Das Turiner Grabtuch


Skript, 2000

14 Seiten


Leseprobe


Das Turiner Grabtuch aus dem Buchmanuskript

„ Aleiphos - der unterirdische Strom Arkadiens “

Von Michel Kleine

Es war ein grauer Oktobertag im Jahr 1988, als Kardinal Anastasio Ballestrero vor einem dichtbesetzten Auditorium in Turin eine Erklärung abgab, die die katholische Welt erschütterte. Eine der kostbarsten Reliquien der Christenheit, das Turiner Grabtuch, sei in Wahrheit ein Werk von Menschenhand aus dem Mittelalter. Die Nachricht traf Millionen Gläubige wie ein Keulenschlag. Jahrhundertelang hatten sie das Tuch verehrt, in dem der Leichnahm Jesu nach der Kreuzigung bestattet worden war. Sie hingen an dieser Reliquie, die ihnen den auferstandenen Christus greifbar nahebrachte.

Doch dem Vatikan ging es um Wichtigeres. Es war an der Zeit, die Kirche von Legenden, Mythen und volkstümlichen Glaubensmeinungen zu befreien, damit die wahre Botschaft des Christentums nicht zu verdunkeln drohte. Daß Papst Johannes Paul II. das Urteil der Wissenschaft uneingeschränkt akzeptierte, war ein weiterer Schritt auf dem Weg der „Öffnung“, die mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil (1962-1965) begonnen hatte. Das heilige Grabtuch von Turin war das bisher auffälligste Opfer der neuen Richtung in der Kirche. Ein fadenscheiniges, im Fischgrätenmuster gewebtes Leinentuch von 4,36 m Länge und 1,10 m Breite, das die schwachen, rostbräunlichen Konturen eines männlichen Körpers erkennen läßt. Das Bild, so hieß es, sei der auf wunderbare Weise entstandene Abdruck des gemarterten Leibes des Gekreuzigten, den man in dieses Tuch gehüllt in sein Grab gelegt habe.

Wenn dem so war, hätte die Reliquie tatsächlich ungeheure Bedeutung gehabt. Christus hat der Welt kein geschriebenes Wort, keinen persönlichen Gebrauchsgegenstand hinterlassen, nur das angezweifelte leere Grab in Jerusalem. Dieses Vakuum hätte das Grabtuch ausfüllen können, indem es den zentralen Punkt der Heilsgeschichte bezeugt, den Tod und die Auferstehung des Heilands. Zudem sagt uns die Bibel nichts über das äußere Erscheinungsbild Christi, wobei uns das Tuch ein authentisches Portrait in Lebensgröße geliefert hätte. Ist das Tuch wirklich eine geschickte Fälschung aus dem Mittelalter?

Reliquienverehrung ist eine Form der Volksfrömmigkeit, die weit in die Antike zurückreicht. Die Reliquie kommt einem zutiefst menschlichen Verlangen entgegen. Alles was einen lebendigen Bezug zu verehrten Gestalten der Vergangenheit herstellt, möchten wir bewahren, um es ehrfürchtig betrachten und berühren zu können. In Sri Lanka wird ein Zahn Buddhas verehrt, im indischen Kaschmir ein Haar aus dem Bart des Propheten Mohammed.

Die Christen wurden im Mittelalter zu den unersättlichen Sammlern sowohl von Gebeinen, Schädeln und Leichnamen ‚heilig‘ gesprochener Männer und Frauen, wie auch von Gegenständen, die von ihrer Berührung geweiht waren. Vielen Reliquien schrieb man heilende Kräfte zu. War ihre Echtheit nicht zu beweisen, so gab man sich auch mit Legenden zufrieden. Der Reliquienkult ist zwar nie ein Glaubensartikel gewesen, aber die katholische Kirche hat ihn gefördert, und er hat die Kulturgeschichte des Abendlandes stark beinflußt. Einige der bedeutendsten Bauwerke verdanken ihre Entstehung den christlichen Reliquien. Genannt seien nur die Saint-Chapelle in Paris, die errichtet wurde um die Dornenkrone aufzunehmen, die Jesus getragen haben soll. Dann die Wallfahrtskirche des Apostels Jakobus im spanischen Santiago de Compostela, der Kölner Dom, in dem die Gebeine der Weisen aus dem Morgenland ruhen und schließlich auch die herrliche Turiner Kapelle, die 1668 bis 1694 von Guarino Guarini erbaut wurde.

Was hat nun Millionen dazu gebracht, dieses Leinen als das Grabtuch Christi zu betrachten? Die historischen Belege sind sehr spärlich und oftmals haben sich Historiker in aller Welt gefragt, wie das Tuch eine Fälschung aus dem Mittelalter sein kann, wenn es bereits im 7. Jahrhundert erwähnt wird. Daß es zwei Tücher gibt, scheint wohl völlig ausgeschlossen. Doch wie passt nun das Grabtuch in die Geschichte des historischen Jesus?

Durch zwei Autoren wurde in Deutschland der Streit um die Person Jesus neu belebt. Der Göttinger Theologe und Bibelkritiker Gerd Lüdemann und der Paderborner Papyrologe Carsten Peter Thiede, lieferten sich einen erbitterten Kampf um die Wahrheit ihrer Theorien zum Thema Jesus. Zahlreiche Fernseh-Auftritte, unter anderem auch bei Spiegel-TV, und seitenlange Artikel in Focus und Spiegel, wo man versuchte die individuellen Ergebnisse der Jesus-Forschung darzustellen. Auch der Herausgeber des Spiegel, Rudolf Augstein, nahm an dieser Diskussion teil. Ihre Bücher wurden in die Bestseller-Listen katapultiert. Doch auch viele andere Autoren haben sich mit der Frage nach dem historischen Jesus beschäftigt. Es existieren weit über 80.000 Monographien zum Thema und jedes Jahr bieten neue Bücher Stoff für Diskussionen; doch trotzdem gibt es kaum Antworten auf die Fragen, wann und ob Jesus gelebt hat, welche Lehren er verbreitete und ob er wirklich am Kreuz gestorben und wieder auferstanden sei.

So gibt es auch einige Autoren, die diesen Fragen sehr genau und gründlich nachgegangen sind und deren interessante Theorien für neuen Zündstoff sorgten. Da sind zuerst Elmar R. Gruber und Holger Kersten, die gemeinsam die Frage erörterten, ob Jesus wirklich am Kreuz gestorben ist und er vielleicht in Indien weitergelebt habe; dann Michael Baigent und Richard Leigh, die sich mit den Qumran-Rollen und ihrem Inhalt über die Urchristen beschäftigten und in einem zweiten Buch der Frage nachgingen, was es mit dem Heiligen Gral auf sich hat. Nicht zuletzt schließlich H. von Mendelssohn, der sich mit dem frühen Christentum und seiner Entstehung befaßte und die Theorie aufstellte, Jesus sei ein Rebell gewesen.

