Leseprobe
Inhaltsübersicht
1. Einleitung
2. Die Neue Sachlichkeit
3. Die Verhaltenslehren der Kälte: ihr Einfluss auf die Literatur der Neuen Sachlichkeit und die Gestaltung der Frauenfiguren
4. Irmgard Keuns Roman „Das kunstseidene Mädchen“
4.1 „Träumen vom Glanz“ und „Schreiben wie Film“
4.2 Das „System des Männerfangs“: Doris als „kalte persona“
4.3 Liebe als Tauschgeschäft oder „der Warencharakter der Liebe“
4.4 Die Kunst zu lügen und die Frage der Moral
4.5 „Liebe ist kein Geschäft.“ „Ich liebe ihn. Nicht so – aber so.“
5. Marieluise Fleißers Roman „Eine Zierde für den Verein“
5.1 Das Bild der „Neuen Frau" und sein männliches Gegenbild
5.2 Frieda Geier als Paradigma der „Neuen Frau“ und kühles weibliches Pendant zu den männlichen Verhaltenslehren der Kälte
5.3 Frieda Geier als Berufstätige
5.4 Frieda und die Ehe
5.5 Frieda und Linchen
6. Erich Kästners Roman „Fabian“
6.1 Fabian: die sentimental-melancholische und passive männliche Kontrastfigur
6.2 Film und Reklame: Welt des schönen Scheins
6.3 Frauenbilder und das Thema der Liebe
Verzeichnis der benutzten Literatur
1. Einleitung
Mit dieser Arbeit werden wichtige, bereits in Teil I aufgeworfene und diskutierte Fragen aufgenommen und weitergeführt. Es geht vor allem darum zu untersuchen, ob und inwieweit es den Protagonistinnen der drei behandelten Romane gelingt, auf dem von ihnen selbst gewählten Weg erfolgreich zu sein, obwohl sie ganz unterschiedliche Ausprägungen eines Frauenbildes verkörpern, das in der Weimarer Republik unter dem Schlagwort „Neue Frau“ in aller Munde war. Dies geschieht auf der Grundlage und unter besonderer Berücksichtigung einer nach dem Ersten Weltkrieg einsetzenden Strömung, die als „ Neue Sachlichkeit “ Eingang in den literarischen Diskurs gefunden hat. Dieser literarischen Strömung wird bei der Behandlung des Themas ein wichtiger Stellenwert eingeräumt. Sie wird daher im nächsten Abschnitt ausführlich behandelt werden. In diesem Zusammenhang ist zu berücksichtigen, ob diese neue Strömung – wie es einige Vertreter der nach dem Ersten Weltkrieg entwickelten Verhaltenslehren postulierten – ausschließlich männlich, d. h. als Gegenpol zu einem mütterlich-fürsorglich grundierten Frauenbild, orientiert war. Bereits in der Einleitung zu Teil I dieser Untersuchung hat sich gezeigt, dass es in der Literatur der Neuen Sachlichkeit Frauenfiguren gab, die sich durch ihr wachsames, kühl-berechnendes, zielstrebiges und diszipliniertes Verhalten in einer von Männern dominierten Welt durchsetzen und behaupten konnten. Umgekehrt wäre zu untersuchen, ob es bei den männlichen Figuren – zum Beispiel in Erich Kästners „Fabian“ - nicht auch Züge eines neusachlichen Anti-Helden gibt, der von Walter Benjamin als linker Melancholiker und Helmut Lethen als kontaktarmer, weltfremder, intellektueller Außenseiter beschrieben wurde und im Wettbewerb der Geschlechter eine Verliererrolle als enttäuschter, sentimentaler Liebhaber zugewiesen bekommt. Außerdem stellt sich die Frage, ob in der Literatur der Weimarer Zeit der Typus einer modernen starken Frau in den Romanen männlicher Autoren – hier also: Erich Kästner – stärker repräsentiert wird als bei Autorinnen wie Marieluise Fleißer und Irmgard Keun.
2. Die Neue Sachlichkeit
Die Neue Sachlichkeit wird oft als eine unpolitische, ideologiefreie, alle Bereiche der Kultur, und insbesondere der Literatur, umfassende Strömung in der Zeit der Weimarer Republik (1918 – 1933) aufgefasst. Sie entsteht u. a. als Reaktion auf den gefühlsbetonten Subjektivismus und das übertriebene Pathos der Expressionisten und tritt für eine nüchterne unbd objektive Haltung gegenüber der Wirklichkeit ein. Die Vertreter der Neuen Sachlichkeit betrachten die Welt aus der Perspektive eines aufmerksamen, um Authentizität bemühten, nüchternen, aber kritischen Beobachters. Ausgehend von einem funktionalen, im Unterschied zum traditionellen, Literaturverständnis mit der Betonung der künstlerischen Autonomie, stellen sie den Gebrauchswert eines literarischen Werkes in den Vordergrund. Sie vertreten eine Kunstauffassung, die sich an den alltäglichen Erfahrungen und Bedürfnissen eines Massenpublikums orientiert. Damit reagiert diese Bewegung auf die Demokratisierung der Gesellschaft in den Zwanziger Jahren und versteht sich als wesentlicher Teil eines gesellschaftlichen Modernisierungsprozesses. Von dieser Warte aus betrachtet, trägt die Neue Sachlichkeit in erheblichem Maße zu einer Politisierung der Kunst und der Literatur bei.
