Mehr Chancengleichheit durch eine Schule für Alle? Chancen und Grenzen im deutschen Bildungswesen


Fachbuch, 2021

82 Seiten


Leseprobe

1 Abbildungsverzeichnis

2 Tabellenverzeichnis

Abkürzungsverzeichnis

3 Einleitung

4 Die Chancengleichheit im Bildungssystem

4.1 Bildungserfolg in Abhängigkeit von der sozialen Herkunft

4.2 Bildungsgerechtigkeit, Chancengerechtigkeit, Chancengleichheit

4.3 Die Illusion der Chancengleichheit

5 Die Familie als Reproduktionsinstanz bei Bourdieu

5.1 Grundbegriffe der Bourdieuschen Ungleichheitstheorien

5.1.1 Der Habitus

5.1.2 Das Kapital

5.1.3 Der soziale Raum

5.2 Der Einfluss der sozialen Herkunft auf den Bildungserfolg

5.2.1 Auswirkungen der familiären Herkunft auf die Schulleistungen

5.2.2 Auswirkungen der familiären Herkunft auf Übergangsentscheidungen

6 Ungleichheitsverstärkende Effekte im deutschen Schulsystem

6.1 Soziale Ungleichheit innerhalb von Schulen

6.2 Soziale Ungleichheit am Übergang von der Primar- in die Sekundarstufe

6.3 Soziale Ungleichheit zwischen den Schulformen

6.4 Reduktion sozialer Ungleichheit durch Offenheit des Schulsystems?

7 Chancen und Grenzen einer „Schule für Alle“ in Bezug auf die Chancengleichheit im Bildungssystem

7.1 Chancen einer „Schule für Alle“

7.2 Grenzen einer „Schule für Alle“

8 Fazit

Literaturverzeichnis


Abkürzungsverzeichnis

EGP-Klassen                Erikson-Goldthorpe-Portocarero-Klassen

ESCS-Index                 Index of Economic, Social and Cultural Status

IGLU                            Internationale Grundschul-Lese-Untersuchung

OECD                           Organisation for Economic Co-Operation and Development

PISA                             Programme for International Student Assessment

TIMSS                          Trends in International Mathematics and Science Study

3 Einleitung

 

Durch das Schulsystem werden schon zehnjährige Kinder – und in der Regel definitiv – in Leistungsgruppen eingewiesen, die durch das Berechtigungswesen einer entsprechenden Gruppierung den sozialen Positionen zugeordnet sind. (...) Die Schule ist deshalb ein sozialpolitischer Direktionsmechanismus, der die soziale Struktur stärker bestimmt als die gesamte Sozialgesetzgebung der letzten 15 Jahre. (Picht, 1964, S. 31f.)

 

Der Reformpädagoge Georg Picht hat mit seinen Veröffentlichungen unter dem Titel „Die deutsche Bildungskatastrophe“ bereits in den 1960er Jahren das stark selektierende Bildungssystem als Problemzone ausgemacht und darin die Ursache nicht nur für die mangelnde Ausschöpfung von Begabungen, sondern auch für ungleiche Bildungschancen gesehen (Watermann, Maaz & Szczesny, 2009, S. 95). Die schulische Selektion findet in Deutschland so früh statt wie in kaum einem anderen Land (Oelkers, 2004, S. 222). Das Bildungssystem erfüllt damit zwar seine Platzierungsfunktion, legt Schüler*innen aber auch sehr früh auf Berufschancen fest (Vester, 2013a, S. 96). Als Reaktion auf den von Picht und anderen Reformpädagogen ausgerufenen Bildungsnotstand einigten sich Politiker*innen 1969 auf einen Schulversuch mit einer Schulform für alle: Die Gesamtschule (Lorenz, 2017, S. 16), die „als nichtselektive Schulform … bis zum Ende der Sekundarstufe Ⅰ allen Schülern eine gemeinsame gleichwohl aber differenzierte zeitgemäße Grundbildung vermitteln“[1] (Köller, 2008, S. 460) sollte. Gestützt wurde diese Idee durch die zunehmenden Inklusionsdebatten, in denen – beruhend auf Artikel drei des Grundgesetztes – eine „Bildung für alle“ gefordert wurde (u. a. Jantzen, 2018; Klafki, 2018; UNESCO, 1994). Nach Braun, Stübig und Stübig (2018, S. 8) bedeutet „Bildung für alle“, „dass alle Menschen die Möglichkeit der Teilhabe an den Bildungseinrichtungen haben müssen. Es geht um eine möglichst umfassende Bildung ohne institutionelle Beschränkung und ohne Selektion. Es geht um Demokratisierung des Bildungswesens sowie den Ausbau und die Intensivierung gemeinsamer Bildungsinstitutionen“. Bis heute existiert die Gesamtschule jedoch neben weiteren Schulformen, eine Strukturreform des deutschen Schulsystems hat also nicht stattgefunden. Nach wie vor werden Schüler*innen größtenteils im Alter von zehn Jahren auf verschiedene Schulformen aufgeteilt. Dabei ist die Anstrengung des Systems … nicht darauf gerichtet, niemanden zurückzulassen, sondern zu sortieren, wer wo hingehört“ (Oelkers, 2004, S. 222). Der Übergang von der Primar- in die Sekundarstufe stellt weiterhin „die zentrale Gelenkstelle in der Bildungsbiografie“ (Vogel, 2019, S. 33) dar, weil die Bildungsentscheidung so unkorrigierbar und mit so weit reichenden Folgen verbunden ist, wie in kaum einem anderen Bildungssystem (Oelkers, 2004, S. 222). Dass die Schule damit weniger Instanz für sozialen Aufstieg, sondern eher eine Institution der intergenerationalen Reproduktion sozialer Ungleichheit ist, zeigen zahlreiche Untersuchungen, allen voran die Schulleistungsstudien IGLU[2], TIMSS[3] und PISA[4].

 

Was also wäre, wenn das Schulsystem nicht strukturell diese verschiedenen Schulformen vorsehen würde? Ziel dieser Arbeit ist es, die Idee einer „Schule für Alle“ als einzige Schulform im deutschen Bildungssystem weiterzudenken und mögliche Chancen und Grenzen in Bezug auf die Chancengleichheit im Bildungswesen zu ermitteln. Konkret geht es um die Fragestellung, ob eine „Schule für Alle“ geeigneter ist als ein mehrgliedriges Schulsystem, um die ungleichen Bildungschancen von Schüler*innen unterschiedlicher sozialer Herkunft anzugleichen. Strukturell gleicht dieses imaginäre Modell einer „Schule für Alle“ den Einheitsschulen, wie sie beispielsweise schon erfolgreich in Kanada etabliert sind (Geißler & Weber-Menges, 2010, S. 571). Der Fokus dieser Arbeit liegt jedoch lediglich auf dem Merkmal einer gemeinsamen Beschulung aller Lernenden, sodass ein direkter Vergleich mit Schulsystemen in anderen Staaten, in denen weitere Maßnahmen Anwendung finden, nicht zielführend wäre. Vielmehr werden mithilfe von theoretischen Überlegungen und empirischen Untersuchungen ungleichheitsverstärkende Mechanismen im deutschen Bildungssystem ausgemacht, die Schlussfolgerungen über mögliche Chancen und Grenzen einer „Schule für Alle“ zulassen.

