Demosthenes-Rezeption von der Antike bis heute


Hausarbeit (Hauptseminar), 2000

13 Seiten


Leseprobe


1. Antike

Das Ansehen des Demosthenes war durch die gesamte Antike dadurch geprägt, dass seine rednerische Fähigkeit durchweg höchst positiv beurteilt wird, sein politisches Wirken allerdings überwiegend negativ.1

1.1 Zeitgenossen

Aus den überlieferten Zeugnissen geht hervor, dass Demosthenes zu Lebzeiten großen Eindruck auf seine Zeitgenossen gemacht hat; meist handelt es sich hierbei um zusammenhanglose, gelegentliche Aussagen, die sich vor allem mit dem lebendigen Sprecher auseinandersetzen und sich weniger auf niedergeschriebene Reden beziehen als auf den persönlich erlebten Redner. Daher finden sich auch weniger stilkritische Ansätze als in späteren Jahrhunderten.

Bei den zeitgenössischen Zeugnissen haben wir es meistens mit einer „Mischung von verborgener Anerkennung, offener Herabsetzung und kühler Zurückhaltung“2 zu tun. Vor allem sind hier seine Rhetorenkollegen und insbesondere die überlieferten Reden des Aischines zu nennen. In der Rhetorik des Aristoteles spielt Demosthenes keine Rolle - nicht ein Demosthenes-Zitat findet sich, eventuell durch Aristoteles‘ Nähe zu Philipp und Alexander.3 Alle anderen Rhetoren erkannten, wenn auch mitunter widerwillig, seine Fähigkeiten als Redner an, auch wenn er als schlechter Politiker angesehen wurde.4

Sprachlich übte Aischines Kritik an Demosthenes‘ gekünstelter Wortwahl, an seinem antithetischen Satzbau und an seiner unnatürlichen Vortragsweise.5

Die rhetorische Grundeinstellung zu jener Zeit hatte eindeutig das Einfache und Natürliche als Ideal, ungewöhnliche Wörter und Wortzusammensetzungen sollten vermieden werden.6

Allgemein wurde die Wertschätzung des Demosthenes bei seinen politischen Gegnern durch seine Wirkungskraft als Redner getragen; die Ablehnung, die er von ihnen erfuhr aber durch persönliche und politische Gegnerschaft.7 Im Gegensatz dazu steht das Urteil anderer Literaten und Redner, die ihn zu Lebzeiten durchweg positiv beurteilten; so z.B. Aision, von dem wir das erste Zeugnis über niedergeschriebene und veröffentlichte Demosthenes-Reden besitzen.8

1.2 Hellenismus

In der frühhellenistischen Zeit geriet Demosthenes fast in Vergessenheit.

Ursache dafür war vor allem, dass seit dem dritten Jahrhundert die Philosophie in der Bildung und Erziehung einen weit höheren Stellenwert einzunehmen begann als die Rhetorik, Ausgangspunkt dafür war der Einfluss des Peripatos.9

Kallimachos nahm zwar Demosthenes‘ Reden in die alexandrinische Bibliothek auf und katalogisierte sie, woraus hervorgeht, dass er sie zumindest auch gelesen hat. Inwieweit Demosthenes aber bei den alexandrinischen Gelehrten in Ansehen stand, lässt sich nicht mehr ermitteln; lediglich von Eratosthenes ist bei Plutarch überliefert, dass er ihn als par£bakcoj10 („quasi-bacchisch“) bezeichnet haben soll, was wohl auf sein Pathos abzielte. Da sich die Alexandriner aber in erster Linie mit philosophischen Fragen auseinandersetzten und keinen der attischen Redner wissenschaftlich untersuchten,11 ist das mangelnde Interesse Demosthenes gegenüber doch nachvollziehbar.12

Anders ist es in den athenischen Rhetorenschulen; von dort ist zwar bezeugt, dass es Kreise gibt, die sich offen gegen Demosthenes und zu Lysias oder Isokrates bekannten; die Nachahmung und Fälschung demosthenischer Reden zeigt jedoch, dass er trotzdem eine große Zahl von Bewunderern hatte.13

Mitte des zweiten Jahrhunderts wandelte sich das Demosthenes-Bild und erfuhr eine breitere und günstigere Beurteilung, uzw. ausgerechnet durch die Philosophie. Der Streit zwischen der Philosophie und der Rhetorik um das Bildungsmonopol entbrannte erneut, und der Rhetorik wurde allgemein die Bedeutung als tšcnh abgesprochen14 ; diesmal führte man Demosthenes jedoch durchweg als positives Beispiel an und nannte ihn oft in einer Reihe mit Namen wie Perikles und Thukydides15, was ihn zwar indirekt, aber doch deutlich als ausgesprochen positives Beispiel charakterisiert.