Die Wirkungsästhetik der neusachlichen Literatur, die sich auf eine objektive Darstellung gesellschaftlicher Tatbestände gründet, soll den modernen Leser zur politischen Meinungsbildung, zur Stellungnahme und zur Überprüfung seiner politischen Handlungsmöglichkeiten anregen. Eine Berichterstattung, die sich auf die nüchterne Darstellung von Fakten und Tatsachen konzentriert, besitzt im Unterschied zu rein fiktionalem Schreiben ein beträchtliches Aufklärungspotenzial, wobei Fiktionalität und Faktizität keineswegs als sich einander ausschließende Gegensätze, sondern als sich gegenseitig ergänzende Darstellungsmöglichkeiten angesehen werden. Nach Siegfried Kracauer bwirkt die bloße Bestandsaufnahme gesellschaftlicher Verhältnisse bereits eine „Veränderung gesellschaftlicher Tatbestände". (Becker 1, S. 191)
Die funktionale Kunst- und Literaturauffassung führt zur Einbeziehung von bisher als „unkünstlerisch" betrachteten aktuellen Themen wie Arbeitswelt, Rolle der Frau, Freizeit und Sport, Inflation und Wirtschaftskrise, usw. Damit betritt ein neues literarisches Personal die Bildfläche, das sich zunehmend aus der in den Zwanziger Jahren stark anwachsenden Schicht der Angestellten kaufmännischer und technischer Berufe (viele von ihnen als Stenotypistinnen arbeitende und nach beruflicher Unabhängigkeit strebende Frauen) oder aus der Welt des Sports rekrutiert, aber auch den von Arbeitslosigkeit bedrohten „Kleinen Mann" einbezieht, den Hans Fallada zur Titelfigur seines gleichnamigen Romans ernennt und dem auch Erich Kästner mit seinem „ Fabian" ein Denkmal setzt. Zugleich verbindet sich die Neue Sachlichkeit mit einer - vor allem in Berlin entstehenden - großstädtischen Vergnügungs- und Unterhaltungskultur, die durch die Medien Film, Rundfunk, Schallplatte, Zeitschriften und Illustrierte propagiert wird und sich großer Beliebtheit erfreut. Um der Routine und den Sorgen des Alltags zu entfliehen, sucht man Zerstreuung im Kino, in Revuen und Variétés oder, in intellektuell anregender Form, im literarischen Kabarett. Mit der Neuen Sachlichkeit verlieren Kunst und Literatur ihren geheimnisvollen Nimbus und ihren elitären Anspruch. Es vollzieht sich eine „Entzauberung" (Siegfried Kracauer in seinem Aufsatz "Vivisektion der Zeit", 1932; in: Becker 2, S. 130) der ästhetisch-autonomen Kunstliteratur zugunsten einer sachlich-kritischen Gebrauchsliteratur, die Sabina Becker als „ Entauratisierung" (Becker 1, S. 231) bezeichnet.1
Die Neue Sachlichkeit entspricht dem Lebensgefühl großer Teile der städtischen Bevölkerung und trägt in erheblichem Maße dazu bei, diese Gebrauchskunst einem Massenpublikum zugänglich zu machen. Sachlichkeit bestimmt die Einstellung des modernen Großstadtmenschen gegenüber der Welt. Er registriert mit nüchternem Blick seine Umgebung und glaubt nicht an weltverbessernde Utopien. Der von Walter Benjamin beschriebene Typ des Flaneurs („Einbahnstraße", 1928) analysiert distanziert und schulterzuckend die Alltagsphänomene der Stadt, ohne Stellung zu beziehen, zu kritisieren oder sich einzumischen. Das führt bei kritisch eingestellten Zeitgenossen zu einer Diskreditierung der Neuen Sachlichkeit als einer Haltung der „ Melancholie" und des „ Fatalismus" (Becker 1, S. 278) und zu ihrer Verurteilung „als eine resignative, unpolitische Bewegung". (ebd.) Kurt Pinthus erkennt in der Bereitschaft, „das Gegebene einfach hinzunehmen und zu kuschen ..., keine eigene Meinung auszusprechen, nicht Stellung zu nehmen ..., keine Absicht, keine Idee, kein Kampfziel zu haben ..." (ebd.) typischerweise ein Zeichen von Unmännlichkeit.
Auch hinsichtlich der künstlerischen Ausdrucksformen sind markante Veränderungen zu beobachten. In dem Maße wie die Alltagswelt der Menschen in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit rückt, versachlichen sich auch die Form der Darstellung und die Mittel der Beschreibung. Alltägliche Themen wie Technik, Industrie, Arbeit und Freizeit eignen sich nicht für irgendeine Art der dichterischen Überhöhung. Sie werden einem nüchtern und unvoreingenommen prüfenden Blick aus der Perspektive eines protokollierenden Beobachters unterworfen. Die künstlerische Subjektivität des Autors „tritt hinter der der Anonymität des Dokuments zurück". (Anton Kaes: „Schreiben und Lesen in der Weimarer Republik"; in: Weyergraf, S. 38 - 64; hier: S. 60) Daraus entwickelt sich eine Art neusachlicher Habitus in der Darstellung, der sich einen n icht-femininen, sportlich-asketischen Anstrich verleiht und einer betont „ männlichen" Sprache bedient. (Vgl. Glaser, S. 172) Aus der großen Zahl von Texten, die man in diesem Zusammenhang zur Veranschaulichung neusachlicher Positionen heranziehen könnte, sei exemplarisch der Aufsatz von Kurt Pinthus mit dem bezeichnenden Titel „ Männliche Literatur" (1929) ausgewählt, in dem es heißt:
Der Stil dieser Bücher, tastend versucht oder natürlich gekonnt, ist unpathetisch, unsentimental, schmucklos und knapp; manche nennen diese Technik : »Neue Sachlichkeit«. Warum »neue« Sachlichkeit? Sie ist sachlich, ist männlich, ist Ausdrucksform des Mannes, wenn man unter Mann nicht das Kraftprotzentum völkischen Männlichkeitsbegriffs begreift, welcher eben in seiner verlogenen Heroisierung sentimental, verstiegen, also unmännlich ist. Eher läßt sich diese Sprache: ohne lyrisches Fett, ohne gedankliche Schwerblütigkeit, hart, zäh, trainiert, dem Körper des Boxers vergleichen. (Becker 2, S. 37 - 41, hier: S. 38)
Und in Abgrenzung zum Expressionismus, der hiermit als überholt deklariert und dem eine deutliche Absage erteilt wird, heißt es weiter:
Während der Jüngling des Expressionismus durch aufgerissenes Gefühl, aufreißendes Wort, zukunftheranreißende Idee wirkte, Wirklichkeit, Natur und Kosmos sprengte, um »aus dem Geist« eine neue Welt zu schaffen, - bemüht sich die gegenwärtige Literatur: Dinge, Ereignisse und Empfindungen mit kurzem, scharfen Blick und Wort zu fassen, begnügt sich der Mann mit der klaren, oft handwerklichen Tat, mit realer Wirkung im kleinen Bezirk. Nicht das Unerreich- bare, Ferne, Unendliche sondern das Greifbare, Bescheidene, Wirkliche wird gesucht; das Gegebene wird hergenommen, um überwältigt zu werden. Die Erscheinungen der Realität werden nicht übersteigert oder zur Explosion gebracht, sondern beim rechten Namen genannt. (Ebd.)
