Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
Bindungsstörungen
Definition
Ursachen
Innere Arbeitsmodelle
Stationäre Kinder- und Jugendhilfe
Fallbeispiel L. K
Mögliche Rahmenbedingungen
Fazit
Literaturverzeichnis
Einleitung
Der Mensch ist ein soziales Wesen und geht in seinem Leben immer wieder Beziehungen ein, in denen er eine mehr oder weniger enge Bindung zu einem anderen Menschen aufbaut.
Doch die wohl wichtigste Beziehung ist die zwischen Mutter und Kind. Kann diese Mutter-Kind-Dyade nach der Geburt nicht aufrechterhalten werden, können Bindungsstörungen beim Kind die Folge sein.
In der stationären Hilfe zur Erziehung soll Kindern und Jugendlichen ein neues, positiveres Lebensumfeld zur Verfügung gestellt werden, um sie bestmöglich in ihrer Entwicklung zu fördern, wenn es in der Herkunftsfamilie nicht möglich ist. Pädagogische Fachkräfte treffen in diesem Setting häufig auf Kinder und Jugendliche, die negative Bindungserfahrungen, wie Trennung, Misshandlung oder Vernachlässigung gemacht haben. Die Arbeit mit diesen Klientinnen gestaltet sich in vielerlei Hinsicht schwierig. Nicht nur, dass Bindungsstörungen sich in mannigfaltiger Form zeigen und häufig Komorbiditäten auftreten, soll der junge Mensch trotz Schichtdienst, personellen Engpässen und hoher Fluktuation der pädagogischen Fachkräfte auch noch eine Bezugsperson finden, obwohl er in seinem Leben möglichweise noch nie feinfühliges Verhalten oder Zuwendung erlebt hat.
In der vorliegenden Arbeit sollen Bindungsstörungen als solches beleuchtet werden und anhand eines Fallbeispiels aus meiner Arbeit eine Möglichkeit der Arbeit mit betroffenen Jugendlichen aufgezeigt werden.
Bindungsstörungen
Bindung beschreibt, im Kontext dieser Arbeit, ein Teil der Beziehung zwischen einem Kind und dessen Eltern, oder anderer Betreuungspersonen.1 Der Einfachheit halber wird im Folgenden von Eltern als Überbegriff gesprochen.
Die Eltern-Kind-Bindung ist für die Entwicklung des kindlichen Charakters entscheidend. Die unterschiedliche Qualität dieser Bindung kann auch unterschiedliche Folgen für die Entwicklung des Kindes mit sich führen. Werden dem Säugling die Grundbedürfnisse nach Liebe, Schutz und Sicherheit durch die Eltern nicht erfüllt, sind die Beziehungserfahrungen damit nicht positiv, kann das Kind kein Urvertrauen aufbauen.2 So können Bindungsstörungen entstehen und sich, bei bleibenden Bedingungen, auch manifestieren.
Definition
Bindungsstörungen bezeichnen ein Störungsbild mit abnormem Beziehungsmuster. Hierbei treten soziale und emotionale Auffälligkeiten auf, welche sich vor allem in der sozialen Interaktion zeigen.3
Bindungsstörungen finden sich im ICD-10 unter:
F94.1: reaktive Bindungsstörung des Kindesalters
F94.2: Bindungsstörung des Kindesalters mit Enthemmung.4
Bei der reaktiven Bindungsstörung verhält sich das Kind meist übervorsichtig und ängstlich. Häufig ist das Verhalten ambivalent, oder scheint als dieses. Im Gegensatz dazu prägt eine enthemmte Bindungsstörung vor allem ein diffuses, nicht selektives Bindungsverhalten. Mischformen aus beiden Verhaltensauffälligkeiten sind häufig.5
Ursachen
Bindungsstörungen entstehen in den ersten Lebensjahren des Kindes, vor allem durch unzureichende oder traumatisierende Beziehungen. Hervorgerufen werden können diese Störungen durch schwerwiegende Milieuschäden, Misshandlung, Missbrauch oder Deprivation.6
Bowlby vertrat den Standpunkt, dass Säuglinge bereits von Geburt an die Bereitschaft bringen, sich an eine Bezugsperson zu binden. Der Säugling ist nicht allein überlebensfähig, wodurch er auf Bindung und die dazugehörige Person angewiesen ist. Nicht nur, damit der Säugling mit Nahrung versorgt wird, sondern auch Schutz erfährt.7
Die intuitive Suche nach einer Bindungsperson ist, nach Bowlby, ein evolutionär bedingter, selektiver Prozess. Individuen, die in einer Gruppe lebten, überlebten eher als alleinstehende. Es scheint demnach, dass es ein natürliches Verhalten des Menschen sei, sich an andere Personen zu binden, um den Schutz der Gruppe auszunutzen, um das Überleben zu sichern.8
Innere Arbeitsmodelle
Die Erfahrung, die Kinder in der Beziehung zu ihren Eltern machen, werden als mentale Repräsentanzen vom Gehirn verinnerlicht. Diese werden in der Bindungstheorie als innere Arbeitsmodelle bezeichnet. Dem Kind helfen sie eine Erwartungshaltung zu bilden, um einschätzen zu können, wie die jeweilige Bezugsperson auf seine Wunschäußerung nach Bindung reagiert. Dabei hat es auch Einfluss auf das eigene Verhalten des Kindes.9
Stationäre Kinder- und Jugendhilfe
Gerade in der stationären Hilfe zur Erziehung ist keine konstante Bindung an eine Bezugsperson möglich. Das Leben in einer stationären Kinder- und Jugendhilfeeinrichtung zwingt die Kinder und Jugendlichen in eine Gemeinschaft, welche häufig größer als die eigene Familie ist. Auch können sich Kinder und Jugendliche nicht eine Bezugsperson suchen. Die eigentlich gewünschte Mutter-Kind- Dyade, oder auch Vater-Mutter-Kind-Triade ist in der Heimerziehung nicht umsetzbar. Schichtdienst, Krankheit oder gar Kündigung erschweren die Beziehungsarbeit und Anbindung der Kinder an eine Vertrauensperson.