 

Dazu wird im zweiten Kapitel zunächst der Status quo der Korrelation zwischen dem Schulerfolg und der sozialen Herkunft beschrieben und der Begriff „Chancengleichheit“ – auch in Abgrenzung zu verwandten Termini – definiert. Das Thema der Chancengleichheit im Bildungssystem wurde maßgeblich von dem französischen Soziologen Pierre Bourdieu geprägt, der diese als Illusion identifiziert hat. Weiterhin hat Bourdieu im vergangenen Jahrhundert eine Reihe von Theorien zur kulturellen Reproduktion aufgestellt, die sich mühelos auf das deutsche Bildungssystem sowie die deutsche Gesellschaft übertragen lassen und auch heute noch Gültigkeit beanspruchen (Bremer & Lange-Vester, 2015, S. 82). Anhand seiner Ausführungen wird im ersten Teil des dritten Kapitels erläutert, wie sich Mitglieder verschiedener Schichten voneinander unterscheiden und wie Ungleichheiten in den Denk- und Handlungspraktiken der Akteure zustande kommen. Der Einfluss dieser im Herkunftsmilieu erworbenen Denk- und Verhaltensweisen auf den Schulerfolg ist Gegenstand des zweiten Teils von Kapitel 3. Nachdem die Herkunftsfamilie der Schüler*innen als Reproduktionsinstanz sozialer Ungleichheiten in den Blick genommen wurde, fokussiert das vierte Kapitel die ungleichheitsverstärkenden Effekte des deutschen Schulsystems. Werden soziale Ungleichheiten insbesondere am Bildungsübergang von der Primar- in die Sekundarstufe sowie durch die frühe Aufteilung von Schüler*innen auf hierarchisch gegliederte Schulformen verfestigt oder verstärkt, würde das dafür sprechen, dass eine „Schule für Alle“ die Chancenungleichheit im Bildungssystem reduzieren kann. Entstehen soziale Ungleichheiten dagegen eher durch ein ungleichheitsverstärkendes Lehrer*innenhandeln, kann auch eine solche Schulform nicht viel bewirken. Auf der Grundlage der in Kapitel 3 und 4 herausgestellten Mechanismen, die die ungleiche Chancenverteilung bedingen, werden im fünften Kapitel mögliche Chancen und Grenzen einer „Schule für Alle“ beschrieben.

4 Die Chancengleichheit im Bildungssystem

 

Grundlegend für die Untersuchung der ungleichheitsverstärkenden Mechanismen in den Familien und im deutschen Bildungssystem ist die Erfassung der Abhängigkeit des Schulerfolgs von der sozialen Herkunft in deutschen Schulen (Kapitel 2.1) sowie die begriffliche Einordnung des Ausdrucks „Chancengleichheit“ (Kapitel 2.2). In Kapitel 2.3 wird schließlich an Pierre Bourdieu und Jean-Claude Passeron (1964/1971) angeknüpft, die im französischen Bildungssystem im letzten Jahrhundert einen ähnlichen Zustand der sozialen Ungleichheit beobachten konnten, wie er heute in Deutschland existiert. Die Autoren sprechen aus verschiedenen Gründen von einer „Illusion der Chancengleichheit“.

 

4.1 Bildungserfolg in Abhängigkeit von der sozialen Herkunft

 

Die Chancenungleichheit im Bildungssystem wurde in Deutschland bereits in den 1960er Jahren öffentlich problematisiert (Geißler, 2008, S. 71). Während zu dieser Zeit noch die „katholische Arbeitertochter vom Lande“ als Idealtyp verschränkter Ungleichheiten galt, hat sich das Bild in den letzten Jahren zugunsten der Mädchen verändert (ebd., S. 85). Im Zuge der Bildungsexpansion wurden darüber hinaus durch den Ausbau von Realschulen und Gymnasien neue Bildungschancen geschaffen, von denen jedoch Schüler*innen aus allen Schichten profitierten. Die Veränderungen konnten daher nicht zu einer Angleichung der Chancen von Kindern unterschiedlicher sozialer Herkunft beitragen (ebd., S. 74f.; Geißler, 2014, S. 357). Nach Geißler (2008, S. 95) hat vielmehr ein Wandel der Chancenstruktur stattgefunden: „Die Kumulation der mehrdimensionalen Benachteiligungen hat sich von der Arbeitertochter zum Migrantensohn aus bildungsschwachen Familien verschoben“.

 

Der Fokus dieser Arbeit liegt weniger auf Ungleichheiten in Bezug auf das Geschlecht oder einen Migrationshintergrund, sondern insbesondere auf der Ungleichheit von Bildungschancen bei Schüler*innen unterschiedlicher sozialer Herkunft. Der Begriff „soziale Herkunft“ gilt dabei als sozialwissenschaftliches Konstrukt, das so erstmal nicht empirisch messbar ist. Stattdessen gehen in die Entwicklung der Erhebungsinstrumente zur objektiven Erfassung der sozialen Herkunft unterschiedliche Vorstellungen ein, die diesen Gegenstand überhaupt erst definieren (Brake & Büchner, 2012, S. 51). Grundlegend wird die soziale Herkunft über die relative Position in der Gesellschaft bestimmt, „welche die Eltern in der gesellschaftlichen Hierarchie, also in einem Gefüge von Über- und Unterordnung, einnehmen“ (ebd.).

 

Die soziale Herkunft wird oft mit dem sozioökonomischen Status gleichgesetzt, der sowohl ökonomische als auch soziale Ressourcen berücksichtigt und meist der beruflichen Tätigkeit der Eltern ein besonderes Gewicht beimisst. In den IGLU- (u. a. Hußmann et al., 2017) und TIMS- (u. a. Wendt et al., 2016) Studien  haben sich unter anderem die Erikson-Goldthorpe-Portocarero-Klassen (EGP-Klassen) zur Bestimmung des sozioökonomischen Status und damit der sozialen Herkunft etabliert. Die EGP-Klassen ordnen „Berufe nach der Art ihrer Tätigkeit (manuell, nicht-manuell, landwirtschaftlich), der Stellung im Beruf (selbstständig, abhängig, beschäftigt), den Weisungsbefugnissen (keine, geringe, große) sowie den zur Berufsausbildung erforderlichen Qualifikationen (keine, niedrige, hohe)“ (Klemm & Rolff, 2016, S. 12f.). Der International Socio-Economic Index of Occupational Status (ISEI), der beispielsweise in der ersten internationalen PISA-Erhebung (OECD, 2001) oder im deutschen Bildungsbericht (u. a. Autorengruppe Bildungsberichterstattung, 2020) Anwendung findet, basiert weniger allein auf der beruflichen Stellung, sondern fokussiert insbesondere das Einkommen und das Bildungsniveau (Klemm & Rolff, 2016, S. 12). Ab der zweiten Erhebungswelle der internationalen PISA-Studien wurde der Index of Economic, Social and Cultural Status (ESCS-Index) zur Erfassung des sozioökonomischen Status gewählt, der neben der beruflichen Tätigkeit und dem Bildungsniveau auch den Besitz von Kultur- und Wohlstandsgütern berücksichtigt (OECD, 2016a, S. 222). Weiterhin wird die soziale Herkunft in einigen Untersuchungen (u. a. Bos, 2010; Pfost, Artelt & Weinert, 2013) als Bildungsherkunft definiert. Der Bildungsgrad der Familie wird dann durch den höchsten Schulabschluss der Eltern erfasst. In dieser Arbeit werden verschiedene Studien vorgestellt, die die soziale Herkunft von Schüler*innen messen, diese jedoch unterschiedlich operationalisieren. Alle gewählten Ansätze können wichtige Hinweise liefern, lassen jedoch keinen direkten Vergleich der Daten zu.

 

Nachdem die Chancenungleichheit im Bildungssystem in den 1970er Jahren aus dem Blickfeld der Öffentlichkeit gerückt ist, wurde sie 2000 durch die erste PISA-Studie erneut öffentlich problematisiert (Maaz, Baumert & Trautwein, 2010, S. 12). Neben den im internationalen Vergleich unterdurchschnittlichen Testergebnissen im Lesen der 15-Jährigen schnitt Deutschland auch in Bezug auf die soziale Chancengleichheit verhältnismäßig schlecht ab. Im Vergleich der OECD[5]-Staaten nahm Deutschland im Jahr 2000 in diesem Bereich sogar eine Spitzenposition ein (OECD, 2001, S. 139). Zwar hat sich der Zusammenhang zwischen dem sozioökono­mischen Status und den schulischen Kompetenzen in den darauffolgenden Jahren zunächst reduziert, die Stärke des Zusammenhangs liegt aber weiterhin signifikant über dem OECD-Durchschnitt (Tabelle 1). In Tabelle 1 ist der Prozentsatz der durch den sozioökonomischen Status (gemäß ESCS-Index) erklärten Leistungsvarianz von Lernenden in den Bereichen Mathematik, Naturwissenschaften und Lesen von 2003 bis 2018 für Deutschland im Vergleich zum OECD-Durchschnitt dargestellt. Die Ergebnisse aus dem Jahr 2000 wurden in die Tabelle nicht mit aufgenommen, da in diesem Jahr ein anderer Index zur Erfassung der sozialen Herkunft verwendet wurde (Ehmke, Hohensee, Heidemeier & Prenzel, 2004, S. 252).