Wenn man versucht dem historischen Jesus in der antiken Geschichtsschreibung auf die Spur zu kommen, wird man schnell enttäuscht, da es scheint, als sei Jesus keinem der zeitgenössischen Geschichtsschreiber bekannt oder erwähnenswert gewesen. Philo Judaneus (20 v.Chr. bis 50 n.Chr.), von dem ca. fünfzig Werke erhalten sind, berichtet zwar ausführlich über Pilatus, erwähnt Jesus aber mit keinem Wort. Bei Flavius Josephus (37 bis ca.100 n.Chr.) einem Jüdischen Geschichtsschreiber, dessen Werk "Jüdische Altertümer" die Geschichte Palästinas von der Schöpfung bis zum Regierungsantritt Neros beschreibt, und in der die Politik und Gesellschaft zur Zeit Jesu detailliert dargestellt werden, findet man das sogenannte Testimonium Flavianum, welches Jesus als berühmten Lehrer und Wundervollbringer darstellt. Doch leider entpuppt es sich als plumpe Einfügung eines späteren kirchlichen Redakteurs, da es für die Kirche unbedingt Notwendig war, daß dieser so genaue Chronist etwas über Jesus geschrieben hatte. Ähnlich verfuhren die kirchlichen Theologen mit vielen anderen Werken von Historikern, um ihren Glauben zu verbreiten. Solche kirchlichen Einschübe werden erst heute von der modernen Textforschung entlarvt. Erst 117/118 n.Chr. wird Jesus in den "Annalen" des römischen Geschichtsschreibers Tacitus erwähnt, der sich aber auch nur auf mündliche Überlieferungen stützen kann. Damit bleiben zunächst das Neue Testament und die Schriften von Nag Hammadi die einzigen Quellen, die über das Leben Jesu berichten. Doch auch die vier Evangelien sind erst nach 70 n.Chr. entstanden und stellen eine willkürliche Auswahl aus vielen anderen Evangelien der Frühchristen dar.

Viele Autoren gingen der Geschichte des Turiner Grabtuchs nach und stellten anhand des Tuches die Theorie auf, daß Jesus die Kreuzigung überlebt habe. Die Echtheit des Turiner Grabtuchs ist noch immer umstritten. Doch wenn man einmal annimmt, es sei echt, ergeben sich daraus interessante Konsequenzen für die Geschichte des Christentums, ja für das Christentum selbst.

Das erste historische Dokument, in dem die Reliquie erwähnt wird, ist ein Memorandum, das Pierre d'Arcis 1389 an Papst Clemens VII. sandte. Danach läßt sich der Weg des Grabtuches lückenlos verfolgen, doch wo war das Tuch während des ersten Jahrtausends seit Christi Tod? Darüber soll eine Legende Aufschluß geben, die den Weg der Reliquie von Jerusalem bis zum dem ersten bekannten Fundort Edessa erzählt.

Zuerst wird das Tuch nach der Auferstehung wohl im Grab gelegen haben. Da die Juden Grabtücher als unrein ansahen, wird es wohl eine Weile gedauert haben, bis einer der Anhänger Jesu das kostbare Leinentuch an sich nahm. Sie haben sicher lange überlegt wohin sie das Tuch in Sicherheit bringen konnten. Sie könnten Edessa gewählt haben, das zu dieser Zeit ein kulturelles Zentrum war. In Edessa wird die Geschichte überliefert, daß König Abgar einen Boten an Jesus aussandte, damit dieser ihn von einer schweren Krankheit heilen möge. Jesus antwortet ihm, er habe keine Zeit, würde jedoch einen seiner Jünger schicken. Eines Tages kam der Jünger Thaddeus nach Edessa und brachte das Grabtuch mit. Er ging jedoch nicht direkt zum König, sondern begann Kranke zu heilen. Abgar hörte davon und rief ihn zu sich, da er sich schon dachte, es sei der angekündigte Jünger. Als Thaddeus nun zu König Agbar kam, legte er sich das Tuch auf die Stirn, woraufhin Abgar vom strahlenden Schein, der von Tuch ausging, geblendet wurde. Er wurde von seiner Krankheit geheilt und trat deshalb zum Christentum über. Nach seinem Tod verschwand das Tuch und tauchte erst ein paar Jahrhunderte später wieder auf.

Diese Legende könnte einen wahren Kern haben: Nach Jesus Verschwinden, sandten die Jünger Thaddeus mit dem Tuch nach Edessa, um König Abgar zum Glauben zu bekehren.

Doch der Jünger schämte sich vielleicht, dem König ein Grabtuch zu bringen und so ließ er es von dessen Putzmacher gefaltet in einen Rahmen spannen und verzieren, so daß es nur noch wie ein Kopfabdruck aussah. Deshalb ging er auch nicht sofort zu ihm, sondern wartete bis das Bild fertig würde. Das Bild würde als Mandylion bekannt werden und sollte viele Wunder vollbringen. Abgar ließ es wahrscheinlich einer alten Tradition folgend, als Schutz-Reliquie in einer Nische über dem Stadttor anbringen und setzte einen Stein mit dem Gesicht drauf davor. Bald nach Abgars Tod kehrte Edessa zum Heidentum zurück und das Tuch mußte versteckt werden. Aggai, der königliche Putzmacher, stellte eine Lampe in die Nische, drehte den Ziegel einfach um und mauerte das Bild ein. Geschützt vor Hochwasser blieb es dort liegen und geriet in Vergessenheit, bis es im 6. Jahrhundert wahrscheinlich bei Ausbesserungsarbeiten wiederentdeckt wurde. Das Bild wurde häufig kopiert und es läßt sich nachweisen, daß es die Jesu Porträts stark beeinflußte, wodurch sich auch eine einheitliche Darstellung Christi erklären läßt. In der Zeit des Bildersturms mußte das Mandylion in Edessa versteckt werden, so überstand es die Zerstörung der anderen Ikonen unbeschadet.

Im Jahr 942 wollte Kaiser Romano Lakapenos das Bild nach Konstantinopel holen, er belagerte Edessa und zwang die Bewohner zur Auslieferung des Grabtuches. 944 kam es dann nach Konstantinopel, wo es in der Pharos-Kapelle ausgestellt wurde. Im 11. Jahrhundert kam das Geheimnis des Tuches schließlich wieder ans Licht, als man es, vielleicht zu Ausbesserungszwecken, aus dem Rahmen nahm. Einhundert Jahre später findet man die erste schriftliche Erwähnung des auseinandergefalteten Tuches, als Einschub in einer päpstlichen Rede.

