I. Die Vorgeschichte der Gründung der Zentrumsfraktion
1. Allgemeine Vorgeschichte
Bereits im Parlament der Paulskirche 1848/ 49 und in den Landtagen der einzelnen Bundesstaaten waren katholische Gruppen vertreten, die dort ihre Gesinnung mit in den politischen Prozeß mit einbrachten.
In der politischen Haltung hatten sie ihren Platz zumeist in der Mitte zwischen liberalen und demokratischen Gruppierungen auf der linken Seite und den konservativen Kräften auf der rechten Seite.
Trotzdem hat der Katholizismus als einer der Hauptstützen des feudalen Systems im Zeitalter der bürgerlichen Revolutionen Einbußen seiner politischen Machtstellung hinnehmen müssen.
Sowohl Liberalismus als auch Aufklärung stürzten das akademische Bildungsmonopol, die Trennung von Staat und Kirche beschnitt seine Einflußmöglichkeiten und natürlich hatte auch die Säkularisation großer Teile des Haus- und Grundbesitzes der katholischen Kirche eine immense Bedeutung.2
2. Die Soester Konferenzen
Seit Januar 1864 fanden in Soest von Zeit zu Zeit die sogenannten ,,Soester Konferenzen" statt. Sie gingen auf den Mallinckrodt`schen Freundeskreis zurück, welcher sich als eine Art politischer Stammtisch katholischer Männer um Hermann von Mallinckrodt verstand.3 Bei diesen Treffen unterhielt man sich vor allem über die Lage des politischen Katholizismus in Deutschland allgemein, aber natürlich auch über drängende tagespolitische Probleme und soziale Streitfragen.
Zum Personenkreis der Soester Konferenzen gehörten neben Hermann von Mallinckrodt zunächst sein Bruder Georg von Mallinckrodt aus Böddeken, ihr Schwager Alfred Hüffer aus Paderborn, Freiherr Wilderich von Ketteler ebenfalls aus Paderborn und der damalige Hausgeistliche von Böddeken, Eduard Klein, der später Domkapitular wurde.
Alfred Hüffer und Freiherr von Ketteler waren die treibenden Kräfte in diesem Freundeskreis und diese beiden waren es auch, die die ersten Einladungen am 16. Dezember 1863 an insgesamt zehn Männer verschickten, unter ihnen natürlich die oben erwähnten. Die Runde wurde für den 12. Januar 1864 nach Soest in den Gasthof Overweg einberufen. Nach diesem ersten Treffen erfolgten in unregelmäßigen Abständen weitere Versammlungen, auf denen sich besonders Hermann von Mallinckrodt und Alfred Hüffer hervortaten. Die Mitgliederzahl betrug zeitweise über 100.
Bis zum Mai im Jahr 1866 wurden die Konferenzen durchgeführt, aber dann kam die Bewegung durch den kurze Zeit später ausbrechenden Krieg mit Österreich ins Stocken und wurde erst wieder im Jahre 1869/ 70 im Zuge der bevorstehenden Neuwahlen zum preußischen Abgeordnetenhaus im Herbst 1870 wieder aufgenommen. Bei diesen Versammlungen kam ein ausführlicher Programmentwurf, der ursprünglich von Mallinckrodt entworfen worden war, zustande, der dann in den Versammlungen von Ahlen und Münster weiter besprochen und verfeinert wurde.4
3. Versammlungen in Ahlen und Münster
Mallinckrodt berief eine weitere Versammlung nach Ahlen ein, auf der ebenfalls das bereits schon vorhandene Programm diskutiert wurde. Es nahmen etwa zehn Männer daran teil.5 Zu diesem Zeitpunkt herrschten innerhalb dieses Kreises verschiedene Auffassungen darüber, wie mit dem Wehretat zu verfahren sei. Mallinckrodt war der Meinung, die Militärausgaben zu kürzen, da nach dem Krieg von 1866 keine weiteren Kriege mehr in Aussicht ständen. Dem gegenüber entgegneten Freiherr von Landsberg und Freiherr von Droste-Hülshoff, das dies aus derzeitiger Sicht nicht entschieden werden könne, da die politische Lage zu unübersichtlich wäre.
Man einigte sich dann darauf, im Programmentwurf die Aufstockung des Wehretats abzulehnen.
Alle übrigen Fragen konnten einvernehmlich geklärt werden.
Die endgültige Fassung des Programms wurde aber erst bei einem Treffen in Münster Anfang Juni 1870 verabschiedet. Dieses Programm sollte als Grundlage einer neu zu gründenden Partei dienen.
Auf diesen beiden Versammlungen wurde überhaupt zum ersten mal konkret über eine Neugründung beraten.
Die Kernpunkte des Programmes waren folgende:
- Verteidigung der Selbständigkeit der Kirche, Unabhängigkeit der kirchlichen Organe und Schutz der freien Bewegung der eigenen Kirche
- Ablehnung der bürgerlichen Ehe
- Beibehaltung der Konfessionalität der Schulen
- Forderung nach einem Bundesstaat, allerdings mit Unabhängigkeit und freier Selbstbestimmung der einzelnen Bundesländer
- Dezentralisation der Verwaltung, auch in Preußen
- Keine Erhöhung des Militäretats
4. Veröffentlichte Aufrufe
Um das Programm in den damals vorhandenen Zeitungen ,,mediengerecht" zu servieren, mußte es natürlich auf die Kernsätze gekürzt werden.