 

PISA-Jahr

Untersuchte Kompetenz

Prozentsatz der durch den sozioökonomischen Status erklärten Leistungsvarianz in Deutschland

OECD-Durchschnitt des Prozentsatzes der durch den sozioökonomischen Status erklärten Leistungsvarianz

2003

Mathematik

22,8%

16,8%

2006

Naturwissenschaften

19,0%

14,4%

2009

Lesen

17,9%

14%

2012

Mathematik

16,9%

14,8%

2015

Naturwissenschaften

15,8%

12,9%

2018

Lesen

17,2%

12%

 

Tabelle 1: Stärke des Zusammenhangs zwischen den Strukturmerkmalen des familiären Hintergrundes (gemäß ESCS-Index) und dem Kompetenzerwerb von 2003-2018 in den bei PISA schwerpunktmäßig untersuchten Kompetenzbereichen für Deutschland im Vergleich zum OECD-Durchschnitt (eigene Darstellung anhand der PISA-Veröffentlichungen: Ehmke et al., 2004, S. 249; OECD, 2007, S. 123; OECD, 2010, S. 55; OECD, 2013, S. 15; OECD, 2016b, S. 402; OECD, 2019, S. 17).

 

Die Unterschiede in den untersuchten Kompetenzen lassen zwar keinen direkten Vergleich zwischen allen Jahren zu, man kann aber dennoch davon ausgehen, dass bis 2015 zumindest ansatzweise eine Angleichung von Bildungschancen stattgefunden hat. 2018 scheint sich die soziale Ungleichheit in Deutschland jedoch wieder verstärkt zu haben. In diesem Jahr lassen sich 17,2% der Leistungsvarianz der Jugendlichen im Lesen auf den sozioökonomischen Status zurückführen. Obwohl der Wert leicht niedriger ist als im Jahr 2009, in dem ebenfalls die Lesekompetenz untersucht wurde, hebt er sich mit 5,2% in diesem Jahr deutlich stärker vom OECD-Durchschnitt ab als in den vergangenen Jahren. Die Chancenungleichheit im Schul­system ist damit ein beständiger und im deutschen Bildungssystem besonders schwerwiegender Zustand.

 

4.2 Bildungsgerechtigkeit, Chancengerechtigkeit, Chancengleichheit

 

Sowohl in den PISA-Studien als auch in den sich daran anschließenden bildungspolitischen Diskussionen werden in Bezug auf die enge Kopplung von sozialer Herkunft und Bildungserfolg häufig die Begriffe „Bildungs(un-)gerechtigkeit“, „Chancen(un-)gerechtigkeit“ oder Chancen(un-)gleichheit genannt, wobei sich die Wortbedeutungen zu einem großen Teil vermischen (Dietrich, Heinrich & Thieme, 2013, S. 15). Bildung wird laut der OECD (2016a, S. 219) dann als gerecht angesehen, wenn Bildungschancen gleich verteilt sind: „In PISA bedeutet Bildungsgerechtigkeit, dass allen Schülerinnen und Schülern, unabhängig von ihrem Geschlecht, ihrem familiären Hintergrund oder ihrem sozioökonomischen Status, qualitativ hochwertige Bildungschancen geboten werden“. Die Vorstellung von Bildungsgerechtigkeit als Chancengleichheit gilt – zu einem gewissen Anteil sicherlich auch dank PISA – als dominante Lesart des Bildungsgerechtigkeitsbegriffs (Heinrich, 2015, S. 241). Vor diesem Hintergrund wundert es kaum, dass die oben genannten Begriffe häufig synonym verwendet werden. Stojanov (2011, S. 18) sieht in dieser Bedeutungsvermischung jedoch einen „Skandal der wissenschaftlichen PISA-Diskussionen“, da die Begrifflichkeiten weder problematisiert noch anständig geklärt werden. Im Folgenden wird der Versuch einer Problematisierung und Abgrenzung der Begriffe vorgenommen, um die Grundlage für weitere Diskussionen auf Basis der genannten Termini in dieser Arbeit zu schaffen.

 

Bildungsgerechtigkeit wird in der einschlägigen Literatur als „fuzzy Concept“ (Dietrich et al., 2013, S. 12) oder auch als „essentially contested Concept“ (Stojanov, 2011, S. 18) bezeichnet. „Fuzzy Concepts“ sind Entitäten, Phänomene oder Prozesse, die mehr als eine Bedeutung aufweisen und dementsprechend in verschiedenen Kontexten Verwendung finden (Dietrich et al., 2013, S. 12). „Essentially contested Concepts“ bezeichnen Begriffe, die in der Literatur umstritten sind, da sie keine Sachverhalte systematisierend und neutral beschreiben, sondern vielmehr politische Praktiken bewerten (Stojanov, 2011, S. 18). Bereits bei der Betrachtung der einzelnen Wortbestandteile wird diese Uneindeutigkeit des Begriffs „Bildungsgerechtigkeit“ deutlich. Nach Stojanov (ebd., S. 17) ist Bildung kein „Gut, das man besitzt, sondern ein Entwicklungsprozess, in dem der Einzelne seine humane Existenz zur Entfaltung bringt“. Das dargestellte Bildungsverständnis bei PISA als schulische Kompetenzen verkürzt folglich den Bildungsbegriff: „Bildung ist mehr als nur PISA“ (Rauschenbach & Otto, 2004, S. 23). Zu den Bildungszielen zählen neben dem Kompetenzerwerb in den Schulfächern beispielsweise auch die Identitätsfindung, die Beziehungskompetenz und die Solidarität (ebd.). Ein ähnliches Bild ergibt sich für den Gerechtigkeitsbegriff. Gerechtigkeit ist „diskutabel, sie muss argumentativ gestützt werden. Sie kann beschworen, bezweifelt – und nicht mit Messzahlen allein begründet werden“ (Klemm & Rolff, 2016, S. 10). Die bei PISA dominierende Vorstellung von Bildungsgerechtigkeit als Verteilungsgerechtigkeit im Sinne einer gerechten Verteilung von Bildungschancen ist dabei nur eine Form der Gerechtigkeit, während andere Gerechtigkeitstheorien (Anerkennungsgerechtigkeit, Befähigungsgerechtigkeit) nicht in den Blick geraten (Heinrich, 2015, S. 240).

 

Wird in bildungspolitischen Diskussionen bei der Bildungsgerechtigkeit „Bildung“ durch „Chancen“ ersetzt, wird zumindest etwas deutlicher, worum es in den Debatten geht. Anhand des Begriffs „Chancengerechtigkeit“ wird verständlich,

 

dass es nicht mehr um einen Anspruch auf Bildung gehen kann, den man berechtigterweise hat oder nicht, sondern es scheint nur noch darum zu gehen, die Chancen auf Bildung gerecht zu verteilen. Eine Chance auf Bildung ist aber freilich schon nicht mehr das Gleiche wie Bildung selbst, sondern nur noch ein Kairos, den man am Schopfe packen muss, um eben seine (Bil- dungs-)Gelegenheit auch zu nutzen. (ebd.)

 

Dennoch ist auch Chancengerechtigkeit ein „fuzzy Concept“ bzw. ein „essentially contested Concept“, da aus dem Begriff erstmal nicht hervorgeht, wann die Chancenverteilung als gerecht anzusehen ist: „Was mit gerecht gemeint ist, bleibt offen und kann entsprechend auch Ungleichheit und damit das Ausbleiben eines Ausgleichs implizieren“ (Dietrich et al., 2013, 18f.).