Innerhalb dieses Streites sah die Rhetorik selbst Demosthenes als zugkräftiges Beispiel und heroisierte ihn, ohne seine tatsächlichen politischen Erfolge überhaupt zu berücksichtigen, da gleichzeitig das geschichtliche Bewusstsein immer mehr abnahm.16

1.3 Erstes Jahrhundert v.u.Z.

Der überwiegende Teil uns erhaltener antiker Urteile über Demosthenes stammt aus der zweiten Hälfte des 1. Jh. v.u.Z., von Cicero und Dionysios Halikarnassos; Demosthenes war, wie gezeigt werden wird, bei beiden, wie wohl auch in deröffentlichkeit jener Zeit,17 der bedeutendste und angesehenste aller Redner.

1.3.1 Cicero

Cicero sieht Demosthenes deutlich als vollkommenen attischen Redner. Die Stellen, in denen Demosthenes gewürdigt wird, sind zahlreich und in seinen sämtlichen rhetorisch-kritischen Schriften zu finden18 ; so im Orator, im Brutus, in de oratore und in de optimo genere orationis: Cicero bezeichnet ihn z.B. als perfectum et cui nihil admodum desit19, princeps oratorum20 oder eloquentissimus21.

Im Orator stellt Cicero sein Ideal des Redners auf: Es gibt drei genera dicendi: den „niederen“ Stil (genus subtile dicendi), den „hohen“ Stil (grave) und den „mittleren“ (mediocre)22. Diesen sind die drei officia oratoris zugeordnet: probare, flectere und delectare.23 Der ideale Redner besitzt hiernach die Fähigkeit, alle drei Stilarten je nach Lage und Umstand mit Erfolg anzuwenden, und Cicero sieht diese Forderung bei Demosthenes am weitestgehenden erfüllt: multae sunt eius totae orationes subtiles, (...) multae totae graves, (...) multae variae24. Vor allem ist er als Redner gravis acer ardens25, und dieses Pathetische ist für Cicero summa vis dicendi, aber auch in allen anderen stilistischen Merkmalen26 ist er für ihn der herausragende Redner.

Der erste Platz, der Cicero Demosthenes einräumte, ist freilich nur auf die praktische Rede beschränkt. Gerade im Vergleich zu Platon wird deutlich, dass er Demosthenes‘ Platz und stilistische Bedeutung gegenüber der Philosophie deutlich abgrenzte.27

Trotz allem charakterisiert er ihn nicht als vollkommenes Ideale; eine Kritik, die wir bei Cicero an Demosthenes finden, ist: non semper implet auris meas28, und aus Plutarch erfahren wir von einem Brief, in dem Cicero geschrieben haben soll, dass er glaube, dass Demosthenes beim Reden manchmal eingenickt sei: ™niaxoà tîn lÒgwn Øponust£zein tÕn Dhmosqšnhn29.

1.3.2 Attizismus

Die Zeit des Attizismus war geprägt durch die Suche nach dem verloren gegangenen reinen attischen Griechisch; daher verwundert es nicht, dass die Beschäftigung mit Demosthenes in erster Linie eine mit seinem Stil war.30 Eine herausragende Rolle hierbei spielt Dionysios Halikarnassos, der um 30 v.u.Z. nach Rom kam.

Vor allem sei hier seine Schrift perˆ tÁj Dhmosqšnouj lšxewj zu nennen, eine umfassende sprachliche Untersuchung der Reden des Demosthenes mit dem Ziel, seine stilistische Perfektion aufzuzeigen.31 Dionysios charakterisiert Demosthenes als Vollender der mšsh lšxij, der idealen Mitte zwischen dem „hohen“ Stil des Thukydides32 und dem „niederen“ Stil des Lysias33, obwohl er eigentlich nicht in das Schema einzuordnen sei, sondern in gewisser Weise über ihm stehe: Er verkörpere nicht einen bestimmten Stil, sondern beherrsche Elemente aller Stile, um sie je nach Gegebenheit anzuwenden,34 was auch Cicero schon hervorgehoben habe. Im Gegensatz zu Cicero aber, der Demosthenes nur im Gebiet der praktischen Rede den ersten Rang zuweist, ist er für Dionysios der größte griechische Prosaiker überhaupt.35 Dass Dionysios wiederum nirgends in seiner Beurteilung Bezug nimmt auf Cicero, legt nahe, dass beide in ihrer Einschätzung auf eine gewisse Tradition im Hellenismus zurückblickten und Dionysios nicht lediglich ciceronisches Gedankengut übernommen hat.36