Man legt Wert auf Schmuck- und Schnörkellosigkeit im Ausdruck, verzichtet auf farbige, fantasievolle Ornamentik, nimmt eine distanzierende Haltung zu den Objekten der Darstellung ein und bevorzugt Nüchternheit, Kühle und Präzision in der Beschreibung. Die funktionale Gebrauchsliteratur der Neuen Sachlichkeit experimentiert mit neuen, bis dato als unliterarisch geltenden, journalistischen Schreibstrategien wie Dokumentarismus, Reportagestil und Montagetechnik. Durch die Verbindung von fiktionalem und dokumentarischem Schreiben entstehen neue literarische Genres wie Zeit- und Reportageroman, Reportagedrama, Zeitstück, Gebrauchslyrik, sowie Hörspiel und Hörbericht im Rundfunk.
In der neusachlichen Literatur - und in besonderem Maße im neusachlichen Roman - ist die Tendenz zu einer unterkühlten Darstellung modernen Lebens zu beobachten, in der die Bewegung eingefroren und erstarrt zu sein scheint und das Geschehen wie durch eine Glasscheibe betrachtet wird. Diese Tendenz zeichnet sich - nach dem Urteil einiger Kritiker - schon in der Ausstellung nachexpressionistischer Malerei2 in der Kunsthalle der Stadt Mannheim (1925) unter der Leitung des Kunsthistorikers Georg Friedrich Hartlaub ab. Der von Hartlaub hier erstmalig verwendete Begriff „Neue Sachlichkeit" beschreibt die Haltung der Ernüchterung und Entzauberung, durch die sich - wie bereits beschrieben - auch die neusachliche Gebrauchsliteratur ausweist. Kritische Stimmen sprechen von „gefrorener Idyllenstimmung" bei Georg Schrimpf, „Formen magischer Erstarrung" bei George Grosz, „gefrorener Unbeweglichkeit der Figuren" bei Otto Dix (vgl. Leiß/Stadler, S. 64), und die „Allgemeine Zeitung Chemnitz" wittert sogar die Gefahr, „daß man in die Kälte bedeutungsloser Objektivität abstürzt." (Ausgabe vom 09.01.1926; in: Buderer/Fath, S. 32)
Wie in der Malerei, so erkennt man auch bei den Vertretern neusachlicher Literatur die Neigung zu Gefühlsarmut und Kälte in der Darstellung. Sie werden zu wichtigen Kernbegriffen in der Literaturkritik, wenn sie auch nicht als Hauptmerkmale der neusachlichen Literatur angesehen werden. Mit beißender Ironie verspottet daher Bertolt Brecht die Sensibilität bei Thomas Mann: „Sie werden bemerkt haben, daß die Luft sich in Ihrem letzten Jahrzehnt bedeutend abgekühlt hat. Dies kam nicht von allein und wird nicht aufhören von allein, irgendwo waren Gefriermaschinen in Tätigkeit. Nun: Wir waren es, die sie bedienten." (Helmut Lethen: „Neue Sachlichkeit"; in: Glaser, S. 168 - 179; hier: S. 174) Für Brecht ist die Kälte nichts Negatives. Anstatt sich in der scheinbaren Geborgenheit einer illusionären Wunschwelt behaglich einzurichten und über die angebliche „Kälte der Welt" zu lamentieren, solle der moderne Mensch die Gegebenheiten als das erkennen, was sie tatsächlich sind, und sich von der Fiktion lösen, dass er von wärmenden Hüllen umgeben sei, die ihn gegen die Kälte isolieren.3 Helmut Lethen hat in seiner 1994 erschienenen Studie „ Verhaltenslehren der Kälte. Lebensversuche zwischen den Kriegen" Denk-, Verhaltens- und Sprechweisen der Zwanziger Jahre untersucht. Er konstatiert eine Atmosphäre, die durch den Verlust traditioneller Normen und Wertmaßstäbe als Ergebnis des ersten Weltkriegs und das Ende der Wilhelminischen Ära bestimmt wird und die Entstehung „der 'kalten persona', dem Prototypus neusachlichen Verhaltens" (Becker 1, S. 31) begünstigt habe.