 

An dieser Stelle bietet sich die Betrachtung des Begriffs „Chancengleichheit“ an. Klemm und Rolff (2016, S. 10) ordnen „Gleichheit“, im Gegensatz zur „Gerechtigkeit“, einer empirischen Kategorie zu. Wenn etwas gleich ist, lässt sich diese Gleichheit messen und ist von etwas anderem, den Messdaten zufolge nicht mit dem Übereinstimmendem, abgrenzbar. Die Daten sind dann nicht diskutabel, da sie empirisch erhoben wurden (ebd.). Gleichheit ist also in der Theorie keineswegs ein „fuzzy Concept“ oder „essentially contested Concept“. Nach Stojanov (2011, S. 31) ist der Begriff „Chancengleichheit“ aber dennoch „unscharf und zuweilen auch irritierend“. Dem Autor zufolge kann die Chancengleichheit im Bildungssystem zunächst sowohl als „Gleichheit der Chancen zur Bildung“ als auch als „Gleichheit der Chancen durch Bildung“ verstanden werden (ebd., S. 33). Mit der ersten semantischen Dimension ist ein gleicher Zugang zu Bildungsangeboten wie beispielsweise einem qualitativ guten Unterricht gemeint, mit der zweiten die Herstellung von gleichen Chancen zum sozialen Aufstieg und sozialer Partizipation (ebd.). Unter Berücksichtigung der ungleichen Voraussetzungen der Schüler*innen sowie der Möglichkeiten des Schulsystems erweisen sich jedoch beide Dimensionen als zu oberflächlich: Erstens ignoriert die erste Lesart „Chancengleichheit zur Bildung“, also die formelle Gleichbehandlung von Schüler*innen am Beginn der Bildungslaufbahn, dass diese bereits durch ihre unterschiedlichen Startbedingungen bevorzugt oder benachteiligt sind:

 

Man unterscheidet Chancen auf Bildung im Sinne des Zugangs zu Bildungsangeboten und Bildungschancen im Sinne des subjektiven Bildungs- und Kompetenzerwerbs. Letzteres setzt nicht nur den Zugriff auf Bildungsangebote, sondern auch die subjektive Fähigkeit voraus, die objektiv zur Verfügung stehenden Bildungsangebote in subjektive Bildung zu transformieren. (Neuhoff, 2010, S. 7; zit. n. Horster, 2015, S. 47)

 

Eine gleiche Verteilung von Bildungsangeboten führt weiterhin zu einer ungleichen Verteilung von Bildungschancen, wenn die Schüler*innen mit unterschiedlichen Startbedingungen in ihre Bildungslaufbahn eintreten, sie also in ungleichem Maße in der Lage sind, die Bildungsangebote zu nutzen. Zweitens stellt die Dimension „Chancengleichheit durch Bildung“ im Sinne einer „Gleichmachung“ der Ressourcen, Fähigkeiten und Motivationsstrukturen von Individuen „eine hoffnungslose Überschätzung der Möglichkeiten von Schulbildung“ (Stojanov, 2011, S. 33) dar.

 

Stojanov (ebd., S. 34) schlägt vor diesem Hintergrund die Bezeichnung „Chancengleichheit durch Bildung zur Bildung“ vor. Durch diese Kombination der beiden Dimensionen ergibt sich eine weitere Lesart des Begriffs „Chancengleichheit“, die im Kern realisierbar sein könnte. „Chancengleichheit durch Bildung zur Bildung“ verspricht allen Schüler*innen gleiche Chancen zur Bildung im Sinne einer Startchancengleichheit, indem durch Bildung eine Angleichung der Voraussetzungen zum Erreichen von Bildungszielen erfolgt (van Ophuysen, Riek & Dietz, 2015, S. 334). Erhalten Lernende durch Bildung die gleichen Chancen auf Schulerfolg, sind sie für das Ergebnis folglich selbst verantwortlich und Unterschiede in den Bildungsabschlüssen werden dann akzeptiert (ebd.). Der Begriff der Chancengleichheit stellt somit das Konkurrenzprinzip als Gerechtigkeitsprinzip vor: „Wenn im fairen Kampf um ein knappes Gut gerungen wird, dann ist das Ergebnis – ganz gleich wie es ausfällt – damit legitimiert“ (Heinrich, 2015, S. 241). Die Chancengleichheit hat nach diesem Verständnis, im Gegensatz zur Ergebnisgleichheit, Ungleichheit zum Zweck (ebd.).

 

4.3 Die Illusion der Chancengleichheit

 

Durch die Gewährleistung von Chancengleichheit im Sinne eines fairen Leistungswettbewerbs wird die Verantwortung für Bildungserfolg und -misserfolg „in einer responsibilisierenden Art und Weise … an die Subjekte delegiert“ (Dietrich et al., 2013, S. 17). Das Schulsystem legitimiert leistungsbezogene Selektion anhand des meritokratischen Prinzips, demzufolge alle Menschen formal gleichgestellt sind und nur durch Leistung und Verdienst ihre Position in der Gesellschaft erarbeiten können (Solga, 2008, S. 20).

 

Bourdieu und Passeron haben sich bereits 1964 in ihrem Werk „Les Héritiers: Les Etudiants et la Culture“ (deutscher Titel: „Die Illusion der Chancengleichheit“ (1964/1971)) mit dieser Legitimation der Ungleichheiten in den Bildungsabschlüssen auseinandergesetzt. Die Autoren untersuchten die Hochschulbesuchsquoten in Frankreich in Abhängigkeit von der sozialen Herkunft und konstatierten einen signifikanten Zusammenhang: „Die Statistik zeigt, daß das Schulsystem objektiv eine umso totalere Eliminierung vornimmt, je unterprivilegierter die Klassen sind“ (Bourdieu & Passeron, 1964/1971, S. 20). Die Illusion der Chancengleichheit beruht dabei insbesondere auf zwei Effekten der Bildungsinstitution (Fuchs-Heinritz & König, 2011, S. 41). Erstens werden unterschiedliche Voraussetzungen zum Kompetenzerwerb bedingt durch die soziale Herkunft entgegen der Idee der Chancengleichheit nicht kompensiert, sondern ignoriert. Das Bildungssystem misst damit keine objektiven Leistungen und bewertet rein nach Begabung und Anstrengungsbereitschaft, sondern reproduziert die gesellschaftlichen Hierarchien (Bourdieu & Passeron, 1964/1971, S. 20f.; Bremer, 2008, S. 1528). Zweitens verschleiert das Bildungssystem unter dem Deckmantel der Meritokratie herkunftsbedingte Unterschiede und unterstellt damit, dass die verschiedenen Bildungsverläufe aufgrund von Begabungsunterschieden zustande kommen (Bourdieu & Passeron, 1964/1971, u. a. S. 45, 82, 86). Soziale Privilegien werden damit in individuelles Verdienst umgedeutet (ebd., S. 45) und die unterschiedlichen Bildungsverläufe legitimiert. Die Illusion der Chancengleichheit basiert insgesamt also auf einer Reproduktion sozialer Unterschiede in der Gesellschaft durch das Bildungssystem und einer Legitimation dieser Praxis: „Erfolgreicher denn je … kann das Bildungswesen seine Funktion der Perpetuierung [also Aufrechterhaltung (Anm. d. Verf.)] sozialer und kultureller Privilegien wahrnehmen, indem es die Ausübung dieser Funktion besser denn je zu verbergen versteht“ (ebd., S. 190).

5 Die Familie als Reproduktionsinstanz bei Bourdieu

 

Dass allen Schüler*innen ein meritokratischer Zugang zu den höheren Bildungsgängen garantiert ist, wurde im vorigen Kapitel widerlegt. Welche Einflussgrößen an dem Zustandekommen sozialer Disparitäten im Bildungssystem beteiligt sind, geht aus den Untersuchungen jedoch nicht hervor. Grundsätzlich lassen sich zwei umfassende Erklärungsversuche identifizieren, die danach unterschieden werden können, welche Aspekte der bildungsbezogenen Ungleichheiten sie fokussieren: Zum einen das familiäre Umfeld, das durch die primäre Sozialisation nachhaltig Einfluss auf die Entwicklung des Kindes nimmt und zum anderen die Schule selbst (Brake & Büchner, 2012, S. 83). In diesem dritten Kapitel liegt der Fokus auf der Familie als Reproduktionsinstanz. Pierre Bourdieu hat dazu ein „Modell soziokultureller Reproduktion von herkunftsabhängiger Bildungsungleichheit“ (ebd., S. 84) entworfen, das auf drei zentralen Begriffen beruht: dem Habitus, dem Kapital und dem sozialen Raum. In diesem Kapitel werden diese Begriffe Bourdieus zunächst umfassend erläutert, um anschließend die Effekte der familiären Herkunft zu betrachten, die zu den ungleichen Bildungschancen führen.