Die sachliche Seite seiner Reden lässt Dionysios hier unbeachtet, weist aber darauf hin, dass ein Sonderabschnitt darüber folgen werde; dazu ist es aber wohl nicht gekommen.37 Unzweifelhaft ist in der vorliegenden Schrift aber auch, dass Dionysios Halikarnassos Demosthenes auch im Sachlichen als leuchtendes Beispiel sah.38

Der Unterschied in der Beurteilung von Demosthenes durch Dionysios

Halikarnassos gegenüber der ciceronischen besteht darin, dass Dionysios sein Rednerideal vollkommen durch Demosthenes verkörpert sieht, Cicero aber sein Bild vom idealen Redner in der Welt nicht verwirklicht findet.

Trotzdem steht bei beiden Demosthenes als bedeutendster attischer Redner da.39

Auch bei Caecilius Calactinus, zusammen mit Dionysios Halikarnassos Begründer des literarischen Attizismus, genoss Demosthenes hohes Ansehen. Das geht allein daraus hervor, dass er in zwei Traktaten eine Synkrisis des Demosthenes mit Cicero und eine mit dem damals hoch angesehenen Aischines anstellt; auch wenn der Inhalt dieser Schriften nicht überliefert ist, so lässt doch allein diese Tatsache den Schluss zu, welche Wertschätzung Caecilius ihm gegenüber anbringt,40 auch wenn er im Sprachlichen eher ein größerer Verehrer des Lysias gewesen zu sein scheint. Viel mehr lässt sich auf Grund der schlechten Überlieferungslage kaum sagen.41

Die Idealisierung des Demosthenes im 1. Jh. wirft die Frage auf, inwieweit sich Dionysios und auch Cicero auf ältere Quellen beriefen, die verloren sind. Die bei Cicero hochentwickelte Stilkritik legt nahe, dass er auf griechische Vorbilder zurückgreift, auch wenn er und Dionysios Halikarnassos viele ihrer Urteile aus eigener Beschäftigung mit den Reden des Demosthenes gezogen haben mögen.42 Direkt überliefert sind uns keine solcher Quellen.43

2. Mittelalter

Im Mittelalter kam die Beschäftigung mit den klassischen Autoren erst im Byzanz des 9. Jh. zu einer Blüte; vom 9. bis 11. Jh. sind drei fast vollständige Demosthenes-Handschriften erhalten und fünf weitere, die große Teile enthalten - mehr als von jedem anderen attischen Redner. Die byzantinischen Gelehrten beschäftigten sich nicht eingehender mit Demosthenes, aber ihnen ist es zu verdanken, dass das Europa des 14. und 15. Jh. Material erhielt, um sich mit ihm zu befassen.44

3. Humanismus

Die Beschäftigung mit Demosthenes im Zeitalter des Humanismus begann mit dem Wirken des griechischen Gelehrten Chrysoloras, der ab 1396 in Italien als erster Professor der Griechischen Sprache in Westeuropa tätig war. Er las über Demosthenes, und es ist wahrscheinlich, dass er die erste Demosthenes- Handschrift in den Westen mitgebracht hat.45 Es folgten erste Übersetzungen ins Lateinische, und 1423 sind schließlich alle Reden in Italien vorhanden. Die besondere Wertschätzung von Demosthenes als beispielhaftem Redner setzte sich in der Renaissance in der Weisen fort, wie sie bei Cicero und Dionysios Halikarnassos zu sehen war. Was für das Lateinische Vergil und Cicero, waren für das Griechische Homer und Demosthenes.46 1470 fand sich das erste markante Beispiel einer Anwendung demosthenischer Reden im politischen Geschehen der Moderne: Der Patriarch von Konstan- tinopel, Bessarion, lies eine lateinische Übersetzung der ersten olynthischen Rede veröffentlichen als Aufruf an die Christen der west- und oströmischen Kirche, sich gemeinsam den Türken entgegenzustellen.47