Während des zweiten Kreuzzuges, im Jahr 1147, erhielt Everard de Barres, Großmeister der Templer (1146-1152), die Gelegenheit in Konstantinopel die Reliquie zu sehen. Beeindruckt war man sich im Templerorden der Tragweite dieses Tuches bewußt und erkannte augenscheinlich die Bedeutung für den Fortbestand der katholischen Kirche. Wenn man annimmt, das Jesus in dem Tuch lag, hat er die Kreuzigung zweifellos überlebt. Damit wäre aber das Fundament der Christlichen Kirche zerstört, denn der Tod Jesu am Kreuz, die Sündenvergebung und die Auferstehung bilden den Kern des christlichen Glaubens:

"Ist aber Christus nicht auferstanden, so ist unsere Predigt vergeblich, so ist auch euer Glaube vergeblich!"

I.KOR. XIV, 14 Während des 4. Kreuzzuges im Jahre 1203 wurde das Grabtuch in die Kirche von Blachernae gebracht, aus der es nach der Einnahme der Stadt durch die Kreuzfahrer verschwindet. Robert de Clari, ein Historiker des vierten Kreuzzuges, hatte davon berichtet, 1203 in Konstantinopel ein Tuch gesehen zu haben, das die Gestalt unseres Herrn trug. Im folgenden Jahr verschwand es. So gelangte das Tuch durch einen Geniestreich in die Hände des Ordens der Tempelritter, die allerdings am Kreuzzug gegen Konstantinopel nicht teilnahmen. Den Templern war es untersagt das Schwert gegen Christen zu erheben. Kaum war Konstantinopel in der Hand der Kreuzfahrer, traten die Armen Brüder wieder auf den Plan und setzten ihr politisches Machwerk fort, indem sie das Grabtuch an sich nahmen. Es stellt sich nun die Frage, welche

Rolle Jesus Christus nun wirklich in der Glaubensstruktur der Templer, wie auch der Katharer spielte. Es sind Spekulationen, doch die Bedeutung des Tuches muß den Templern bewusst gewesen sein. Der Christus auf dem Leinen zeigte ihnen wahrscheinlich, daß ihnen das verachtenswerte Kreuz nichts anhaben konnte. Das Abbild entsprach der Glaubensvorstellung der Templer und Katharer, daß Jesus menschlich und nicht göttlichen Ursprungs war.

Wie auch in den Inquisitionsprotokollen zu lesen ist, wurden die Führer des Ordens der Tempelritter der Anbetung eines Kopfes beschuldigt, dieser Baphomet hatte offensichtlich starke Ähnlichkeiten mit dem auf dem Tuch erkennbarem Gesicht. Auch der Vorwurf, sie hätten das Kreuz bespuckt und verachtet, sowie mit Füßen getreten, erscheint in einem ganz anderen Licht, wenn man diese These zuläßt. Also bewirkte das Tuch in den Händen der Templer den für den Orden schlüssigen Beweis, es mit einem Menschen zu tun zu haben und nicht mit dem Jesus Christus der paulinischen Fiktion, welche die Auffassung vertritt, daß der Kreuzigungstod und die göttliche Auferstehung im Mittelpunkt des Glaubens stehen muß.

Erst rund 150 Jahre später stellte ein französischer Ritter, Geoffroy de Charnay, in der Dorfkirche von Lirey bei Troyes ein heiliges Grabtuch zur Schau. Wo und wie er in dessen Besitz gekommen war, ist nicht bekannt. Allerdings gibt es einige Zusammenhänge, die den Orden der Tempelritter direkt mit dem Tuch verbindet. Bemerkenswert bleibt die Tatsache, daß der Großpräzeptor der Normandie, der zusammen mit Jaques de Molay 1314 den Tod auf dem Scheiterhaufen fand, ebenfalls Geoffroy de Charnay hieß. War nun der erste Aussteller des Tuches aus einer traditionellen Templerfamilie? Ja, er war es. Also kann das Tuch unmöglich eine Fälschung sein, denn ein zweites Grabtuch existiert nicht.

Einige Jahrzehnte später, schenkte Geoffroys Enkelin Marguérite de la Roche, aus etwas vage erscheinenden Gründen, das Tuch Louis Herzog von Savoyen, der es mit seiner Familie auf ihrem Weg zu königlichen Würden als Talisman betrachtete. Herzog Louis liess eine eigene Kirche in Chambéry errichten, die Saint Chapelle, in der das Tuch aufbewahrt wurde. 1532 wurde es bei einem Brand in der Schlosskapelle in Mitleidenschaft gezogen. Der silberne Behälter, in dem es ruhte, war kurz vor dem Schmelzen, als ein beherzter Wachmann das Tuch ergriff, mit Wasser übergoß und an einen sicheren Ort brachte. Später stopften Nonnen die Löcher und nähten eine kräftige Leinwandbahn auf die Rückseite. Die versengten Stellen und die Wasserflecken sind bis heute deutlich sichtbar. 1578 nahmen die Eigentümer das Tuch mit über die Alpen in ihre neue Residenz Turin. Der letzte König aus dem Hause Savoyen, Umberto II. von Italien, vermachte es testamentarisch dem Heiligen Stuhl, so gelangte es nach seinem Tod im Jahr 1983 in den Besitz des Vatikan.

Aber in keinem Augenblick hat sich die Kirche für die Echtheit des Grabtuches verbürgt. Im Gegenteil, der Streit um seine Authentizität entbrannte, kaum daß es um 1356 in Lirey aufgetaucht war. Henri de Poitiers, Bischof von Troyes, untersagte seine Zurschaustellung. Sein Nachfolger Pierre d’Arcis warnte seinen Vorgesetzten Papst Clemens VII., es handle sich um ein raffiniertes Stück Malerei. Daraufhin erhielt er den Bescheid, das Grabtuch nur als Abbild Jesus auszustellen. Doch diese feine Unterscheidung wurde vom Laienvolk und von der Geistlichkeit nicht beachtet. Wußte der Vatikan mehr? Mit ungeminderter Inbrunst wallfahrtete man zum Grabtuch.

1898 wurde es von dem Turiner Rechtsanwalt Secondo Pia zum erstenmal fotografiert. Pia entdeckte auf dem Negativ Details, die mit dem bloßen Auge nicht zu erkennen waren. Es war keine der üblichen wirklichkeitsfernen Negativabbildungen, sondern ein klares positives Abbild, hunderte Jahre vor Erfindung der Photographie. Man fand für das sonderbare Phänomen keine Erklärung. Die Vorstellung, daß das Grabtuch eine Fälschung sein konnte, verlor auf einmal an Glaubwürdigkeit. Wie hätte ein mittelalterlicher Künstler ein solches Bild fertigen können, und vor allem wozu?