 

5.1 Grundbegriffe der Bourdieuschen Ungleichheitstheorien

 

Mit seiner Klassentheorie hat Pierre Bourdieu ein Modell sozialer Herkunft entworfen, das sowohl ökonomische und soziale als auch kulturelle Aspekte der Klassenbildung berücksichtigt (Fröhlich & Rehbein, 2014, S. 141). In den folgenden Ausführungen werden die Mechanismen vorgestellt, die nach Bourdieu zur Reproduktion und Aufrechterhaltung der Klassenverhältnisse beitragen.

 

5.1.1 Der Habitus

 

Der Habitus bildet das Kernstück der Bourdieuschen Soziologie (Fuchs-Heinritz & König, 2011, S. 112) und leistet einen entscheidenden Beitrag zur Erklärung der Reproduktion und Aufrechterhaltung gesellschaftlicher Verhältnisse (Koller, 2012, S. 150). Bourdieu definiert den Habitus als System verinnerlichter Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsschemata (1980/1987, S. 112), die der Kategorisierung und Interpretation von Wahrnehmungen dienen, ästhetische Maßstäbe zur Bewertung kultureller Objekte und Praktiken setzen und das Handeln von Menschen leiten (Fuchs-Heinritz & König, 2011, S. 113). Die Lebensweise einer Person, ihre Sprache, ihre Kleidung, ihre Körperhaltung sowie ihre sexuellen und kulinarischen Vorlieben werden somit durch den Habitus bestimmt (Bourdieu, 1982/2005, S. 31f.). Diese Denk- und Handlungsdispositionen sind nicht angeboren, sondern werden durch Erfahrungs- und Lernvorgänge, insbesondere in der Kindheit, geprägt. Der Habitus ist damit „Produkt der Geschichte“ (Bourdieu, 1980/1987, S. 101) bzw. „Präsenz der Geschichte, die ihn erzeugt hat“ (ebd., S. 105). Bourdieu geht dabei davon aus, dass der Habitus als ein in der Sozialisation vorwiegend unbewusst erworbenes „Bündel von Dispositionen“ (Fuchs-Heinritz & König, 2011, S. 116) relativ stabil ist und „inflexibel auf neue Situationen, die er handlungspraktisch zu bearbeiten nicht (ausreichend) in der Lage ist“ (ebd., S. 121), reagiert. An anderer Stelle bezeichnet Bourdieu (1982/2005, S. 33) den Habitus als „System von Grenzen“, die zwar die Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsmöglichkeiten von Individuen steuern, diese jedoch nicht gänzlich festlegen. Innerhalb dieser Grenzen sind also durchaus Veränderungen möglich: „Insofern ist der Habitus nicht starr, sondern veränderlich und bereit, auf veränderte gesellschaftliche Konstellationen … und auf neue Bedingungen in der Laufbahn zu reagieren“ (Fuchs-Heinritz & König, 2011, S. 131). Der Habitus gibt damit weniger spezifische Handlungen vor, sondern umfasst ein gewisses Spektrum verschiedener Handlungsweisen (Vester, 2013b, S. 141), das sich aus den jeweiligen individuellen Existenzbedingungen ergibt (Bourdieu, 1979/1987, S. 278; Bourdieu, 1980/1987, S. 111f.). Dabei ähneln sich die Existenzbedingungen von Individuen innerhalb einer Klasse:

 

Als Klasse von identischen oder ähnlichen Existenzbedingungen und Konditionierungen ist die gesellschaftliche Klasse (an sich) untrennbar zugleich eine Klasse von biologischen Individuen mit demselben Habitus als einem System von Dispositionen, das alle miteinander gemein haben, die dieselben Konditionierungen durchgemacht haben. Zwar ist ausgeschlossen, daß alle Mitglieder derselben Klasse (oder auch nur zwei davon) dieselben Erfahrungen gemacht haben, und dazu noch in derselben Reihenfolge, doch ist gewiß, daß jedes Mitglied einer Klasse sehr viel größere Aussichten als ein Mitglied irgendeiner anderen Klasse hat, mit dem für seine Klassengenossen häufigsten Situation konfrontiert zu werden. (Bourdieu, 1980/1987, S. 111f.)

 

Der individuelle Habitus ist damit auch Ausdruck der jeweiligen Klasse und in diesem Zusammenhang ein „Klassenhabitus“ (ebd., S. 112). Jeder Klasse sind entsprechend bestimmte Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsweisen zuzuordnen, die Individuen innerhalb einer Soziallage teilen, die aber gleichzeitig auf der Grundlage der Existenzbedingungen innerhalb dieser Klasse entstanden sind. Oder in Bourdieus Worten:

 

Der Habitus ist nicht nur strukturierende, die Praxis wie deren Wahrnehmung organisierende Struktur, sondern auch strukturierte Struktur: das Prinzip der Teilung in logische Klassen, das der Wahrnehmung der sozialen Welt zugrunde liegt, ist seinerseits Produkt der Verinnerlichung der Teilung in soziale Klassen. (Bourdieu, 1979/1987, S. 279)

 

Die strukturierende Wirkung des Habitus zeigt sich in den verschiedenen Wahrnehmungsformen und Lebensstilen, die es Individuen erlauben, sich innerhalb ihres Feldes „wie Fische im Wasser“ (Bourdieu, 1983, S. 195) zu bewegen. Die Individuen selbst stellen auf der Grundlage von bereits erworbenen Deutungs- und Interpretationsmustern die Daseinsverhältnisse aktiv her. Durch den Habitus sind sie damit in der Lage, soziale Praxis zu erzeugen und in ihr zu partizipieren (Bauer, 2011, S. 136f.). Neben der Vorstellung des Habitus als einer Instanz, die Ungleichheiten produziert, ist er zugleich aber auch Produkt gesellschaftlicher Unterscheidungs- und Teilungsprinzipien. Einstellungs-, Kompetenz- und Fähigkeitsunterschiede ergeben sich demnach durch die „Besonderheit der sozialen Lebensläufe“ (Bourdieu, 1980/1987, S. 113). Auf die sozialen Ungleichheiten in der Gesellschaft wirkt der Habitus folglich reproduzierend: „Der Habitus ist … nicht nur Ausdruck und Resultat sozialer Ungleichheit, sondern reproduziert sie zugleich, in dem er als das Ergebnis der Geschichte sozialer Gruppen die Wirksamkeit zugrunde liegender Strukturen und Beziehungen bewahrt“ (Rohlfs, 2011, S. 71). Insgesamt erklärt Bourdieu mit dem Habitusbegriff zwei Prinzipien: Er macht zum einen verständlich, wie soziale Disparitäten durch Denk-, Wahrnehmungs- und Handlungsunterschiede zustande kommen („strukturierende Struktur“) und verdeutlicht zum anderen, wie die soziale Herkunft die Handlungspraxis und Einstellungen beeinflusst („strukturierte Struktur“).

 

5.1.2 Das Kapital

 

Bourdieu (1983, S. 183) bezeichnet Kapital als „akkumulierte Arbeit, entweder in Form von Materie oder in verinnerlichter, ‚inkorporierter‘ Form“. Die Aneignung von Kapital als „sozialer Energie“ (Bourdieu, 1979/1987, S. 194) erfordert Investitionen, insbesondere in Form von Zeit (Bourdieu, 1983, S. 183). Die Kapitalstrukturen weisen in der Folge eine außerordentliche Stabilität auf (ebd.), die sich unter anderem dadurch ergibt, „dass ihre Reproduktion zumeist … vor dem Hintergrund von Dispositionen erfolgt, die selbst wiederum das Resultat wirksamer Kapitalstrukturen und aus diesem Grund von vornherein durch diese geprägt sind“ (Rohlfs, 2011, S. 74). Da Kapital durch das familiäre Umfeld übertragen oder auf der Grundlage des bereits verinnerlichten Habitus erworben wird, sind Kapitalien zwangsläufig ungleich verteilt (ebd.). Die Verteilungsstruktur des Kapitals ist dabei dafür verantwortlich, dass Individuen „nicht alles gleich möglich oder unmöglich ist“ (Bourdieu, 1983, S. 183) und korreliert folglich auch „mit den der sozialen Welt inhärenten Strukturen und Zwängen“ (Rohlfs, 2011, S. 74). Das jeweils verfügbare Kapital entscheidet dementsprechend über Erfolgschancen von Individuen im gesellschaftlichen Leben (Bourdieu, 1983, S. 183).