In Deutschland, England und Frankreich dauerte es einige Zeit, bis die Gräzistik Fuß fassen konnte. Aber auch hier kam Demosthenes von Anfang an eine bedeutende Rolle zu: Die erste datierte Übersetzung eines griechischen Werkes in die deutsche Sprache war die Übersetzung der ersten olynthischen Rede durch Johannes Reuchlin aus dem Jahre 1495; 1524 dann übersetzte Melanchthon mehrere Reden des Demosthenes ins Lateinische.48

1572 erschien die Demosthenes-Ausgabe von Hieronymus Wolf in Basel, die sowohl in der Beschäftigung mit Demosthenes als auch in der klassischen Philologie allgemein eine große Leistung darstellte: Die Ausgabe enthielt den Text aller Reden, eine komplette lateinische Übersetzung, Prooemium, Demosthenes-Biographie und alte sowie neue Anmerkungen zum Text.49 Bis ins 19. Jh. war diese Ausgabe die maßgebliche Textgrundlage für jede Beschäftigung mit Demosthenes.50

4. Demosthenes im 18. Jahrhundert

Im 17. Jh. erlebte die angewandte Rhetorik, die schon im Mittelalter eine herausragende unter den sieben Künsten gewesen war, eine neue Blüte. Doch waren die Vorbilder, auf die man sich berief, in der Hauptsache lateinische: Cicero und Quintillian.51 Mit Beginn des 18. Jh. aber fand Demosthenes wieder mehr Interesse bei den Gelehrten; diese Zeit war vor allem dadurch geprägt, dass man versuchte, die klassischen Redner und ihren Stil auf die moderne Rhetorik zu übertragen, teils als Vorbild, teils, um sich abzugrenzen.52

4.1 Deutschland

In Deutschland gingen die Meinungen über die Redekunst des Demosthenes und ihre Anwendbarkeit auf die moderne Rhetorik weit auseinander.

Christian Weise stellte das „dauernde Üben an Beispielen“53 über die Regeln der antiken Vorbilder:

Wenn Demosthenes oder Cicero etwas von der neuen Welt, von dem König in China, vom Tabak, von der Seide u. d. g. hätte reden sollen, es würde trefflich gemangelt haben; nicht als wären sie in der Kunst unvollkommen, sondern weil sie etwas unbekanntes unter die Hände bekommen hätten, davon sie keine Nachricht einziehen und also dem Subjecto keine prädicata zutheilen können. 54

Die Bedeutsamkeit des Demosthenes wird hier nicht bezweifelt, wohl aber die Anwendbarkeit seiner rhetorischen Techniken moderne Rhetorik. Der Grund hierfür lag zum Teil in einem Streben nach nationaler Emanzipation, zum Teil in einer ausgesprochenen Verbundenheit mit der aufgeklärten Gegenwart; allem gemeinsam war aber eine Ausrichtung der rhetorischen Theorie auf den sofortigen Gebrauch.

Im Gegensatz dazu vertrat J. C. Gottsched in seinem Werk „Grundriß einer vernunfftmäßigen Redekunst“ (1729) die Ansicht, solches Bemühen stehe der Ausbreitung des Geschmacks nicht wenig im Wege 55 und bemerkte, daßwenn gleich allesübrige heutiges Tages zu größ erer Vollkommenheit gediehen wäre, wenigstens die Beredsamkeit mehr in Abnahme gerathen als gewachsen sey 56 .

Sein Anliegen ist es, unsern Deutschen nur zu zeigen, wie die gesunde, starke und natürlich schöne Beredsamkeit der Alten aussähe 57 .

Dazu führt er in erster Linie Demosthenes als Beispiel an.58

Gottsched stellte jedoch eine Ausnahme dar: Auch im weiteren Verlauf des 18. Jh. „war das teutsch-aufklärerische Bewusstsein zu stark, als dass sie die Vorbilder aus der Antike ihrer Aufmerksamkeit für würdig erachtet hätten“59.