In Erich Kästners Roman „Fabian" (1931) bildet die Metapher des kalten Glases ein wichtiges Leitmotiv. An einer Stelle des Romans wird deutlich, dass Fabian sich schon als Schüler wie ein Gefangener fühlt, der in einer Glasglocke eingeschlossen ist, die ihn von der übrigen Welt trennt: „Saßen wir nicht wie unter einer Glasglocke, aus der man langsam, aber unaufhörlich die Luft herauspumpt?" (Kästner: Fabian, 6. Kapitel, S. 52) Dieses Gefühl des Eingeschlossenseins und der Isolation kann als Metapher für eine Lebenssituation verstanden werden, in der dem Individuum mit der Luft zum Atmen alles Lebensnotwendige entzogen wird. Es ist daher eine Situation, die der Betroffene als lebensbedrohlich erlebt, gegen die er sich aber nicht zur Wehr setzen kann, sondern vielmehr leidend ertragen muss. Das Gefühl der Isolation und die demütigende Erfahrung, zum passiven Erleiden des Unveränderlichen verurteilt zu sein, entspricht der bereits angesprochenen Haltung des Großstadtmenschen, der die Phänomene des Alltags im Bewusstsein seiner Machtlosigkeit registriert, ohne sie zu kritisieren oder sich mit dem Impetus eines Weltverbesserers gegen sie aufzulehnen.
Fabian nimmt die Welt wie durch eine Glasscheibe wahr. In dieser Metapher offenbart sich sein Bedürfnis nach Distanz und Schutz vor der rasanten Dynamik einer unaufhaltsam in die Zukunft strebenden Welt mit all ihren Widersprüchlichkeiten und Gefahren, denen er sich nicht gewachsen fühlt. Ihm bleibt nur die Position des unbeteiligten Beobachters. Die Glasmetaphorik ist daher Sinnbild für die Distanz zur Welt, die Fabian zu bewahren sucht. Als Medium der Kälte symbolisiert Glas im Roman Gefühlsverzicht, wie er von Helmut Lethen in seiner Studie "Verhaltenslehren der Kälte" für die Zwanziger Jahre konstatiert wird.
Im Einklang mit den Verhaltenslehren der Kälte versteht sich der neusachliche Schriftsteller als „Analyst der Zeit". (Leiß/Stadler, S. 66) Kracauer erwartet vom Schriftsteller seiner Zeit, er solle sich nicht dazu berufen fühlen, „dem 'Absoluten' zu dienen", sondern seine Aufgabe darin sehen, „sich (und dem großen Publikum) Rechenschaft abzulegen über unsere aktuelle Situation". („Über den Schriftsteller", 1931, in: Becker 2, S. 193) Und Lion Feuchtwanger, der Marieluise Fleißer gegenüber einen sich vom Expressionismus abgrenzenden Stil fordert, behauptet, „man schreibe heute anders, man schreibe heute Neue Sachlichkeit". (Leiß/Stadler, S. 65)
Besonders hoch im Kurs steht - wie erwähnt - das bisher nur in der journalistischen Berichterstattung verwendete Genre der „ Reportage". Auch hier spielt der Gesichtspunkt des Nützlichkeits- oder Gebrauchscharakters von Literatur eine wichtige Rolle, mit dem dieses Genre eine deutliche Aufwertung erfährt und zu einer literarischen Textform erhoben wird. Andererseits verschweigt man aber nicht, dass bei allen Bemühungen um "Objektivität" und Überwindung des „Subjektivismus " in der Literatur , „ die Methode der Objektivität " nur ein „Surrogat" sei . (Georg Lukács : „ Reportage oder Gestaltung ...", 1932 , in: Becker 2, S. 367) Aber - und darin liegt das entscheidende Kriterium - „der gestaltende Schriftsteller" schaffe nicht frei aus sich heraus, „wie die bürgerliche Ästhetik meint, er ist im Gegenteil streng an die wahrheitsgemäße Reproduktion der Wirklichkeit gebunden". (Ebd. S. 368) Dieses Umdenken wird in entscheidendem Maße von den Ergebnissen des amerikanischen Behaviorismus beeinflusst und prägt - zum Beispiel bei Bertolt Brecht - eine Ausdrucksweise, die in Anlehnung an den behavioristischen Schreibstil Ernest Hemingways und in Abkehr von einem introspektiven, psychologisierenden Erzählstil nach Helmut Lethen als „gestische Schreibweise" („Neue Sachlichkeit", in: Glaser, S. 177) bezeichnet werden kann.