 

Bourdieu unterscheidet verschiedene Formen des Kapitals, verwendet die jeweiligen Bezeichnungen jedoch nicht immer einheitlich. Meist spricht er von dem ökonomischen, dem kulturellen und dem sozialen Kapital als den drei Grundformen, nennt aber auch zahlreiche weitere Kapitalsorten (z. B. symbolisches Kapital, wirtschaftliches Kapital, politisches Kapital, staatliches Kapital) (Rohlfs, 2011, S. 75). Im Folgenden werden zunächst die drei Grundformen des Kapitals näher beschrieben, um anschließend das symbolische Kapital in eigenständiger Verwendung zu erläutern.

 

Das ökonomische Kapital bezeichnet den materiellen Reichtum einer Person, der unmittelbar in Geld konvertierbar ist (Bourdieu, 1983, S. 185). Es liegt den anderen Kapitalarten zugrunde und wird von Bourdieu aus diesem Grund als besonders wichtig angesehen. Dennoch lassen sich die anderen Formen des Kapitals nicht unbedingt direkt auf das ökonomische Kapital zurückführen (Fuchs-Heinritz & König, 2011, S. 163).

 

Die zweite Kapitalform, das kulturelle Kapital, kann drei verschiedene Formen annehmen: Kulturkapital im inkorporierten, objektivierten und institutionalisierten Zustand (Bourdieu, 1983, S. 185; Bourdieu, 1966/2001, S. 113). Das Kulturkapital im inkorporierten, also verinnerlichten, Zustand bezeichnet „dauerhafte Dispositionen des Organismus“ (Bourdieu, 1983, S. 185), die durch eine Ansammlung kultureller Fähigkeiten zustande kommen. Bourdieu (1966/2001, S. 113) setzt die Akkumulation von inkorporiertem Kulturkapital mit „Bildung“ gleich, in die Zeit investiert werden muss, die jedoch nicht auf die Schulbildung reduziert werden darf: „Schule verfügt über eine bedeutsame Zertifizierungsmacht, über das Monopol der Produktion kulturellen Kapitals verfügt sie nicht“ (Rohlfs, 2011, S. 80). Der Großteil der Akkumulation inkorporierten Kulturkapitals findet im familiären Umfeld statt (Bourdieu, 1979/1987, S. 143). Beispielhaft nennt Bourdieu (1983, S. 187) hier die Sprechweise einer Person, die „immer von den Umständen seiner ersten Aneignung geprägt“ bleibt. Durch Verinnerlichungsprozesse ist diese „zu einem festen Bestandteil der ‚Personʼ, zum Habitus geworden …; aus ‚Habenʼ ist ‚Seinʼ geworden“ (ebd.). Dabei erfolgt diese Inkorporierung des kulturellen Kapitals häufig ohne ausdrücklich geplante Erziehungsmaßnahmen, sondern völlig unbewusst (ebd.). Voraussetzung für eine schnelle und mühelose Aneignung dieses Kapitals ist jedoch ein starkes Kulturkapital in der Familie (ebd., S. 188; Bourdieu, 1966/2001, S. 116).

 

Das inkorporierte Kulturkapital ist auch bei der Erläuterung des objektivierten Kulturkapitals wesentlich. Dieses tritt „in Form von kulturellen Gütern, Bildern, Büchern, Lexika, Instrumenten oder Maschinen [auf], in denen bestimmte Theorien und deren Kritiken, Problematiken usw. Spuren hinterlassen oder sich verwirklicht haben“ (Bourdieu, 1983, S. 185). Man besitzt diese Gegenstände also nicht einfach, sondern man macht sie „zum Gegenstand materieller Aneignung“ (ebd., S. 188), was verinnerlichtes Kulturkapital voraussetzt (ebd., S. 188f). So ist beispielsweise inkorporiertes Kulturkapital notwendig, um ein Instrument spielen oder ein Gemälde wertschätzen zu können (Bourdieu, 1966/2001, S. 117). Das verinnerlichte Kulturkapital kann in Form von (schulischen) Titeln zum Ausdruck gebracht werden, die als Zeichen kultureller Kompetenz dienen. Zeugnisse dieser Art bezeichnet Bourdieu als institutionalisiertes Kulturkapital. Da einer Person durch einen Titel institutionelle Anerkennung verliehen wird und die Chancen auf dem Arbeitsmarkt steigen, ist dieser indirekt in ökonomisches Kapital übertragbar (Bourdieu, 1983, S, 189f.;  Bourdieu, 1966/2001, S. 118f.).

 

Mit der dritten Kapitalart, dem sozialen Kapital, meint Bourdieu (1983, S. 190f.) „Ressourcen, die auf der Zugehörigkeit zu einer Gruppe beruhen“. Ein soziales Netzwerk erfordert zwar zum einen Investitionen, beispielsweise in Form von Zeit oder ökonomischem Kapital, kann auf der anderen Seite aber auch einen großen Nutzen bedeuten. So kann die Person bestimmte „Gefälligkeiten“ in Anspruch nehmen, erhält Anerkennung durch die Mitgliedschaft in einer bestimmten Gruppe und ist „kreditwürdig“. Durch die ständige Beziehungsarbeit wird das Sozialkapital reproduziert und die gegenseitige Wertschätzung immer wieder neu bestätigt. Grundlage der Sozialbeziehungen sind also materielle und/oder symbolische Tauschbeziehungen (ebd.).

 

Wertschätzung und Anerkennung lassen sich auch dem symbolischen Kapital zuordnen, das aus den Chancen besteht, soziales Prestige zu erhalten (Fuchs-Heinritz & König, 2011, S. 171). Bourdieu zufolge bezeichnet das symbolische Kapital die „wahrgenommene und als legitim anerkannte Form der drei vorgenannten Kapitalien (gemeinhin als Prestige, Renommee usw. bezeichnet)“ (Bourdieu, 1982/1985, S. 11). So kann beispielsweise kulturelles Kapital durch Bildungszertifikate und ökonomisches Kapital durch „Sponsoring“ in symbolisches Kapital umgewandelt werden (Rohlfs, 2011, S. 83). Es ist aber keine „besondere Art Kapital, sondern das, was aus jeder Art von Kapital wird, das als Kapital, das heißt als (aktuelle oder potenzielle) Kraft, Macht oder Fähigkeit zur Ausbeutung verkannt, also als legitim anerkannt wird“ (Bourdieu, 1997/2001, S. 311). Die Legitimation der symbolischen Macht geschieht nach Bourdieu und Passeron (1972/1973) in Form von „symbolischer Gewalt“, die als „Durchsetzung von Bedeutungen und ihrer Legitimität bei gleichzeitiger Verschleierung der Kräfteverhältnisse, die der Gewalt zugrunde liegen“ (Fröhlich & Rehbein, 2014, S. 230) definiert werden kann.

 

5.1.3 Der soziale Raum

 

Bourdieu hat ein Modell entworfen, das die sozialen Positionen der Mitglieder einer Gesellschaft sowie ihre Handlungs- und Denkmuster (Lebensstile) erfasst. Dem Autor zufolge

 

läßt sich die soziale Welt in Form eines – mehrdimensionalen – Raums darstellen, dem bestimmte … Verteilungsprinzipien zugrundeliegen; und zwar die Gesamtheit der Eigenschaften (bzw. Merkmale), die innerhalb eines fraglichen sozialen Universums wirksam sind, das heißt darin ihrem Träger Stärke bzw. Macht verleihen. Die Akteure oder Gruppen von Akteuren sind anhand ihrer relativen Stellung innerhalb dieses Raums definiert. (Bourdieu, 1982/1985, S. 9)

 

Der Raum der sozialen Positionen wird mithilfe der bereits genannten Kapitalarten konstruiert. Die Mitglieder einer Gesellschaft verteilen sich in diesem Raum je nach Gesamtumfang an Kapital (Kapitalvolumen), über das sie verfügen, und nach Zusammensetzung des Kapitals (Kapitalstruktur). Die Kapitalstruktur bezeichnet das Verhältnis des ökonomischen und kulturellen Kapitals zueinander (ebd., S. 11). So verfügt beispielsweise eine Lehrkraft über ein höheres kulturelles Kapital als ein professioneller Fußballspieler ohne Schulabschluss, besitzt zugleich aber weniger ökonomisches Kapital. Graphisch kann dieser Raum der sozialen Positionen mithilfe eines Koordinatensystems veranschaulicht werden (ebd.), bei dem das Kapitalvolumen die vertikale Achse einnimmt, während die Kapitalstruktur auf der horizontalen Achse abgebildet wird (Abbildung 1).