„In der Arbeit professioneller Ersatzpartner spielt deswegen Supervision eine ebenso wichtige Rolle wie das Vorhandensein einer konstanten Hauptbezugsperson, auf die die Beziehungsarbeit fokussiert wird. Hilfreich ist es, wenn außerfamiliär behandelte Kinder die Aufmerksamkeit der Bezugspersonen mit möglichst wenigen anderen teilen müssen."10
Laut §27 SGB VIII wird Hilfe zur Erziehung nicht dem Kind oder Jugendlichen gewährt, sondern den Eltern. Diese Formulierung impliziert, dass die Eltern zur Erziehung nicht in der Lage, oder gewillt sind und somit Hilfe in Anspruch nehmen. Hierzu gibt es unterschiedliche Möglichkeiten. Für die stationäre Hilfe zur Erziehung, auch Heimerziehung genannt, kommt §34 SGB VIII zum Tragen. Gerade bei Klienten mit Bindungsstörungen findet auch die Eingliederungshilfe für Kinder und Jugendliche nach §35a SGB VIII Anwendung. Je nach Alter des Klienten, beim Eintritt in eine stationäre Einrichtung, sind die Chancen einer positiven Nacherziehung unterschiedlich groß. Häufig fehlt bei Jugendlichen die Erziehungsbereitschaft. In diesem Alter gilt es also zuerst diese herzustellen, um auf das psychische System des Jugendlichen noch positiv einwirken zu können und sie somit zu einem gemeinschaftskonformen Leben zu befähigen.11
Fallbeispiel L. K.
L. wurde in eine instabile Familie geboren. Der Vater war schwer suchtkrank und wenig bis gar nicht an der Betreuung des Kindes beteiligt. Die Mutter, gerade erst 18 Jahre alt, konsumierte, nachdem sie in der Schwangerschaft damit pausiert hatte, nach der Entbindung ebenfalls wieder regelmäßig chemische Drogen. Die Sucht bestimmte ihren Alltag, wodurch Zeit und Aufmerksamkeit für den Säugling fehlte. Das Jugendamt war bereits seit der Geburt mit einer sozialpädagogischen Familienhilfe vertreten. Während der Besuche zeigte sich L.s Mutter liebevoll und fürsorglich. Der Junge wies keine Erscheinungen von Vernachlässigung auf, war gut genährt und hatte keine körperlichen Auffälligkeiten. Einzig die Wohnsituation machte der SPFH Sorgen. Der Vater wohnte zwar nicht mehr in der gemeinsamen Wohnung, dennoch wurde er häufig im berauschten Zustand angetroffen. Hygiene und Sauberkeit waren in der Wohnung ein großes Problem, ebenfalls neigte die Mutter zum Messiverhalten.
Nach seinem 1. Geburtstag wurden die Defizite bei L. erkennbar. Er verhielt sich oft apathisch, sprach nicht, konnte keinen Augenkontakt herstellen, war nicht in der Lage selbstständig aufzustehen und konnte sich nur robbend fortbewegen. Die Mutter verweigerte die Zusammenarbeit mit Förderprogrammen, wofür sie angab, keine Zeit zu haben.
Mit 20 Monaten wurde L. in einer stationären Einrichtung untergebracht. Regelmäßige Besuche mit der Mutter fanden statt. Als diese umzog, beantragte sie, dass L. in eine Einrichtung in ihrer Nähe untergebracht werden sollte, damit die regelmäßigen Kontakte weiterhin stattfinden könnten.
Mit 4 Jahren wurde L. nun in eine andere Einrichtung verlegt. Trotz allem Bemühen wurden die Besuche der Mutter weniger, sie verpasste Telefonzeiten mit ihrem Sohn, kam zu spät oder gar nicht zu den Besuchskontakten. Das Jugendamt legte in Zusammenarbeit mit der Einrichtung ein Besuchsverbot fest, bis die Mutter zur zuverlässigen Mitarbeit in der Lage wäre. Bis zum heutigen Tag ist sie das nicht.
[...]
1 Grossmann und Grossmann 2012, S. 31
2 Grossmann und Grossmann 2012, S. 36
3 Schneider und Weber-Papen 2010, S. 231
4 Petermann 2008, S. 34
5 Felder und Herzka 2001, S. 174 ff
6 Lentze, M.J., Schulte, F.J., Schaub, J., Spranger, J. (eds) 2007, S. 1601 ff
7 Hopf 2005, S. 29 ff
8 Hopf 2005, S. 30
9 Schleiffer 2014, S. 42
10 Petermann 2008, S. 490
11 Schleiffer 2014, S. 230 ff