Nach Sabina Becker führt die Funktionalisierung der Literatur und die Betonung ihres Gebrauchswertes zu einer Entindividualisierung, Entsentimentalisierung und Entromantisierung. (Vgl. Becker 1, S. 242) Mit der Neuen Sachlichkeit werde der neuromantischen Gefühlskultur und dem pathetischen Subjektivismus der Expressionisten eine „sachlich-rationale Verstandeskultur" entgegengesetzt. (Ebd. S. 243) „Die wundersüchtige blaue Blume, die Novalis blühte, verlor ihre Wunderkraft im harten Zeitalter, das der Jugend Traum und Sehnsucht an den schroffen Klippen der Tatsachen zerschellte ... Telefon, Radio, Flugzeug, Luftschiff und in Fernen schweifende Sehnsüchte? Das reimt sich nicht zusammen." (Max Herre: „Erwin Dressels »Armer Columbus«", 1929, in: Becker 2, S. 256) Die Absage an gefühlsbetontes Denken und an einen gefühlsüberfrachteten literarischen Stil ist eindeutig. Was das Verhältnis weiblicher Autoren zur Neuen Sachlichkeit anbelangt, konstatiert Pinthus am Ende seines Aufsatzes, indem er lobend auf die Novellen und Dramen Marieluise Fleißers verweist:
Aber auch Bücher von Frauen dieser Generation wirken männlich ... durch ihre sachliche Kraft, Menschen, Schicksale, Wirklichkeit unheimlich einfach darzustellen, nicht nur die Frauen- Literatur aller früheren Epochen, sondern manchmal sogar die gleichzeitige männlicher Autoren übertrumpfend. (Ebd. S. 41)
Gegen Ende der Weimarer Republik mehren sich Stimmen, die mit der Neuen Sachlichkeit kritisch ins Gericht gehen, wenn sie ihr ursprünglich auch nahe gestanden haben, wie Joseph Roth, der 1930 mit seiner gleichnamigen Schrift unüberhörbar „Schluß mit der Neuen Sachlichkeit!" fordert, weil ihre Vertreter einer „furchtbaren Verwechslung" (Becker 2, S. 315) erlegen seien: „Das Wirkliche begann man für wahr zu halten, das Dokumentarische für echt, das Authentische für gültig." (ebd. S. 316) Es findet ein „ Klimawechsel" statt (Herbert Ihering: „Die neue Illusion", 1930, in: Kaes, S. 657), eine Wandlung vom zweckhaft-rationalen Denken der Neuen Sachlichkeit zu einem neuen Irrationalismus, zur Besinnung auf das eigene Ich und die produktiven Kräfte der Fantasie oder eine „Flucht in das Reich der Innerlichkeit", wie es Walter Karsch im Mai 1932 nennt. („Flucht aus der Drecklinie", in: Kaes, S. 673) Nach dieser Auffassung ist Berlin nicht mehr Inbegriff eines modernen, weltoffenen Lebensstils, sondern der Dschungel der Großstadt wird stärker unter dem Gesichtspunkt der enormen Technisierung und Industrialisierung und der damit verbundenen Krisen des modernen Menschen gesehen. Man wendet sein Interesse verstärkt dem einfachen Landleben zu, das von solchen Krisen verschont zu werden scheint. Dafür gewinnen Begriffe wie „Heimat" und „Volksgemeinschaft" neue Bedeutung, die von konservativen Kräften propagiert und von den Nationalsozialisten für ihre Rassenideologie vereinnahmt werden.
Zusammenfassung: Der neusachliche Autor nimmt zu den aktuellen Ereignissen seiner Zeit und zur erlebten Alltagswirklichkeit die Position eines Beobachters ein, der diese Ereignisse aus einer Außenperspektive registriert, auf sich einwirken lässt und darüber berichtet, ähnlich einem Journalisten, der eine Reportage über ein aktuelles Thema schreibt. Er bemüht sich um Authentizität und Objektivität. Zu diesem Zweck verwendet er Dokumente wie Zeitungsberichte und sonstige Informationsquellen und nähert sich einer dokumentarischen Schreibweise an, die frei ist von Sentimentalität und nur über das berichtet, was mit dem nüchternen Blick von außen erfasst werden kann. Folglich verzichtet er darauf, darüber zu fabulieren, was sich im Innenleben der Figuren abspielen könnte. Er betont - wie Erich Kästner in seinem Essay „Prosaische Zwischenbemerkung" (1929) - den Gebrauchswert und den funktionalen Charakter bzw. den „Zweck" (ebd., in: Becker 2, S. 217) von Literatur und unterstreicht damit die „Zugehörigkeit der neusachlichen Bewegung zur literarischen Moderne". (Becker 1, S. 359) Die bevorzugte Gattung der Neuen Sachlichkeit ist daher der Roman. Da er in der Gegenwart seiner Zeit verankert ist und das aktuelle Geschehen zum Gegenstand hat, kann er auch als Zeitroman bezeichnet werden.
3. Die Verhaltenslehren der Kälte: ihr Einfluss auf die Literatur der Neuen Sachlichkeit und die Gestaltung der Frauenfiguren
Es ist deutlich geworden, dass Gefühlskälte und distanziertes Verhalten als typische, wenn auch nicht dominierende, Merkmale der Neuen Sachlichkeit angesehen werden können. Diese Tendenz ist vor allen Dingen auf den Einfluss der in den Zwanziger Jahren des vorigen Jahrhunderts entwickelten Verhaltenslehren zurückzuführen. Ebenso hat sich gezeigt, dass diese Verhaltenslehren als viriles Genre aufgefasst wurden, in dem die Frauen nur eine sekundäre Rolle spielen – gewissermaßen als privater Ort und Ruhepunkt, wo der Mann sich fallen lassen und Entspannung finden konnte. Nach dieser Auffassung erscheint die Frau als mütterlich-wärmender Gegenpol zu Kälte und Sachlichkeit, die in erster Linie mit Männlichkeit assoziiert werden. Es ist daher kein Wunder, dass Irmgard Keun bei vielen Literaturkritikern als Unterhaltungsschriftstellerin galt und ihre schriftstellerischen Qualitäten wenig beachtet wurden. In dieser Hinsicht erinnert sie an Marieluise Fleißer und deren selbstquälerischen Versuch, sich in einer männlich dominierten literarischen Szene als Frau zu behaupten. Wie ihre gleichnamige Erzählung von 1962 zeigt, ist die „Avantgarde“ männlich besetzt und der Frau wird eine untergeordnete Rolle zugewiesen. So heißt es beispielsweise in dieser autobiographischen Erzählung, in der sie ihre Erfahrungen mit Bertolt Brecht verarbeitet und sich nach eigener Aussage „ein Trauma von der Seele geschrieben“ hat: „Sie selber wollte auch schreiben. Sie war blutjung, eine kleine Studentin, die sich noch nicht kannte, den Kopf vollgesponnen von ihrem Wollen, das einstweilen doch nur anmaßend war.“ Und kurz darauf: „Er war der Mann, der schon was konnte. Sie spürte tief, wie er über ihr stand ... Sie machte die ersten Schritte. Sie lernte schreiben an der Art, wie er schrieb.“ („Avantgarde“. In: Gesammelte Werke, Dritter Band S. 117)