Anders war es im kirchlichen Bereich: Hier begann man Ende des 18. Jahr- hunderts in Deutschland, wie auch in Frankreich60, Demosthenes als Vorbild auch für die Kirchenrede anzusehen; dies führte allerdings dazu, dass man die demosthenischen Reden gar nicht mehr als politisches Werkzeug in seinem Bedeutungszusammenhang ansah und historisch-kritisch behandelte. Demosthenes erschien schließlich nur noch, wie F. W. Lomler, Superintendent in Heldburg 1826 schrieb, als wahrhaftig weise und darum auch sittlich rein, sittlich kräftig und thätig - mit einem Wort kalokagaq Ò j 61 .

4.2 Frankreich

Nach der Entdeckung der griechischen Literatur in Frankreich durch den Humanismus wurde Isokrates im 17. Jh. zum Stilvorbild der Rhetorik62, der oft bis ins Detail nachgeahmt wurde. Am Ende des Jahrhunderts jedoch scheint sein Stil mehr und mehr als zu gleichförmig und temperamentlos angesehen worden zu sein63 ; Fénelon kritisierte ihn in dieser Weise „Dialogues sur l’Eloquence“ (ca. 1686, veröffentlicht 1718) und empfahl „nachdrücklich Demosthenes als Vorbild“64. Fénelon sah die Redekunst in Frankreich in den „Äußerlichkeiten einer gefälligen Form erstarrt“65 und sah gerade die Natürlich- keit des Demosthenes als großen Vorzug, den die zeitgenössischen Redner sich aneignen sollten.66

Diese Meinung Fénelons wurde allerdings nicht von vielen Zeitgenossen geteilt. Einerseits störte sich der Klassizismus, der den Stil des Isokrates hochgehalten hatte, an der Rohheit und Wildheit der demosthenischen Ausdrucksweise und bevorzugte die ciceronischen Reden als Vorbild.67 Andererseits wandte sich die französische Aufklärung von den antiken Vorbildern allgemein ab; man war durch die Idee des Fortschrittes der Menschheit der Überzeugung, dass „die Werke der Alten infolge ihres zeitlich früheren Standortes in der Entwicklung des Geistes gar nicht anders können als den Werken der Modernen unterlegen sein“68.

In diese Richtung ging auch das Demosthenesbild, das während der Französi- schen Revolution vorherrschte. Obwohl eigentlich zu erwarten wäre, dass der gegen den Tyrannen redende demokratische Demosthenes für die Volksredner der Revolution als Vorbild hätte dienen können, verhielt es sich genau um- gekehrt. Eine grundsätzliche Ablehnung der antiken Vorbilder war, anders als zu Beginn des 18. Jh., nicht auszumachen: Cicero wurde oft zitiert. Was bei Demosthenes jedoch negativ auffiel, war die Demagogie. Der Philosoph Condorcet sprach im April 1792 vor der Nationalversammlung davon, dass die demagogische Beredsamkeit des Demosthenes vor der National- versammlung gefährlich sei, da ihr „Pathos geeignet ist, die Vernunft der Abgeordneten zu überspielen“69.

Die Gegner der Revolution benutzten Demosthenes nun ihrerseits, um Politik zu betreiben und sahen ihn als rednerisches Gegenstück zur „schmeich- lerischen Demagogie“70 der Revolutionäre. So wurde Demosthenes in der Französischen Revolution gerade zum Werkzeug derer, denen er politisch am wenigsten hätte nahe stehen können.

4.3 England

In England wuchs, ähnlich wie in Deutschland, die Beschäftigung mit der griechischen Literatur im 18. Jahrhundert sprunghaft an, was sich am Beispiel der Zahl der Demosthenes-Ausgaben belegen lässt: Vier Ausgaben im 16. Jh. und sieben im 17. Jh. stehen im 18. Jh. 29 Einzel- und zwei Gesamtausgaben gegenüber, ähnlich der Anstieg der herausgegeben Übersetzungen.71 Dabei handelte es sich weitgehend um den Text, den Wolf 1572 herausgegeben hatte; es ging den Philologen jener Zeit also offenbar weniger um eine Revision des Textes als um seine große Verbreitung. Und im parlamentarischen England fiel die Beschäftigung mit Demosthenes folgerichtig auf den fruchtbarsten Boden.72 Bezeichnend hierbei ist, dass die Demosthenes-Ausgaben in Deutsch- land im allgemeinen befreundeten Philologen, in Frankreich dem König, in England aber vorwiegend Politikern gewidmet wurden.73