Der erste Eindruck beim Betrachten des Grabtuches wird von den Brand- und Wasserflecken dominiert. Das Bildnis selbst, eine nebelhafte sepiafarbene Impression, scheint ins Gewebe hinein zu verblassen. Um Einzelheiten zu erkennen, muß man einen gewissen Abstand einhalten. Das Blut erscheint dunkler als der Körper und war schärfer abgegrenzt. Spuren von Blut lassen sich am Kopf und an den Armen finden, Flecken an der Seite, an den Handgelenken und den Füßen, sowie eine Vielzahl von Striemen einer Peitsche. Am Ende der Striemen erscheinen Wunden, wie sie das flagrum, eine römische Geissel, hervorgerufen haben kann. Die Geissel trug am Ende seiner Schnüre kleine Stücke aus Blei oder Knochen. Es war klar, daß die Person auf dem Tuch eine gewalttätige und erniedrigende Behandlung erlitten hatte.

Dr. Pierre Barbet, ein bekannter französischer Chirurg, sah das Tuch und interessierte sich für die neuen Photographien, die 1931 von Guiseppe Enrie (Abb. 13) angefertigt worden waren. Barbet beabsichtigte, die anatomische Genauigkeit der Wundmerkmale auf dem Tuch zu überprüfen, indem er mit Leichen experimentierte. Er fand bald heraus, daß Nägel in den Handflächen das Gewicht eines menschlichen Körpers nicht zu tragen vermögen. Andererseits würde ein Nagel im Handgelenk oder Unterarm nicht ausreissen. Diese Erkenntnis schien die Authentizität des Tuches zu bestätigen, denn die Wundmale der Nägel auf dem Tuch sind nicht in den Handflächen zu finden, wie wir es üblicherweise auf Kreuzigungsdarstellungen sehen können, sondern im Bereich der Handgelenke. Auch erkennt man an den Blutspuren am Kopf, daß die Dornenkrone kein Kranz, sondern eine der damals üblichen haubenartigen Kronen war. Ein christlicher Künstler hätte jedoch die übliche Darstellungsweise gewählt, da er es nicht anders gewußt hätte. Sogar die Evangelisten sprechen von Wunden in den Handflächen. Ob sie nicht wußten, daß das griechische Wort für Hand (was sie verwendeten) cheir, auch das Handgelenk und den Unterarm einschliessen kann? Archäologen, die im Jahr 1968 in Jerusalem einen Friedhof freilegten, fanden Gebeine eines römischen Kreuzigungsopfers. Der Nagel, der in den rechten Arm getrieben worden war, hatte nahe am Handgelenk einen klar definierten Kratzer und eine abgeschabte Stelle an der Innenseite des Speichenknochens hinterlassen. Die Archäologie hatte nun den medizinischen Beweis, daß das Bild auf dem Tuch korrekt war, bestätigt.

Es gibt weitere Beweise, die für eine Echtheit des Tuches sprechen. So muß das Kreuzigungsopfer, um frei atmen zu können, sich mit den Beinen aufstützen. Dazu standen die Füße auf einem kleinen Holzblock, der am unteren Ende des Kreuzes angebracht war. Auf die Dauer war es sicher zu anstrengend und man sank immer wieder herunter, wobei man wiederum keine Luft bekam. Je nach Körperkondition des Opfers, konnte der Todeskampf einige Stunden oder manchmal auch Tage dauern. Zum Schluß war der Gekreuzigte zu schwach um sich aufzustützen und starb, in den meisten Fällen, an Sauerstoffmangel. Stellte sich der Tod zu langsam ein, brachen die Römischen Soldaten bei den Opfern die Beine. Somit war es nicht mehr möglich sich abzufangen und das Opfer starb an Erstickung.

„... damit nicht die Leichname am Kreuze blieben dem Sabbat über, baten die Mitglieder der Synagoge den Pilatus, daß ihnen die Beine gebrochen und sie abgenommen wurden. Da kamen die Soldaten und brachen dem ersten die Beine und dem anderen, der mit ihm gekreuzigt war. Als sie aber zu Jesus kamen und sahen, daß er schon gestorben war, brachen sie ihm die Beine nicht. Ein Soldatöffnete seine Seite mit einem Speer und alsbald gingen Blut und Wasser heraus.“

Johannes 19,31-37

Auf dem Tuch lassen sich tatsächlich Spuren von Blut und Wasser an der Speerwunde feststellen. Soweit stimmt der Abdruck mit dem Bericht des Evangelisten überein, bis auf einen kritischen Punkt. Zwar berichtet Johannes von zurückgebliebenen Grabtüchern, aber nichts von einem Abbild, ein Wunder, das eigentlich hätte vermerkt werden müssen.

In den Jahren nach 1930 wurde das Grabtuch Gegenstand internationalen Interesses. Beiderseits des Atlantiks entstanden Grabtuchclubs und -gesellschaften. Gelehrte diskutierten auf Kongressen, Bücher und Aufsätze wurden veröffentlicht und eine neue Wissenschaft, die Sindonologie (vom griechischem sindon: Grabtuch), entstand. In den 70-er Jahren gab der Vatikan dem stetig wachsenden Drängen nach, die Echtheit des Tuches überprüfen zu lassen. Im Jahr 1969, später nochmals 1973, wurde es den Experten gestattet, das Tuch selbst zu untersuchen. Die Gruppe von 1973 machte aufsehenerregende Entdeckungen. Unter anderem stellten sie fest, daß das Bild vollkommen oberflächig ist. Es liegt auf den äußersten Fasern des Gewebes auf und ist überhaupt nicht in die tieferen Schichten eingedrungen. Darüberhinaus konnten sie ermitteln, daß selbst unter dem Mikroskop keine Spur von Pigmenten gefunden werden konnte. Also konnte die Theorie einer Malerei hier nicht mehr zutreffen.

Max Frei, ein Schweizer Kriminologe, erhielt die Erlaubnis, ein Klebeband auf das Tuch aufzupressen, um Staub und andere Partikel für Laboruntersuchungen vom Tuch zu entfernen. Frei fand unter seinem Mikroskop 48 verschiedene Pollen. Unter denen, die er identifizieren konnte, fand er erwartungsgemäß einige Pflanzen, die in Frankreich und Italien vorkommen. Eine weitere Reihe von Entdeckungen basierte auf zwei kleinen Gewebefragmenten und einigen Fasern, die 1973 dem Tuch entnommen und einem international bekannten Textilexperten, Professor Gilbert Raes von der Universität Gent in Belgien, übermittelt worden waren. Einige Eigenschaften der Textilproben schienen auf das Heilige Land zu verweisen und auf ein hohes Alter. Das Material ist Leinen, das allgemein im alten Palästina für Grabtücher Verwendung fand. Raes fand Spuren von Baumwolle einer nahöstlichen Sorte.

Die Webart ist Fischgrätmuster, in der Antike nicht unbekannt, obwohl die einfache Webart damals wesentlich weiter verbreitet war. Der Faden scheint handgesponnen zu sein, ebenfalls eine antike Technik. Schließlich ist anzunehmen, daß die Fäden vor dem Weben gebleicht worden sind, auch das eine Vorgehensweise, die damals üblich war.