Nach dem Zusammenbruch des Wilhelminischen Kaiserreiches, dem damit einhergehenden Schwund an stabilen politischen Führungsautoritäten und gesellschaftlichen Leitbildern und der dadurch entstandenen politischen Instabilität und Statusunsicherheit hatten die Verhaltenslehren u. a. die Funktion, das beschädigte Selbstbewusstsein und die gestörte Identität der Nachkriegsgeneration wiederherzustellen. Mit seinem Werk „Verhaltenslehren der Kälte. Lebensversuche zwischen den Kriegen“ (1994) hat Helmut Lethen zu dieser Thematik ein Standardwerk verfasst. Die von ihm geschaffene Kunstfigur der „kalten persona“ wird als der kalte Typ der Neuen Sachlichkeit beschrieben. Der von ihr betriebene Kult der Distanz ist eine klare Absage an die Emotionalität und den Gefühlsüberschwang des Expressionismus. In der Interaktion mit anderen ist der Mensch vielmehr stets maskiert („persona“ bedeutete ursprünglich Maske!), spielt eine Rolle und verhält sich taktisch und berechnend wie ein Geschäftsmann. Die sich mit einem Kältepanzer einhüllende Kunstfigur beherrscht ihre Gefühle („Affektdisziplinierung“) und bewahrt ein stets wachsames, auf den eigenen Vorteil ausgerichtetes Verhalten. Außerdem ist ihr eine besondere Affinität zu neuen Techniken der Massenkommunikation wie Film und Fotografie zu eigen. Sie legt wenig Wert auf konventionelle moralische Normen, ist vielmehr auf der Suche nach Unterhaltung und Zerstreuung. Wegen ihres ständigen Maskenspiels sind Schein und Sein untrennbar miteinander verwoben, und ihr eigenes Selbst konstituiert sich im Zusammenspiel mit der Fremdwahrnehmung von außen. Für die folgenden Abschnitte dieser Arbeit wird an dieser Stelle die These aufgestellt, dass die hier beschriebenen Repräsentantinnen der Neuen Frau, trotz ihrer Unterschiedlichkeiten, als kühles weibliches Gegenstück zu den männlichen Verhaltenslehren der Kälte aufgefasst werden können.
4. Irmgard Keuns Roman „Das kunstseidene Mädchen“
Im Oktober 1931 erschien „Gilgi, eine von uns“, Irmgard Keuns erster Roman. Er wurde zu einem durchschlagenden Erfolg und verhalf der bis dahin unbekannten 26-jährigen Autorin zu großem literarischen Ruhm. Bereits im Juni 1932 erschien ihr zweiter Roman „Das kunstseidene Mädchen“, der ebenfalls zu einem Bestseller wurde – vor allem wohl wegen seines hohen Identifikationspotenzials für viele junge Leserinnen, die wie die 18-jährige Protagonistin Doris von einer glänzenden Karriere als Filmstar träumten. Mitte der 1970er Jahre wurden beide Romane wegen ihrer emanzipatorischen Züge von der feministischen Literaturwissenschaft als beliebter Forschungsgegenstand wiederentdeckt, was nicht unbedingt dem literarischen Selbstverständnis der Autorin entsprach.
In der folgenden kritischen Auseinandersetzung mit dem Roman „Das kunstseidene Mädchen“ geht es schwerpunktmäßig um die Frage, ob und inwieweit die bereits behandelten Verhaltenslehren nach Helmut Lethen mit ihren typisch männlich konnotierten Merkmalen der Gefühlskälte und des distanzierten Verhaltens auch für die Protagonistin Doris zutreffen. Bereits in der Einleitung zu Teil I dieser Untersuchung wurde darauf verwiesen, dass die Techniken der Selbstdarstellung und Selbstinszenierung durch ein ganzes Arsenal bewusst und gezielt eingesetzter Maskierungs- und Verführungskünste nahezu perfektioniert werden. Der Traum von der großen Karriere, die Sehnsucht nach Glanz und Glamour, der Wunsch im Rampenlicht zu stehen und bewundert und angehimmelt zu werden wurde vor allem durch den Einfluss des zeitgenössischen Mediums Film erzeugt und angetrieben. Darüberhinaus entwickelt die Protagonistin taktisch geschickt ein „System des Männerfangs“, das an die Wesensmerkmale einer „kalten persona“ nach Helmut Lethen erinnert. Dabei offenbart sie eine sehr freizügige, auf ihre persönlichen Wünsche zugeschnittene Moralauffassung, bis sie zum Schluss auch Gefühle, Sentimentalität und traditionell orientierte Auffassungen vom Zusammenleben mit einem Mann zulässt und sogar von Liebe spricht. Dies wirft die Frage auf, ob sie mit ihrem Traum vom „Glanz“ gescheitert und einsichtig geworden ist und zukünftig andere Wege einschlagen wird. Dabei darf nicht außer acht gelassen werden, dass sich die Romanhandlung im zeitgeschichtlichen Zusammenhang der Weimarer Republik und überwiegend im großstädtischen Raum abspielt. Für den Typ emanzipierte „Neue Frau“ waren Ausgehen in der Öffentlichkeit ohne Herrenbegleitung, Treffen mit Männern in Cafés und Restaurants, Alkohol trinken, Rauchen, Tanzen und Sport treiben Selbstverständlichkeiten, die nicht hinterfragt wurden. Bis zum Ende des Kaiserreichs vor allem männlich konnotierte Eigenschaften und Verhaltensweisen – Unabhängigkeit, Selbstständigkeit, Berufstätigkeit, Zielstrebigkeit, Mobilität, sexuelle Aufgeschlossenheit und Freizügigkeit – waren vielen modernen jungen Frauen ebenso zu eigen geworden wie Männern.