Außenpolitisch ließen sich die demosthenischen Reden gut anwenden: Man verglich die Situation Englands gegenüber Frankreich mit der Athens gegenüber Makedonien;74 Redner des Oberhauses wie William Pitt und Edmund Burke wurden Anfang des 18. Jh. als neue Demosthenen gefeiert75. Auch in der Politik wurde Demosthenes jedoch, ähnlich wie bei den französischen Royalisten, eher missbraucht als gebraucht: Im Kampf zweier Monarchien über die Vormachtstellung in Europa war der demokratische Freiheitskämpfer schlecht unterzubringen. Daher ging man dazu über, in Übersetzungen den demosthenischen Text soweit zu verfremden, dass er der aktuellen politischen Lage gerecht wurde. Vor allem wurden die Zustände in den Houses of Parliament angegriffen und dazu der Text der alten Reden geradezu verfälscht.76 Bemerkenswert ist allerdings, dass dabei im Grunde mehr vom Original bestehen bleiben konnte als in der Anwendung seiner Reden als bloße Stilmittel-Lehrstücke für Reden aller Art, wie es gleichzeitig in Deutschland und Frankreich der Fall war. Denn man begriff hier die politischen Reden als wirkliche Mittel politischer Agitation und wandte sie als solche an.77

Überhaupt nahm man in England am bereitwilligsten Demosthenes als Vorbild für die Redekunst an, da man stets der Meinung war, wie Leland es ausdrückt (im Vorwort seiner englischen Übersetzung von 1756-7778 ):

Demosthenes cannot be always even understood but in a country of liberty. 79

Und als solches Land sah England sich in dieser Zeit stets. Wiederum wurden die negativen Ergebnisse der Politik des Demosthenes nicht beachtet: Es war die demokratische Gesinnung, durch die die Engländer sich mit ihm verwandt fühlten.

Trotzdem gab es auch leichte Kritik: Francis schrieb in seiner Übersetzung vom Ende des 18. Jh., Demosthenes habe zumindest die Lage Athens zu seiner Zeit falsch eingeschätzt; dieses war der erste Schritt hin zu einer wirklich historischen Einschätzung und Würdigung des Demosthenes80, wie sie sich schließlich im 19. und 20. Jahrhundert herausgebildet hat.

5. Gegenwart: 19. / 20. Jahrhundert

Im 19. Jh. war die Demosthenesforschung schließlich bei einer mehr objektiven Sichtweise angelangt. Neue Ausgaben boten eine bessere Sicht des über- lieferten Textmaterials, und Studien zur antiken Politik und dem antiken Rechtssystem halfen beim Verständnis der demosthenischen Reden.81

Wiederum war es in England, wo die Beschäftigung mit Demosthenes zu Beginn des 19. Jh. am meisten blühte. Junge Männer, die von Eton nach Oxford oder Cambridge gingen, waren gut in Latein und Griechisch ausgebildet, und jeder, der eine Stellung imöffentlichen Leben anstrebte, las selbst- verständlich Cicero und Demosthenes, um sich in deröffentlichen Rede zu üben.82 Mit England als Vorbild fanden beide auch in Amerika ihren Platz an den Colleges, wenn auch in weit kleinerem Maßstab als in Europa.83 Im Verlauf des 19. Jh. jedoch ging das Interesse an Demosthenes wieder zurück; die englischen Redner beriefen sich mehr auf Cicero, auch durch ein schwindendes Interesse am Griechischen gegenüber dem Lateinischen. Die amerikanischen Redner richteten sich nach ihren englischen Vorbildern. Aber auch insgesamt ging Mitte des 19. Jh. der Einfluss der Antike in der Rhetorik zurück.84

Die angewandte Rhetorik des beginnenden 20. Jahrhunderts schließlich verlor größtenteils die kunstvollen Stilmittel der antiken Reden und entwickelte sich mehr in Richtung des Essays; Adams schließlich schreibt 1927 als Schlußfolgerung seines Werkes über den „Einfluss des Demosthenes“:

Das Exil der Demosthenesforschung in den Kammern der klassischen Philologie ist zur Katastrophe geworden für die praktische Redekunst. 85

Bibliographie

Charles D. Adams, Demosthenes And His Influence, New York 1963

Anargyros Anastassiou, Zur antiken Wertschätzung der Beredsamkeit des Demosthenes, Diss. Kiel 1966

Engelbert Drerup, Demosthenes im Urteile des Altertums. Von Theopomp bis Tzetzes: Geschichte, Roman, Legende, Würzburg 1923

Albin Lesky, Geschichte der griechischen Literatur, Bern 1958

Ulrich Schindel, Demosthenes im 18. Jahrhundert. Zehn Kapitel zum Nachleben des Demosthenes in Deutschland, Frankreich, England, München 1963

Wolfhart Unte, Demosthenes. Politische Reden, Stuttgart 1985

Konrat Ziegler, Walther Sondheimer (Hg.), Der Kleine Pauly, München 1979

[...]