„Am Abend aber kam ein reicher Mann von Arimathea, der hiess Joseph, welcher auch ein Jünger Jesu war. Der ging zu Pilatus und bat ihn um den Leib Jesu. [...] Und Joseph nahm den Leib und wickelte ihn in eine reine Leinwand und legte ihn in sein eigenes Grab.“ Matthäus 28,57-60

Das gegenwärtige wissenschaftliche Interesse für das Tuch in den Vereinigten Staaten begann mit zwei jungen Wissenschaftlern der Air Force. Bereits 1974 hatten sie damit begonnen, Enries Photographien intensiv zu studieren. Sie untersuchten die Bilder mit dem VP-8- Bildanalysator, einem hochentwickelten Gerät, das die Bildintensität in ein vertikales Relief umwandeln kann. Zu ihrer Überraschung fanden sie, daß das Bild auf dem Tuch genaue dreidimensionale Daten enthält, was bei herkömmlichen Photographien und Gemälden nicht der Fall ist. Mittels der Computerdaten konnten sie ein dreidimensionales Modell des Abbildes konstruieren. Weitere Untersuchungen sollte das Tuch ab 1978 über sich ergehen lassen.

Vielleicht wurde niemals zuvor ein Gegenstand der Kunst oder Archäologie einer dermassen sorgfältigen Untersuchung unterzogen. Die Wissenschaftler bombardierten die Reliquie mit ultravioletten und Röntgenstrahlen und suchten nach Fluoreszenzerscheinungen. Sie vermassen die Veränderungen dahingehend, wie das Abbild, das Blut und der Hintergrund, Energie abstrahlten oder reflektierten, quer durch einen Breitenbereich des elektromagnetischen Spektrums. Unter infraroter, sichbarer, ultravioletter und Röntgenstrahlung suchten sie nach den Fingerabdrücken der chemischen Struktur des Grabtuches. Die Fluoreszenz unter Röntgenstrahlen kann beispielsweise Eisen und Kalium anzeigen, wie es in Blutspuren vorkommt oder auch die Schwermetalle, die in alten Malfarben enthalten sind. Andere Spezialisten photographierten jeden Quadratzentimeter des Leinens im Detail, rund 500 Aufnahmen mit verschiedenen Wellenlängen. Mit Klebeband und Vakuumgeräten entnahmen sie Spuren von Fasern, Staub, Pollen und anderen Partikeln für die Analyse. Sie lösten das Tuch vom hinterlegten Textil, um zu sehen, was auf der Rückseite war. Giovanni Riggi, ein Turiner Biologe, photographierte die Rückseite unter Verwendung von Faseroptiken und sammelte Mikropartikel.

Die Wissenschaftler berichten, daß die Fäden aus dem Bereich, der das Bild trägt, unter Vergrösserung eine gelbliche Färbung zeigen, die nur auf der äußersten Oberfläche der Fasern aufliegt. Die Färbung hat das Gewebe in keiner Weise diffundiert oder durchdrungen, ist nicht an den Seiten der Fäden herabgeronnen und hat keine Rückstände zwischen den Fasern hinterlassen, wie zu erwarten gewesen wäre, wenn Pigmente aufgemalt oder aufgerieben worden wären. Hier wird das Feuer des Jahres 1532 einen nützlich. Manche der Wissenschaftler meinen, daß eine Temperatur, die ausreichend war, das Gewebe zu verkohlen, auch eine ´Veränderung der Farbe von organischen Pigmenten oder Substanzen bewirkt haben müsste. Die Farbveränderungen müssten nahe den verbrannten Bereichen am stärksten sein. Im Gegensatz dazu ist die Gelbfärbung der Abbildung auf dem Tuch von einer bemerkenswerten Gleichförmigkeit, bis hin zu den Brandrändern; sie ist unverändert geblieben. Darüberhinaus hätte das Wasser, das auf das Tuch gegossen worden war, um den Brand zu löschen, Tinte zum Verfliessen gebracht. Das ist offensichtlich nicht geschehen.

Im Lichte dieser Tatsachen haben sich die Wissenschaftler als Gruppe auf eine weitreichende Schlussfolgerung geeinigt. Der Chemiker Ray Rogers vom Los Alamos National Scientific Laboratory fasst sie zusammen:

"Fast alle von uns sind jetzt davon überzeugt, daß es sich bei diesem Tuch nicht um ein Gemälde handelt. Abgesehen von einer kleinen Menge Eisenoxid konnten wir keine Pigmente finden. Und wir glauben nicht, daß entweder Flüssigkeit oder Bedampfung dieses Bildnis, das wir hier sehen, hervorgerufen haben könnte. Verschiedene instrumentelle Untersuchungsergebnisse legen die Vermutung nahe, daß das Bildnis so etwas wie eine schwache Verbrennung sein könnte. Tatsächlich reagierte das Bild in unseren Tests in nahezu gleicher Weise wie die leicht verbrannten Stellen jener Teile, die durch den Brand im 16. Jahrhundert beschädigt worden sind. Anders als Pigmente verändern Verbrennungen im Feuer nicht ihre Farbe. Verbrennungen kann man auch dem Wasser aussetzen, ohne dass sie verblassen oder zerrinnen.“

Es ist noch immer nicht geklärt, welche Art von Verbrennung zu einer solch feinen Abbildung geführt haben kann, wie wir sie auf dem Grabtuch sehen. Ein merkwürdiger Seitenaspekt der Verbrennungshypothese ergibt sich aus den Forschungen die Wissenschaftler bei dem römischen Historiker Plinius, einen Bezug zur Verwendung einer Substanz namens struthion für das Waschen und Weichmachen von Textilien gefunden haben. Struthion war der klassische Name für das Seifenkraut saponaria officinalis. Einige Quellen enthalten Hinweise darauf, daß die Weber des Altertums ihre Kettfäden mit Stärke versteift und das fertige Textil dann mit Saponaria ausgewaschen haben. Leinenmuster von ähnlicher Beschaffenheit wie das Material des Grabtuches wurden gewaschen, manche mit, manche ohne Saponaria. Dann wurden sie für kurze Zeit erhitzt. Die mit Saponaria behandelten Muster verbrannten wesentlich rascher und tiefgehender als die unbehandelten Exemplare. Daraus folgt, daß das Tuch, wenn es je mit Saponaria behandelt worden ist, für Verbrennungen jeder Art relativ anfällig war.

Aus noch einem anderen Grund ist Saponaria für uns interessant. Es ist für niedere Lebensformen giftig und daher ein Fungizid (Mittel gegen Schmarotzer/ Pilze). Das könnte erklären, warum das Tuch keine ersichtlichen Spuren von Moder oder Schimmel zeigt, obwohl es lange Zeit in feuchten und modrigen Kirchen aufbewahrt war.