Solche verkürzten Aufrufe wurden sehr schnell verfaßt und dann auch in diversen Zeitungen gedruckt.
Den Anfang solch einer Veröffentlichung eines Wahlaufrufes mit einem gekürzten Programm machte die ,,Kölnische Volkszeitung" am 11. Juni 1870.6
Wie sich später herausgestellt hat, ging der Aufruf auf Peter Reichensperger zurück; der Wortlaut der Kernaussagen des Abdruckes war fast identisch mit dem oben dargestellten Programm.
Allerdings muß man immer noch berücksichtigen, daß zu diesem Zeitpunkt noch gar keine Partei gegründet worden war, sondern hier nur ein Aufruf an die jeweiligen (katholischen) Gesinnungsgenossen stattfand, damit man später die Basis dazu hatte, eine neue Partei aus der Taufe zu heben. Man kann sagen, es handelte sich hier um einen Aufruf, eine Art interfraktionellen Zusammenschluß zu bilden.
Weiterhin veröffentlichte der ,,Westfälische Bauer" am 18 Juni 1870 einen weiteren Aufruf zu den Wahlen, der natürlich vor allem an den westfälischen Bauernstand gerichtet wurde.7 Er stammt höchstwahrscheinlich vom damaligen Vorsitzenden des Westfälischen Bauernvereins Freiherr von Schorlemmer-Alst.
Allerdings muß man trotz aller Veröffentlichungen berücksichtigen, daß der Aufruf selbstverständlich weitestgehend nur den westfälischen Bauern bekannt war, da sie ja das Klientel der Leser bildeten.
5. Das Essener Programm
Ein weiteres Papier, das Essener Programm, erschien nach Beendigung einer Versammlung in Essen, die am 29./ 30 Juni 1870 stattfand.8
Auf dieser Versammlung bekam das bis dahin schon bekannte Reichensperger'sche Programm noch einen sozialen Aspekt hinzu, der von vielen Rednern gefordert worden war. Im Vorfeld dieser Versammlung in Essen hatten noch weitere stattgefunden, namentlich in Düsseldorf und Elberfeld, bei denen den katholischen Arbeitern Versprechungen im Bereich der Sozialpolitik gemacht worden waren.
Am Ende der Tagung wurde am 30. Juni 1870 das Essener Programm beschlossen, welches folgende Kernpunkte katholischer Politik vereinigte:
- Selbständigkeit der Kirche, auch kirchlicher Gesellschaften
- Ablehnung des konfessionellen Charakters des Volksunterrichts und Forderung nach Unterrichtsfreiheit, wie sie in der Verfassung manifestiert war
- Festhaltung an dem christlichen Charakter der Ehe
- Beibehaltung des föderativen Charakters des Norddeutschen Bundes und Ablehnung aller Bestrebungen einen zentralisierten Einheitsstaat zu schaffen
- Dezentralisierung und Selbstverwaltung des Volkes in Gemeinde, Kreis und Provinz
- Herunterfahren der finanziellen Belastung des Landes, insbesondere auch Verringerung der Militärausgaben und eine gerechtere Verteilung der Steuerlast
- Beseitigung der sozialen Mißstände
Mitten in die sich anbahnende Gründung einer neuen katholischen Partei ,,platzte" die Kriegserklärung Frankreichs vom 19. Juli 1870. Der Krieg an sich lähmte den Gründungseifer aber nur für kurze Zeit, denn der Krieg mit Frankreich wurde von den meisten Katholiken, vor allem denjenigen, die im Zuge des Rheins wohnten und um ihre Gebiete fürchteten, akzeptiert; trotz allem versuchten einige Protestanten, diesen Krieg zu einem Religionskrieg zu machen, da Frankreich ja ein vom katholischen Glauben geprägtes Land war.9
Desweiteren fanden bereits am 28. und 30 Oktober 1870 erneut Versammlungen in Soest und Essen statt, denn die immer näher rückenden Wahlen zum Preußischen Abgeordnetenhaus durften natürlich nicht außer Acht gelassen werden.
Aus diesen beiden Versammlungen sind ebenfalls wieder Programme und Wahlaufrufe hervorgegangen, die dem vormaligen Essener Programm sehr ähneln.
In der späteren Entwicklung wurde das Soester Programm allerdings des öfteren in Veröffentlichungen und Wahlaufrufen abgedruckt und erlangte auch mehr Bedeutung, da hier alle Anwesenden das Programm eigenhändig unterschrieben hatten.
Allgemein kann man zur Vorgeschichte der Gründung der Zentrumspartei bemerken, daß keiner dieser erarbeiteten Programmentwürfe formell den Rang eines späteren Parteiprogrammes erlangte.
Natürlich ist der katholische ,,Touch" aller Schriftstücke unverkennbar, aber die Behauptung Webers, die Partei kümmere sich nur um ureigene katholische Interessen, kann ich überhaupt nicht teilen, da es meines Erachtens unbestritten ist -und das kann man auch aus den Programmen erkennen- , daß sich die Partei allen kritischen Fragen der Zeit stellt und Lösungsvorschläge gibt.