4.1 „Träumen vom Glanz“ und „Schreiben wie Film“
Die 18-jährige Protagonistin stammt aus einer „mittleren Stadt“ im Rheinland. Sie ist in einfachen Verhältnissen aufgewachsen, hat keine höhere Schulbildung, schämt sich wegen ihres alkoholabhängigen, arbeitslosen Vaters und fühlt sich besser aufgehoben bei ihrer Mutter, die als Garderobiere am Theater arbeitet. Sie wird stark beeinflusst durch das in Filmen, Zeitschriften, Schlagern und Reklame medial verbreitete neue Frauenbild. In ihrer äußeren Aufmachung entspricht sie nach eigener Einschätzung dem von ihr angehimmelten Idol Colleen Moore (vgl. S. 4), einem damals sehr populären amerikanischen Filmstar. In einem an anderer Stelle eingefügten Selbstporträt im Gespräch mit dem blinden Herrn Brenner offenbart sie einen Zug zur narzistischen Selbstdarstellung und Koketterie, wobei sie sich wie aus einer filmischen Perspektive gleichsam „von außen“ betrachtet, und zwar aus dem Blickwinkel eines gebildeten männlichen Experten: „Also liebes Kind, Sie haben eine sehr schöne Figur, aber ein bisschen spillrig, das ist gerade modern, und haben Augen von einem braunen Schwarz so wie die ganz alten Seidenpompons. [...] Und mein Haar ist schwarz wie ein Büffel also nicht ganz. Aber doch. Und kraus durch Dauerwellen ... Und mein Mund ist von Natur ganz blass und wenig. Und geschminkt sinnlich. Ich habe aber sehr lange Wimpern. Und eine ganz glatte Haut ohne Sommersprossen und Falten und Staub. Und das übrige ist wohl sehr schön.“ (S. 57 f.)
In ihrem selbst erdachten „Drehbuch“ will sie „schreiben wie Film“, so dass beim späteren Nachlesen „alles wie Kino“ ist und der Eindruck entsteht, „ich sehe mich in Bildern.“ (S. 4) Die Verwirklichung ihres Lebenstraumes, ein „Glanz“ (S. 26) zu werden, erfolgt also schriftlich mit Hilfe ihres „Drehbuchs“, das es ihr ermöglicht, sich bei einer späteren Lektüre wie im Kino zu erleben. Ihre Aufzeichnungen notiert sie daher in „Bildern“, die an die Erzähl- und Darstellungsweise eines Films erinnern. Diese filmische Darstellungsweise mit schnell aufeinander folgenden Schnitten und Bildsequenzen und einem Wechsel von Totale und Nahaufnahme ist für sie die angemessene Form ihrer Selbstdarstellung als Star einer imaginären Filmwelt. Hier wird deutlich, dass das Selbst- und Wirklichkeitsbild und das Schreiben der Protagonistin sich „auf der Basis von massenmedial und massenkulturell entwickelten Mustern entwickelt“ haben. (Doris Rosenstein in: Becker / Weiß Hrsg., 1995, S. 286) Die Welt des Films, ihr Karrierewunsch und ihr Schreiben sind in der Vorstellungswelt der Protagonistin untrennbar miteinander verwoben. Der Film beeinflusst ihr Schreiben und umgekehrt verwandelt sich das Geschriebene wieder in einen Film. Der unstillbare und geradezu überwältigende Wunsch nach Selbstdarstellung verdichtet sich in einem Sehnsuchtsbild, in dem sie sich als gefeierter Star auf einer Bühne erlebt: „ ... und dann hebe ich meine Arme wie eine Bühne und schiebe die große Schiebetür auseinander und bin eine Bühne. Ich glaube, dass eine Schiebetür das äußerste an Vornehmheit ist. Und schiebe sie wieder zusammen und gehe zurück und tue es nochmal – und bin eine Bühne mindestens zehnmal jeden Vormittag.“ (S. 74) Zu der filmischen Schreibweise bei Irmgard Keun äußert sich Ursula Krechel in der FAZ vom 10.04.1979 wie folgt: „In filmischen Schnitten wird Berlin um 1930 beschrieben, die glänzende, lockende Konsumfassade, das Elend der von ihr Ausgeschlossenen, die keine andere Sehnsucht haben, als daran teilzunehmen. [...] In den besten Passagen des Romans erreicht Irmgard Keun eine visuelle Dichte der Beschreibung, in der sich das Bild der Stadt nicht als Panorama entfaltet, sondern in fließenden, flirrenden Schüben ...“ (Vgl. hierzu Materialien, S. 166)
Auch in Kästners „Fabian“ spielt die Welt des Films eine besondere Rolle – insbesondere Cornelia Battenberg betreffend, die im Unterschied zu Keuns Doris tatsächlich als Schauspielerin Karriere macht. Als Drehbuchautor griff Kästner hier ebenfalls auf Erzähltechniken zurück, durch die eine Nähe zum Film sichtbar wird. Das schlägt sich zum Beispiel im szenischen Aufbau des Romans und den schnellen Szenenwechseln nieder, die teils wie abrupte Schnitte wirken und – ähnlich wie bei Keun – die Erzählweise des Romans prägen.