Die wissenschaftliche Schlussfolgerung, die hier dargestellt wird, scheint also auf eine Energiequelle hinzudeuten, die von dem Kreuzigungsopfer ausging und die intensiv genug war, sein Abbild in das Tuch zu brennen.

Eine Hypothese trieb die Wissenschaft zu weiteren Untersuchungen an. Der Körper des Gekreuzigten wurde mit einer Mischung aus Aloe und Myrrhe behandelt, und dann in das Tuch eingeschlagen. Durch starkes Wundfieber begann der Mann zu schwitzen; durch den Dampf, der die chemischen Bestandteile der Kräuter transportiert, oxidierten die Flachsfasern und dadurch entstand das Abbild auf dem Tuch. Das heißt aber, das der Mann noch gelebt haben muß, als er in das Tuch eingehüllt wurde. Dafür sprechen auch noch andere Indizien. Der Körper wurde nicht wie bei einem Begräbnis üblich fest in das Tuch eingehüllt, denn dann wäre das Abbild stark verzerrt gewesen, sondern, das Tuch wurde nur über den Körper gebreitet. Den wichtigsten Hinweis darauf, daß er noch gelebt hat, liefern aber die Blutspuren. Man kann an einigen Stellen deutlich erkennen, daß noch Blut geflossen ist, nachdem der Körper in das Tuch eingeschlagen wurde; wenn es sich um einen Leichnam gehandelt hätte, wäre dies nicht der Fall gewesen. Ist es möglich, die Kreuzigung zu überleben?` Ja, es wäre möglich, wenn das Opfer rechtzeitig abgenommen würde. Der Tod am Kreuz tritt nicht durch den Blutverlust ein, sondern wird durch langsames Ersticken verursacht, da die Atmung durch die extreme Haltung stark eingeschränkt ist.

Aber wenn man nun bedenkt, daß wenn man bei der Abnahme vom Kreuz, die Nägel aus den Armen und Beinen entfernt und die Wunden sofort wieder anfangen zu bluten, was pathologisch völlig in Ordnung geht, dann kann man sich die Blutspuren auf dem Tuch sicher gut erklären. Doch eine Genesung innerhalb von ein paar Wochen ist demnach nicht zu erwarten. Schon gar nicht, wenn das Opfer nicht sofort operiert werden würde, was in der Antike nunmal nicht möglich war. Also hätte ein ‚Auferstandener‘ sicherlich große Mühen gehabt, Laufen zu können, geschweige den die Hände zu benutzen. Da nun Jesus von seinen Jüngern im Vollbesitz seiner Kräfte, nur wenige Tage nach der Kreuzabnahme, gesehen wurde und sie diesbezüglich keine Gebrechen feststellen konnten (sie hätten es sicher erwähnt), kann Jesus Christus nicht am Kreuz gehangen haben. Medizinisch gesehen, sind nach solch einer brutalen Behandlung wie Kreuzigung, mit Sicherheit Folgeerscheinungen aufgetreten. Man bedenke, daß die Nägel Handgelenke und Fußgelenke durchschlagen haben und die Funktionalität der der Bewegung nicht mehr gegeben war. Zudem setzt nach einer gewissen Zeit eine Art Gelenksteifigkeit ein, die sich ohne weiteres und nur mit großen Schmerzen, nicht entfernen läßt. Der Gekreuzigte kann unmöglich innerhalb von nur wenigen Tagen völlig genesen, wie es die Bibel behauptet. Selbst nach unserem heutigen Kenntnisstand in der Medizin ist es unmöglich, einen Menschen so schnell wieder gesund zu pflegen.

Auch in der zeitgenössischen Literatur finden sich einige Hinweise auf Menschen, die die Kreuzigung überlebt haben, da sie rechtzeitig abgenommen wurden. Es war also durchaus möglich, daß der Mann im Tuch die Kreuzigung überlebt hat. In der Bibel finden sich einige Hinweise darauf, daß Jesus der Mann im Tuch gewesen sein könnte, vor allem im Johannes Evangelium. Obwohl es umstritten ist, gilt es doch als das authentischste und zeigt gegenüber den drei synoptischen Evangelien sehr viel Eigenständigkeit, und es finden sich dort Episoden, die in den anderen drei nicht erwähnt werden, zum Beispiel die Erweckung des Lazarus (Joh. XI, 1-45). Der Autor zeigt detailreiche Kenntnisse der geographischen Gegebenheiten zur Zeit Jesu, was zusammen mit dem gnostischen Einschlag der Texte darauf hindeutet, daß er zu der Zeit an den Orten anwesend war, also ein Zeitzeuge gewesen sein könnte. Während in den synoptischen Berichten nur festgehalten ist, daß Jesus ein Begräbnis nach jüdischer Sitte erhalten hat, wird die Grablegung bei Johannes detailiert beschrieben. In der Geschichte der Erweckung des Lazarus beschreibt er sehr genau ein Begräbnis nach jüdischer Sitte. Die Grablegung Jesu steht im starken Kontrast dazu. Der Autor benutzt verschiedene Wörter für gleiche Dinge in den beiden Episoden, vielleicht um deutlich zu machen, daß Lazarus im Gegensatz zu Jesus wirklich tot war, denn die Grablegungsszene entspricht keinesfalls einem damals üblichen Begräbnis, wie der Autor darlegt.

Der Tote wurde bis zur endgültigen Bestattung in eine der engen Kammern geschoben. Am Morgen der Auferstehung sieht Maria Magdalena Engel zu Füßen und zu Häupten des Leichnams (Joh. 20, 12). Doch hätte man Jesus in eine dieser Kammern geschoben, hätte niemand zu seinem Fußende sitzen können, dies konnte nur der Fall sein, wenn er auf der Steinbank vor den Kammern gelegen hätte. Auch hätte Maria Magdalena, als sie sich durch die Tür beugte, die beiden Gestalten neben Jesus nicht sehen können, wäre er schon in einen Kokim (Kammer) geschoben worden (Joh. 20, 5). Eine weitere Merkwürdigkeit sind die Spezereien, die zur Bestattung herbeigeschafft werden. Eine Einbalsamierung der Toten war damals nicht üblich, es fand nur eine Behandlung statt, zu der jedoch auch keine Spezereien verwendet wurden. Auch die große Menge der Aromastoffe erscheint merkwürdig, da gerade Aloe und Myrrhe dem Zweck dienten, Wunden zu behandeln, warum aber hätte man einen Toten mit diesen Kräutern einpacken sollen? Der Unterschied zwischen dem Lazarus Text und der Bestattung Jesu scheint also der zu sein, daß Jesus nicht vollständig bestattet wurde Warum aber haben die Jünger ihrem geliebten Meister nur eine halbe Bestattung zukommen lassen? Die Autoren Gruber und Kersten stellen die These auf, daß der Autor des Johannes- Evangeliums all diese Unterschiede bewußt gewählt hat, um denen, die zwischen den Zeilen lesen, das wahre Geschehen deutlich zu machen, nämlich daß die Jünger den bewußtlosen Körper Jesu in das Grab gebracht hätten, da es der sicherste Ort war. Unter dem Schutze des angeblichen Begräbnisses versuchte man Jesus durch medizinische Heilkunst wieder zum Leben zu erwecken.