 

 

Abbildung 1: Der Raum der sozialen Positionen

 

(Schwingel, 2000, S. 106)

 

Bourdieu geht weiterhin davon aus, dass die Position von Individuen oder Gruppen von Individuen im Raum der sozialen Positionen Aussagen über deren Lebensweise und ihren Geschmack zulässt (Koller, 2012, S. 149).

 

In seinem Werk „Die feinen Unterschiede“ (1979/1987) verknüpft Bourdieu die objektive Struktur der Klassen mit der Struktur der Lebensstile als „repräsentierte soziale Welt“ (ebd., S. 278). Lebensstile sind gekennzeichnet durch Wertvorstellungen, Geschmäcker, ästhetische Präferenzen sowie den Konsum und die Lebensführung betreffende Vorlieben (Fuchs-Heinritz & König, 2011, S. 184) und fungieren „als distinktive Zeichen, die die relative Distanz bzw. Nähe zu anderen im sozialen Raum befindlichen Formen der Lebensführung dokumentieren“ (Bauer, 2011, S. 122). Der Habitus ist dabei „Erzeugungsprinzip“ (Bourdieu, 1979/1987, S. 277) der Unterschiede in der Lebensführung:

 

Der Habitus bewirkt, daß die Gesamtheit der Praxisformen eines Akteurs (oder einer Gruppe von aus ähnlichen Soziallagen hervorgegangen Akteuren) als Produkt der Anwendung identischer (oder wechselseitig austauschbarer) Schemata zugleich systematischen Charakter tragen und systematisch unterschieden sind von den konstitutiven Praxisformen eines anderen Lebensstils. (ebd., S. 278)

 

Die Lebensstile sind also „systematische Produkte des Habitus“ (ebd., S. 281) und somit „eine Folge von Sozialisation bzw. ,sozialer Vererbung‘“ (Koller, 2012, S. 149). In Bourdieus Modell wird der Raum der sozialen Positionen (Abbildung 1) um den Raum der Lebensstile erweitert, indem die Lebensstile „wie eine Folie“ auf den Raum der sozialen Positionen gelegt werden (Bourdieu, 1979/1987, S. 211). Die folgende Illustration ist eine vereinfachte Darstellung eines Ausschnitts von Bourdieus Modell, die keinen Anspruch auf Vollständigkeit hat, sondern einen Teil der von Bourdieu unterschiedenen Lebensstile an den von ihm gewählten Positionen im sozialen Raum erfasst (Abbildung 2).

 

 

Abbildung 2: Der soziale Raum

 

(eigene Darstellung nach Bourdieu (1979/1987, S. 212f.))

 

Bourdieu (ebd., S. 277) betont, dass es sich bei diesem Modell um eine „abstrakte Darstellung, ein Konstrukt“ (ebd.) handelt, das Aufschluss darüber gibt, in welchem „System von Grenzen“ (Bourdieu, 1982/2005, S. 33) sich Mitglieder einer Klasse bewegen, das jedoch keine Rückschlüsse auf spezifische individuelle Handlungen zulässt. Es darf also nicht das Missverständnis entstehen, dass aus der sozialen Stellung die Lebensstile der Individuen kausal abgeleitet werden können (Vester, 2013b, S. 144). Dennoch lassen sich drei Hauptklassen (herrschende, Mittel- und untere Klasse) ausmachen, denen Bourdieu typische bzw. klassenspezifische Ausdrucks-, Denk- und Handlungsformen zuordnet:

 

Die herrschende Klasse, die sich ihrerseits in zwei Untergruppen unterteilen lässt, kennzeichnet ein hohes Selbstbewusstsein:

 

Es [„das umfassende und unmerklich vor sich gehende, bereits in frühester Kindheit im Schoß der Familie einsetzende Lernen“ (Bourdieu, 1979/1987, S. 121f.; Anm. d. Verf.)] verleiht mit der Gewißheit, im Besitz der kulturellen Legitimität zu sein, Selbstsicherheit und jene Ungezwungenheit, an der man die herausragende Persönlichkeit zu erkennen meint. (ebd., S. 121)

 

Dabei unterscheiden sich die Mitglieder der Gesellschaft mit einem hohen ökonomischen Kapital von denen mit einem hohen Kulturkapital durch ihre Lebensstile. Erstgenannte bevorzugen beispielsweise Messeausstellungen, Golf und Fernreisen, während die andere Gruppe gerne Museen besucht, klassische Musik hört oder Bergsteigen geht (ebd., S. 442; s. auch Abbildung 2). Die Mittelklasse ist charakterisiert durch „Bildungseifer“ (ebd., S. 503), versucht jedoch vergeblich, „sich in eine Kultur [die Kultur der herrschenden Klasse (Anm. d. Verf.)] zu integrieren, die ihr im Wesentlichen fremd gegenübersteht“ (ebd., S. 504). Auch bei dieser Klasse differenziert Bourdieu verschiedene Untergruppen: Im Gegensatz zum absteigenden Kleinbürgertum, das eine saubere und praktische Wohnungseinrichtung bevorzugt (ebd., S. 541), versucht das neue, also aufsteigende, Kleinbürgertum durch „kleine Tricks“ seine Behausung „kunstreich zu multiplizieren“ (ebd., S. 503). Die dritte bzw. untere Klasse orientiert sich am Praktischen und reduziert Verhalten und Objekte auf ihre technische Funktion (ebd., S. 594). Sie ist gekennzeichnet durch die „Entscheidung für das Notwendige“ (ebd.), was beispielsweise an der pflegeleichten Wohnungseinrichtung und der preisgünstigen Kleidung erkennbar ist (ebd., S. 591f.).

 

Mit seinem Konzept des sozialen Raums vollzieht Bourdieu einen Bruch mit den klassischen Klassen- und Schichtmodellen, die von einer vertikal ausgerichteten Einteilung der Gesellschaft ausgehen (Vester, 2013b, S. 138). Durch die Einführung einer horizontalen Dimension gelingt es ihm, die Ausdifferenzierung der Individuen innerhalb einer Klasse zu erfassen und der Pluralisierung der Lebensstile gerecht zu werden (Lange-Vester & Vester, 2018, S. 168). Er konzipiert die Gesellschaft anhand des Konzepts als „ein dynamisches mehrdimensionales Kräftefeld, das nicht nur vertikal, sondern auch horizontal geöffnet ist“ (Bremer & Lange-Vester, 2014, S. 61).

 

Vester, von Oertzen, Geiling, Hermann und Müller (2001) knüpften an dieses Verständnis der Gesellschaft als mehrdimensionalem Raum an und entwickelten auf der Grundlage der Überlegungen Bourdieus eine „neue ,Landkarte‘ sozialer Milieus“ (Lange-Vester & Vester, 2018, S. 170). Milieus gelten als „Nachfahren“ der früheren Stände, Klassen und Schichten (Vester et al., 2001, S. 168) und sind zweifach bestimmt: „,Objektiv‘ durch eine (berufliche) Position in der Gesellschaft, ,subjektiv‘ durch einen darauf abgestimmten ,moralischen Habitus‘“ (Bremer, 2012, S. 834). Die „Landkarte“ zeigt die Gliederung des Milieugefüges in der Gesellschaft, indem die drei vertikalen Schichtungsstufen auf horizontaler Ebene ausdifferenziert werden. Jeder vertikalen Stufe lassen sich nun Milieus zuordnen, die sich in ihrem Habitus voneinander unterscheiden (Lange-Vester & Vester, 2018, S. 171). Vester et al. (2001, S. 324) gehen dabei davon aus, dass sich die Abgrenzungen auf horizontaler Ebene vor allem durch die mehr oder weniger starke Betonung von Eigenständigkeit gegenüber äußeren Vorgaben bzw. die Einstellung zur Autorität ergeben. Auf dieser Ebene finden im Vergleich der Eltern- und Kindergeneration durchaus Veränderungen statt. Während das „Distinktionsverhalten“ (ebd.) in der vertikalen Dimension relativ stabil ist, lassen sich auf der horizontalen Ebene „sowohl persistierende als auch veränderte Muster von Werten, Einstellungen und Verhaltensweisen“ (ebd.) beobachten. Die Milieugliederung darf damit jedoch nicht als Gegensatz zur früheren stabilen Sozialstrukturgliederung gesehen werden, sondern als ein Fortbestehen im Sinne einer „pluralisierten Klassengesellschaft“ (Bremer, 2012, S. 835).