Die filmische Schreibweise in „Das kunstseidene Mädchen“ erinnert auch an den Roman „Leb wohl, Berlin“ („Goodbye to Berlin“) von Christopher Isherwood über seine Erlebnisse aus dem Berlin der frühen Dreißiger Jahre. Im zweiten Absatz des Romans heißt es beispielsweise: „Ich bin eine Kamera mit weit geöffneter Blende, passiv aufzeichnend, nicht denkend.!“ („I am a camera with its shutter open, quite passive, recording, not thinking.“) Und weiter: „Ich bin eine Kamera mit offenem Verschluss, nehme nur auf, registriere nur, denke nichts. Registriere den Mann, der sich am Fenster drüben rasiert, und die Frau im Kimono, die ihr Haar wäscht. Eines Tages werde ich alle diese Bilder entwickelt, sorgfältig kopiert und fixiert haben.“ (Vgl. hierzu Materialien, S. 159)
Beispielhaft für diese filmische Sicht- und Darstellungsweise ist ferner, wie Doris dem blinden Herrn Brenner auf ihren Ausflügen die visuellen Eindrücke von Berlin vermittelt. „Ich sammle Sehen für ihn“, sagt sie auf Seite 57 und fährt kurz darauf fort: „Ich packe meine Augen aus“ (S. 64), um die vielfältigen Eindrücke der Metropole aufzunehmen, zu speichern und dann wie die laufenden Bilder eines Films Herrn Brenner wiederzugeben. Alles dies bildet die Grundlage für ihr „Drehbuch“, in dem Autorin, Hauptfigur und Zuschauerin / Leserin miteinander verschmelzen. Diese Darstellungsweise kann auch als Kommentar der Autorin verstanden werden, mit dem sie auf die durch das Medium Film und seine schnelle Abfolge wechselnder Bilder veränderten Wahrnehmungsweisen der Menschen reagiert.
4.2 Das „System des Männerfangs“: Doris als „kalte persona“
Um auf der Karriereleiter emporzuklettern, um eine glamouröse Starrolle übernehmen zu können und einer schlecht bezahlten, monotonen Tätigkeit als Büroangestellte zu entkommen, muss die Protagonistin taktisch und berechnend vorgehen. Sie muss gezielt weibliche Reize und Verführungskünste einsetzen, um die alles beherrschende Männerwelt bezirzen und erobern zu können und ihren persönlichen Vorteil daraus ziehen. Zu diesem Zweck besinnt sie sich auf das „System des Männerfangs“. In ihrem gleichnamigen satirischen Essay in der Zeitschrift „Querschnitt“ (1932) hat Irmgard Keun eine Männertypologie entworfen, die sie verschiedenen Berufsgruppen zuordnete. Damit empfahl sie ihren Leserinnen in ironisierendem Ton eine Vorgehensweise, um für sich einen geeigneten Versorger zu finden. Die hier entworfenen Regeln im Umgang mit Männern gipfeln in der kompromisslosen Aufforderung, sich unter keinen Umständen in einen Mann zu verlieben, „denn dann macht man sicher alles falsch.“ (Keun: Das System des Männerfangs, S. 231) Im Roman erweist sich Doris durchgehend als virtuose Meisterin dieses Systems, obwohl sie sich im dritten Teil des Romans schließlich doch noch verliebt in Herrn Ernst („das grüne Moos“). Im Unterschied zu den Verhaltenslehren nach Helmut Lethen, wendet sich Irmgard Keun mit diesem Essay an ein ausschließlich weibliches Publikum und bildet damit einen wirksamen Gegenpol zu der männlich grundierten „kalten persona“ von Helmut Lethen. Um ihren sozialen Aufstieg zu erreichen, setzt Doris ohne Skrupel ihren Körper ein und übertrifft damit bei weitem noch Cornelia Battenberg in Kästners „Fabian“, die sich mit einem ähnlich funktionierenden System tatsächlich eine glanzvolle Filmrolle sichern kann. Beide folgen dem Prinzip der Vermarktung ihres Körpers bzw. des Tausches von Schönheit gegen Luxus, um mit diesem Tauschgeschäft ihre Zukunft abzusichern. Mit ihrer aufkeimenden Liebe für Herrn Ernst verstößt Doris jedoch gegen dieses Prinzip. Dadurch kommt es zu einem inneren Wandel und zur Erkenntnis: „Auf den Glanz kommt es nämlich vielleicht gar nicht so furchtbar an.“ (S. 130) Ob und wie lange diese Einsicht trägt und zu einer dauerhaften Verhaltensänderung führt, bleibt jedoch offen.
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1 Vgl. hierzu die folgende Passage aus dem „Vorwort" zu Joseph Roths Roman „Die Flucht ohne Ende" (1927), das schon von seinen Zeitgenossen als eine Art Manifest der Neuen Sachlichkeit angesehen wird: „Im Folgenden erzähle ich die Geschichte meines Freundes, Kameraden und Gesinnungsgenossen Frank Tunda. Ich folge zum Teil seinen Aufzeichnungen, zum Teil seinen Erzählungen. Ich habe nichts erfunden, nichts komponiert. Es handelt sich nicht mehr darum zu 'dichten'. Das wichtigste ist das Beobachtete. - Paris, im März 1927." (in: Becker 2, S. 202)
2 Diese Ausstellung trägt den Titel „Neue Sachlichkeit. Deutsche Malerei seit dem Expressionismus". Sie wird in mehreren deutschen Städten gezeigt und umfasst u. a. Werke von Otto Dix, George Grosz, Georg Scholz und Georg Schrimpf.
3 In den „Anleitungen zum Gebrauch" der Gedichte seiner „Hauspostille" empfiehlt Brecht seinen Lesern, sparsam mit ihren Gefühlsregungen umzugehen und warnt vor „Gefühlsüberschwang" beim Lesen seiner Gedichte. (Brecht: Gedichte 1, S. 39)