Bei diesen Vorgängen könnten die Essener eine Rolle gespielt haben. Sie waren bekannt für ihre Heilkunst und es scheint auch eine Verbindung zwischen Jesus und den Essenern bestanden zu haben. Die Essener waren angehörige einer Art Mönchsorden; sie lebten von der Welt abgeschieden in einem Kloster, wahrscheinlich Qumran. Es gab jedoch auch Mitglieder, die außerhalb des Klosters tätig waren. Da Qumran im Wirkungskreis Jesu lag und er auch einiges an essenischem Gedankengut in seinen Lehren zeigte, könnte er Kontakt zu ihnen gehabt haben, vielleicht hat er sogar als Jugendlicher ein essenisches Noviziat absolviert oder war Sohn eines Esseners und dem Orden übergeben worden. Diese mögliche Verbindung läßt es als wahrscheinlich erscheinen, daß man die Essener zu Hilfe gerufen hatte, um Jesus zu retten.

In den Evangelien wird berichtet, wie verschiedene Personen zum Grab kamen und dort Gestalten in weißen Gewändern sahen, die für Engel gehalten wurden. In Wirklichkeit könnten dies Essener gewesen sein, die sich um den Verletzten gekümmert und ihn dann weggeschafft hatten, denn die Essener trugen weiße Gewänder an denen sie leicht zu erkennen waren.

Auch die Begegnungen der Jünger mit Jesus nach seiner "Auferstehung" weisen daraufhin, daß er nicht wundersam von den Toten wiedererweckt wurde, sondern nach langer Krankheit genesen war. Im apokryphen Petrus-Evangelium sahen die Grabwachen drei Männer aus dem Grab kommen, von denen der eine gestützt werden mußte. Dies weist darauf hin daß Jesus noch geschwächt war, denn ein glorreich Auferstandener muß ja wohl nicht gestützt werden oder? Nach seiner allmählichen Genesung, begann er sich wieder seinen Jüngern zu zeigen, doch waren diese Begegnungen nur kurz und geheim, da er sofort wieder verhaftet worden wäre, wenn er sich in deröffentlichkeit gezeigt hätte. Kurz bevor er Palästina verläßt, berichten die Evangelien noch davon, wie er sich seine Jüngern zeigt und versucht ihnen klarzumachen, daß er kein Geist und nicht von den Toten auferstanden sei, diese Botschaft gibt er seinen Jüngern mit auf den Weg.

Am 13. Oktober 1988 sollte das Tuch endlich mit Hilfe der Radiokarbon-Methode datiert werden. Beauftragt wurden drei ausgewählte Labore, um das Grabtuch zu datieren. Der Test sollte als Blindtest durchgeführt werden, die Labors bekamen jeweils drei Röhrchen mit drei verschiedenen Stoffproben von denen eine das Grabtuch war, welche wußten sie aber nicht. Am 21. April wird unter den Augen der Wissenschaftler und Kameraleute ein Stück Tuch abgeschnitten und in drei Teile zerschnitten. Dr. Tite und der Kardinal verschwinden in einem Nebenraum wo sie die Proben in die Röhrchen stecken, und erscheinen wieder mit den Röhrchen auf dem Tablett. Ein halbes Jahr später setzte die Datierung dem Mythos ein Ende. Das Tuch war auf das Mittelalter datiert worden. Doch die mysteriösen Umstände bei der Probennahme veranlaßten Holger Kersten und Elmar R. Gruber dazu, Nachforschungen anzustellen die schließlich zeigten, daß die Proben wahrscheinlich gefälscht waren. Doch wer hätte ein Interesse daran, das Tuch als Fälschung hinzustellen?

Am 15. Juli 1997 machte eine weitere Sensation die Runde in der Presse. Es wurde Blütenstaub auf dem Tuch gefunden. Abbildungen von Pflanzen und Blütenstaub auf dem Tuch ähneln nach Angaben eines israelischen Botanikers eindeutig der Pflanzenwelt in der Umgebung Jerusalems. Die Ansammlung von Pflanzen, die auf dem Grabtuch fotografisch zu erkennen seien, lasse nur auf den Nahen Osten schliessen, sagte der Botaniker Avinoam Danin von der Hebräischen Universität in Jerusalem, der als Experte für die Pflanzenwelt des Heiligen Landes gilt. Die besten Bedingungen dafür befänden sich im Raum Jerusalem und in der Region hinab zu den Qumran Höhlen am Toten Meer. Nach den Angaben Danins finden sich in diesem Gebiet fast alle der 28 auf dem Tuch identifizierten Pflanzenarten. Dehne man das Gebiet bis zur Südspitze des Toten Meeres aus, seien sogar alle abgebildeten Pflanzen aufzufinden. Der Botanik Experte betonte allerdings, er wolle sich nur zu den Blumenabbildungen auf dem Grabtuch äußern, er dagegen sage nicht, daß Jesus in dem Tuch beigesetzt worden sei.

Am 31. März des Jahres 1998 schlug schließlich die Genforschung zu. In dem Grabtuch hat tatsächlich ein Mensch gelegen. Wissenschaftlern gelang der Beweis, daß immer noch winzige Blutspuren vorhanden seien und das Blut stammt definitiv von einem Mann. An der Universität von Texas in Houston haben Forscher ein kleines Stückchen von dem Tuch einem Gen-Test unterzogen. Das Ergebnis ist wissenschaftlich nicht angreifbar. Das Blut kann von Wunden stammen, die durch die Dornenkrone und die Kreuzigungsmerkmale entstanden sind. Dr. Victor Tryon, der an der Universität von Texas die Abteilung für fortgeschrittene DNS- Technologien leitet, möchte seine Untersuchungen gern fortsetzen. Aber der Turiner Kardinal Giovanni Saldari, der die Reliquie für die katholische Kirche verwaltet, ist nicht bereit, weitere Stoffteile zur Verfügung zu stellen. Dr. Tryon und sein Forscherteam waren deshalb auf so winzige Blutspuren angewiesen, daß die Ergebnisse und Aussagen beschränkt bleiben mußten. Stünde ihnen mehr Material zur Verfügung, könnten die DNS Spezialisten bestimmen, wie alt das Blut ist. Sie wären sogar in der Lage, die Volkszugehörigkeit und Rasse des Mannes zu bestimmen, von dem das Blut stammt. Im Jahr 1988 waren die italienischen Untersuchungen zu dem Ergebnis gekommen, das Leichentuch stamme vielleicht nur aus dem 13. Jahrhundert. Die DNS Forscher glauben jedoch, daß die Ergebnisse von 1988 nicht gesichert seien, weil Pilzbefall und Bakterien sie verfälscht haben.