1 vgl. Anastassiou, S. 3

2 ebd., S. 55

3 vgl. Adams, S. 98

4 vgl. Anastassiou, S. 56f

5 vgl. ebd., S. 58f

6 vgl. ebd., S. 61

7 vgl. ebd., S. 61f

8 vgl. ebd., S. 63f

9 vgl. ebd., S. 82

10 Plut. Dem. 9, 850b

11 vgl. Lesky, S. 687

12 vgl. Anastassiou, S. 84ff

13 vgl. ebd., S. 87

14 vgl. ebd., S. 88f

15 vgl. ebd., S. 90ff

16 vgl. Drerup, S. 248

17 vgl. Anastassiou, S. 44

18 vgl. ebd., S. 45

19 Cic. Brut. 35

20 Cic. de opt. gen. or. 13; Brut. 141

21 Cic. de opt. gen. or. 14

22 vgl. Cic. or. 100

23 vgl. Cic. or. 69

24 Cic. or. 111

25 Cic. or. 99

26 vgl. Anastassiou, S. 51

27 vgl. ebd., S. 51

28 Cic. Or. 104

29 Plut. Cic. 24, 872f

30 vgl. Anastassiou, S. 6

31 vgl. ebd., S. 7

32 vgl. Dion. Hal. de Dem. 9-10

33 vgl. Dion. Hal. de Dem. 11-13

34 vgl. Anastassiou, S. 8ff

35 vgl. ebd., S. 54

36 vgl. ebd., S. 52

37 vgl. ebd., S. 32

38 vgl. ebd., S. 33f

39 vgl. ebd., S. 48

40 vgl. ebd., S. 36f

41 vgl. ebd., S. 54

42 vgl. ebd., S. 95

43 vgl. Anastassiou, S. 94

44 vgl. Adams, S. 130

45 vgl. ebd., S. 131

46 vgl. Unte, S. 300

47 vgl. ebd., S. 301; Adams, S. 132

48 vgl. Unte, S. 300

49 vgl. Adams, S. 134f

50 vgl. Schindel, S. 144

51 vgl. ebd., S. 42

52 vgl. ebd., S. 44

53 ebd., S. 44

54 zit. nach Schindel, S. 44

55 zit. nach Schindel, S. 43

56 zit. nach Schindel, S. 43

57 zit. nach Schindel, S. 46

58 vgl. ebd., S. 45

59 ebd., S. 47

60 vgl. ebd., S. 109ff

61 zit. nach Schindel, S. 58

62 vgl. ebd., S. 90

63 vgl. ebd., S. 90

64 ebd., S. 91

65 ebd., S. 91

66 vgl. ebd., S. 91

67 vgl. ebd., S. 93

68 ebd., S. 94

69 ebd., S. 113

70 ebd., S. 115

71 vgl. ebd., S. 144

72 vgl. ebd., S. 145

73 vgl. ebd., S. 145

74 vgl. ebd., S. 147

75 vgl. Adams, S. 157ff

76 vgl. Schindel, S. 148ff

77 vgl. ebd., S. 155

78 vgl. Adams, S. 146

79 zit. nach Schindel, S. 158

80 vgl. ebd., S. 160

81 vgl. Adams, S. 149

82 vgl. ebd., S. 154

83 vgl. ebd., S. 164

84 vgl. ebd., S. 173

85 ebd., S. 174

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Details

Titel
Demosthenes-Rezeption von der Antike bis heute
Hochschule
Universität Hamburg
Veranstaltung
Hauptseminar Demosthenes
Autor
Jahr
2000
Seiten
13
Katalognummer
V98879
ISBN (eBook)
9783638973304
Dateigröße
395 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Demosthenes-Rezeption, Antike, Hauptseminar, Demosthenes
Arbeit zitieren
Cornelius Hartz (Autor:in), 2000, Demosthenes-Rezeption von der Antike bis heute, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/98879

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