 und damit starkes Untergewicht (vgl. Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung, o.D., o.S.). Ihre Menarche, also das erstmalige Auftreten ihrer Periode, ist noch nicht aufgetreten. Sie befindet sich in einer totalen Erschöpfung. Ihr Körper ist ausgelaugt, ihre Nerven und Muskeln geschädigt, sie hat Herz-Kreislaufprobleme. Mit 37 Kilo erfüllt sie nicht das Kriterium der ICD 10, 15 Prozent unter dem Normalgewicht zu wiegen. Allerdings ist sie 13 Jahre alt und damit in der Pubertät, was zu einer ausbleibenden Zunahme führen kann. Dies wurde am Anfang des Kapitels geschildert. Zudem wurde sie durch das täglich aufgezwungene Essen mit Nährstoffen versorgt, was trotz des exzessiven Trainings für das Gewicht sprechen könnte. Des weiteren wurde vermerkt, dass sie einen Zusammenbruch erlitt und dadurch vermutlich Suizid begehen wollte. Darauf müsste gesondert eingegangen werden. Untersuchungen zeigen einen Mangel an den Botenstoffen Serotonin, Noradrenalin und Dopamin.

Linda Krug erinnert sich an Annas Worte und wie sie erzählt, dass sie ihren Schlaf reduziert und schon in den frühen Morgenstunden rennt (siehe Fallbeschreibung). Nach der DSM 5 zeigt eine Untergruppe von Betroffenen „ ein übertriebenes Ausmaß an körperlicher Aktivität“ (Falkai, 2015, S.463) Laut Gerlinghoff und Backmund (2004) geschieht das meist dann, wenn Betroffene von zu Hause aus oder in ihrer Therapie zum regelmäßigen Essen gedrängt werden (S.40). Das bestätigt der Fall Anna. Die erzwungene Nahrungsaufnahme soll so schnell wie möglich durch exzessives Training verbrannt werden. Darüber hinaus sollen mehr Kalorien verbrannt als gegessen werden, „[...] [es ist das Ziel] eine sogenannte Minusbilanz zu erzielen“ (Gerlinghoff & Backmund, 2004, S.40). Im Folgenden werden die Ursachenansätze der Neurobiologie und Genetik für die psychische Erkrankung Anorexia nervosa dargelegt.

3.2 Erklärung: Ursachenforschung

Die Neurobiologie liefert Erkenntnisse zur biologischen Ursache von Anorexia nervosa. In ihrem Buch Essstörungen und Persönlichkeit plädiert Simchen (2016) 3 dafür, dass eine „genetisch bedingte Störung der Informationsverarbeitung eine ganz bestimmte Persönlichkeitsvariante“ (S.26) prägt, die zur Anorexia nervosa führen kann. Die gestörte Informationsverarbeitung beeinflusst die Verletzlichkeit und führt zum Absenken der Belastungsschwelle gegenüber sozialen Reizen. Sie nennt das die „ angeborene Verletzlichkeit 1 (Simchen, 2016, S.30) und die Anfälligkeit an Dauerstress zu leiden.

[...]


1 Um die Krankheit Anorexia Nervosa in der frühen Pubertät beschreiben zu können und Cornelia bis ins Alter von 39 Jahren beschrieben wurde, wird der hier geschilderte Fall auf ihre Kindheit und beginnende Pubertät bis zum Alter von 13 Jahren minimiert. Die Familiensituation und die Probleme mit Gleichaltrigen wurden bis zu diesem Alter übernommen . Um darzustellen, dass das Fallbeispiel vielschichtig verändert wurde, wird der Name in Anna geändert. Die Informationen, die dem Buch entnommen wurden, werden mit einem Kurzbeleg versehen.

2 Auf den Body Maß Index kann nicht weiter eingegangen werden, da für Kinder und Jugendliche wie auch für Erwachsene keine einheitlichen Standards bestehen, mit denen entschieden werden kann, ob ein Untergewicht besteht (vgl. Falkai, 2015, S.465). Die Diskussion darüber würde den Rahmen sprengen.

3 Leider kann in diesem Unterkapitel nicht auf die Pubertät eingegangen werden, da dazu keine geeignete Literatur gefunden werden konnte.

Ende der Leseprobe aus 29 Seiten

Details

Titel
Die bio-psycho-soziale Perspektive auf Anorexia nervosa. Krankheitsbild und Handlungsideen
Hochschule
Hochschule Esslingen
Veranstaltung
Entwicklung unter Risikobedingungen
Note
1,3
Autor
Jahr
2018
Seiten
29
Katalognummer
V985701
ISBN (eBook)
9783346343260
ISBN (Buch)
9783346343277
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Anorexia Nervosa, bio-psycho-soziale Perspektive, Fallbeispiel, biologische Perspektive, psychologische Perspektive, soziale Perspektive, Symptomatik aus sozialer Sicht, Symptomatik aus psychologischer Sicht, soziale Ebene, Symptomatik aus biologischer Perspektive, Ursachenforschung, Handlungsideen, multifaktorielle Ursachen, Mädchen in der frühen Pubertät, Mädchen, Handlungsideen der Sozialen Arbeit, Soziale Arbeit, Hilfe von Sozialer Arbeit
Arbeit zitieren
Lauren Rombach (Autor:in), 2018, Die bio-psycho-soziale Perspektive auf Anorexia nervosa. Krankheitsbild und Handlungsideen, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/985701

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