Zu den überraschendsten Ergebnissen führte eine weitere Untersuchung des Botanikers Avinoam Danin im Jahr 1999. Er vermutet, daß der Körper von Jesus auf das Tuch gelegt und mit blühenden Blumen umkränzt wurde. Danach sei es über den Leichnam zusammengeschlagen worden. Im Laufe der Zeit hätten sich die Umrisse des Körpers und der Pflanzen in das Grabtuch eingedrückt. Das Gewebe ist mit Pollen durchsetzt und lässt schwache Umrisse von Blumen, Blättern und anderen Pflanzenteilen erkennen. Danins Kollegen Alan und Mary Whanger identifizierten die Abdrücke nach einem neuen Verfahren, der Polarized Image Overlay Technique (PIOT), als Gewächse aus einem der ersten Jahrhunderte nach Christi Geburt.

Ein Kollege Danins, Uri Baruch aus Jerusalem, überprüfte die Blütezeit der nachgewiesenen Pflanzenarten und folgerte: In dieser Kombination hätten sie im Raum von Jerusalem seit Jahrhunderten jeweils nur im März und April geblüht. Besonders viele Pollen ließ die Distelart Gundelia tournefortii auf dem Turiner Grabtuch zurück. Sie blüht in Israel nur zwischen März und Mai. Alan und Mary Whanger glauben, daß die Dornenkrone auf Jesus Haupt aus Zweigen dieser Distel gewunden war. Zwei Pollenkörner der gleichen Distel (Gundelia tournefortii) fanden die Botaniker auch auf dem Sudarium von Oviedo, dem Gewebe, das weithin als Grabtuch für das Gesicht von Jesus anerkannt ist. Dieses Gesichtstuch ist seit dem ersten Jahrhundert nach Christi Geburt dokumentiert. Beide Gewebe, das Turiner Grabtuch und das Sudarium von Oviedo, sind von Flecken der Blutgruppe AB benetzt. Obwohl Spuren aus jener Zeit nur schwer einer Blutgruppe zuzuordnen sind, steht zumindest fest, daß die Flecken auf beiden Tüchern dem gleichen Bluttyp angehören.

Nun stehen viele Fragen im Raum, doch eine wird sich nach den wissenschaftlichen Ergebnissen jetzt schon mit Sicherheit beantworten lassen: Das Grabtuch ist echt. Doch kann man nicht sicher sein, es als Grabtuch Jesu Christi anzuerkennen. Dazu müßte er am Kreuz gestorben sein oder zumindestens nach der Abnahme und der anschließenden Grablegung.

Die wissenschaftliche Erforschung des Turiner Grabtuches wird erst nach dem Heiligen Jahr 2000 mit neuen Gewebeproben und neuen Untersuchungsansätzen weitergehen. Dies sagte am 16. April 1998 die italienische Grabtuch Forscherin Emanuela Marinelli in einem Interview mit dem Radio Vatikan. Nach Ansicht der Wissenschaftlerin wird die Forschung dann mit einem koordinierten interdisziplinären Ansatz die geheimnisumwitterte Reliquie untersuchen. Die 1988 aufgrund der C-14 Methode vorgeschlagene Datierung des Grabtuches auf das späte Mittelalter habe sich inzwischen als verfehlt erwiesen. Das Ergebnis sei durch das Vorhandensein anderer Spuren auf dem Gewebe verfälscht worden. Frau Marinelli betonte, die künftige Erforschung müsse sich nach den spektakulärenöffentlichen Ausstellungen in den Jahren 1998 und 2000, in Ruhe und ohne Druck der Medien, der Reliquie widmen. Der Turiner Erzbischof Saldarini hatte 1995 die Entnahme weiterer Gewebeproben bis auf weiteres untersagt. Ob wir diesmal die Wahrheit erfahren dürfen?

Ende der Leseprobe aus 14 Seiten

Details

Titel
Das Turiner Grabtuch
Autor
Jahr
2000
Seiten
14
Katalognummer
V98888
ISBN (eBook)
9783638973380
Dateigröße
363 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Auszug aus dem Buchmanuskript "Aleiphos - der unterirdische Strom Arkadiens"
Schlagworte
Turiner, Grabtuch
Arbeit zitieren
Michel Kleine (Autor:in), 2000, Das Turiner Grabtuch, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/98888

Kommentare

  • Gast am 26.5.2017

    Ergänzender Kommentar des Autors: Die neusten Ergebnisse der C14 Methode sind beeindruckend. Das Tuch stammt definitiv aus dem 1. Jahrhundert. Was bleibt ist die Frage, wer wurde darin bestattet.

  • Gast am 21.11.2008

    Gibt es neue Erkenntnisse bzw. Computerbilder?.

    Sehr gute Zusammenfassung. Gibt es inzwischen neue Erkenntnisse? Weshalb wird das Gesicht nicht mal mit den neuesten Computerprogrammen der Polizei rekonstruiert (Tuchfalten entfernt, Verletzungen rückgerechnet usw.)??

  • Gast am 23.10.2005

    Hinweis.

    Der Hinweis auf einen Autor als Quellenangabe versteht sich nicht als Bewertungsmaßstab des gesamten Buches. Ich habe mehr als 150 Autoren und Schriften auf die ich verweise und nicht nur diesen einen. Desweiteren behandelt das Buch Phänomene aus der christlichen Mythologie, und das sehr kritisch.

  • Gast am 11.7.2005

    anmerkung zur pollentheorie.

    der "forscher" der die pollentheorie vertritt,
    bzw anhand einer pollenanalyse vestgestellt haben will, das das tuch echt ist --- hat auch die hitler-tagebücher für echt erklärt.....sorry, aber manchmal hilft etwas recherche weiter.
    das buch ist wohl nur für gläubige chrtistenb akzeptabel.

    mfg, micha

  • Gast am 7.7.2002

    An den Autor: bitte melden!.

    Lieber Michel Kleine,
    falls Du dieses liest:
    ich würde mich sehr gerne mit Dir über das Turiner Grabtuch und alles, was damit zusammenhängt, austauschen. Das Thema "historischer Jesus" - und insofern auch das Thema "Grabtuch" - beschäftigen mich seit Jahren.
    Hab da auch so meine kleinen Forschungen betrieben und vielleicht ein paar Erkenntnisse gehabt...

  • Gast am 1.4.2001

    turin/M.KLeine.

    wunderbarer artikel, bedenkt alles, danke. sehr informativ und klar! hochachtungsvoll herwig schlaminger

Blick ins Buch
Titel: Das Turiner Grabtuch



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