 

5.2 Der Einfluss der sozialen Herkunft auf den Bildungserfolg

 

Pierre Bourdieu und Jean-Claude Passeron (1964/1971) gehen davon aus, dass eine erfolgreiche Bewältigung der Anforderungen im Bildungssystem im Wesentlichen von dem Habitus der Lernenden, ihrem Kapital und ihrer Stellung im sozialen Raum abhängt. In diesem Teilkapitel steht der Einfluss des Herkunftsmilieus auf den Bildungserfolg von Schüler*innen im Mittelpunkt. Dabei wird zwischen den direkten und indirekten Auswirkungen der familiären Herkunft auf die Schulleistungen (3.2.1) und dem herkunftsbedingt unterschiedlichen Entscheidungsverhalten der Eltern an Bildungsübergängen (3.2.2) unterschieden.

 

5.2.1 Auswirkungen der familiären Herkunft auf die Schulleistungen

Die soziale Herkunft bestimmt die Bildungschancen von Schüler*innen, sie nimmt einen größeren Einfluss auf die Selektion als beispielsweise der religiöse Hintergrund oder das Geschlecht (Bourdieu & Passeron, 1964/1971, S. 28). Damit ist nicht nur die Begabung entscheidend für den Schulerfolg, sondern insbesondere das Vorhandensein ausreichender ökonomischer, sozialer und kultureller Kapitalien in der Herkunftsfamilie (Vogel, 2019, S. 41). Ein hohes ökonomisches Kapital ermöglicht es Familien beispielsweise, die Rahmenbedingungen zu schaffen, die für die Bildungsbiografien förderlich sind. Dazu gehören etwa ein eigenes Kinderzimmer, Nachhilfeunterricht oder Materialien zur Vorbereitung auf Schulaufgaben (Brake & Büchner, 2012, S. 58). Bourdieu und Passeron zufolge genügt Geld jedoch nicht, „um in einem unvertrauten Feld institutioneller Bildung heimisch zu werden“ (Bremer & Lange-Vester, 2015, S. 73). Weitaus wichtiger ist das kulturelle Erbe, das gerade in den „kultiviertesten“ Klassen mithilfe von indirekten „diffusen Reizen“ (Bourdieu & Passeron, 1964/1971, S. 38) vermittelt wird, und „die am besten verborgene und sozial wirksamste Erziehungsinvestition“ (Brake & Büchner, 2012, S. 107) für den Schulerfolg darstellt. So kennzeichnet die gehobenen Klassen ein hoher Grad an Selbstsicherheit sowie kulturelle Aktivitäten, die eine bedeutende Nähe zu schulischen Praktiken aufweisen (Bourdieu & Passeron, 1964/1971, S. 35). Ihr kulturelles Privileg nachzuweisen, „wo es um die Vertrautheit mit Kunstwerken geht, die nur durch regelmäßigen Theater-, Museums- oder Konzertbesuch entstehen kann“ (ebd.) und die eine implizite Bedingung für den Schulerfolg darstellt. Dabei kann das soziale Kapital „einen Multiplikatoreffekt auf das tatsächlich verfügbare Kapital“ (Bourdieu, 1983, S. 191) ausüben, indem sich beispielsweise durch einen qualitativ hochwertigen Austausch kulturelle Profite ergeben (ebd.).

 

Das verfügbare Kapital und der Habitus in den Familien bestimmen die Bildungshaltungen und die schulischen Kompetenzen der Kinder. Während der Oberschicht der Mythos der „Leichtigkeit beim Erwerb der Schulbildung“ (Bourdieu & Passeron, 1964/1971, S. 40) anhaftet, ist die Mittelschicht nach Bourdieu und Passeron (ebd., S. 41) durch einen starken schulischen Einsatz charakterisiert, der sich in „Bildungswilligkeit“ (ebd.), „Lernwilligkeit“ (ebd., S. 40), „Bildungsbeflissenheit“ (Bourdieu, 1966/2001, S. 45) und in einer „Unterwerfung unter die schulischen Urteile“ (Bourdieu, 1989/2004, S. 38) zeigt. Den unterprivilegierten Milieus geht es dagegen „um Mithalten und das Vermeiden von Ausgrenzung, wobei Bildung oft als Bürde und Notwendigkeit erscheint“ (Bremer, 2012, S. 836).

 

Die von Bourdieu vorgenommene Zuweisung von Bildungseinstellungen und Verhaltensweisen zu bestimmten Herkunftsgruppen wird von Lange-Vester und Teiwes-Kügler (2014) auf der Grundlage der „Landkarte“ sozialer Milieus (Vester et al., 2001; Kapitel 3.1.3) repliziert. Anhand von Diskussionsrunden und Einzelinterviews mit Schüler*innen unterschiedlicher Herkunftsmilieus stellen sie exemplarisch milieutypische Bildungsstrategien und Lernzugänge heraus: Bei Schüler*innen aus den oberen gesellschaftlichen Milieus sind Bildung und Kultur fester Bestandteil des Alltagslebens (Lange-Vester & Teiwes-Kügler, 2014, S. 195). Sie verfügen über individuelle Lernstrategien, die an die Anforderungen der Schule angepasst sind, sodass schulisches Lernen nicht mit einer besonderen Anstrengung verbunden ist. Die Schule erleben sie weitestgehend positiv. Es sind kaum Selbstzweifel vorhanden und gegenüber leistungsschwächeren Schüler*innen ist oft eine Abgrenzung zu beobachten (ebd.). Schüler*innen aus den mittleren Herkunftsmilieus zeichnen sich zwar durch ein Streben nach Anerkennung und eine hohe Lernwilligkeit aus, sie kommen jedoch schlechter mit den schulischen Anforderungen zurecht. Im Gegensatz zu den Lernenden der oberen Milieus sind sie mehr auf Vorgaben und Hilfen angewiesen (ebd., S. 197). Für die Schüler*innen der unteren Milieus ist schulisches Lernen weitestgehend negativ besetzt. Sie haben überwiegend keine adäquaten Lernstrategien zu Verfügung (ebd., S. 198). Wird ihnen keine auf den Habitus abgestimmte Begleitung angeboten, wenden sie sich vom Unterrichtsgeschehen ab, was häufig als Desinteresse verkannt wird (ebd., S. 199f.).

 

Neben den Bildungshaltungen betonen Bourdieu und Passeron (1964/1971, S. 98) das sprachliche Erbe, das „von allen Distanzierungstechniken … zweifellos die wirksamste und subtilste“ darstellt. Die Schule prämiert eine spezifische Form der Verbalisierungsstrategie, die sich durch komplexe Satzstrukturen, eine häufige Verwendung von Präpositionen, Adjektiven und Adverbien sowie einen großen Wortschatz auszeichnet. Mit dieser Bildungssprache stimmt jedoch nur die Ausdrucksweise der gehobenen Klassen überein, während die einfache Satzstruktur und der häufige Gebrauch nonverbaler Mittel zum Ausdruck von Gefühlen in den unteren Klassen von der Institution abgelehnt oder abgewertet wird (Bauer, 2011, S. 153; Brake & Büchner, 2012, S. 94). Für Lernende aus den unteren Milieus ist das schulische Lernen damit häufig mit einem „Nicht-Verstehen“ einerseits und einem „Nicht-Verstanden-Werden“ andererseits verbunden: „Sie können die in dieser Vermittlungspraxis enthaltenen Codes nicht dechiffrieren und umgekehrt werden ihre schulischen Praktiken und Kommunikationsmuster tendenziell als unpassend oder ,falsch‘ zurückgespiegelt“ (Bremer & Lange-Vester, 2015, S. 79). Die Diskrepanz zwischen der Alltags- und Schulkultur bestimmt dann das Maß der Überbrückungsarbeit, die Lernende erbringen müssen, um den Anforderungen der Schule gerecht zu werden (ebd., S. 75). Für Kinder aus den unteren sozialen Milieus bedeutet Schulbildung folglich „immer zugleich Akkulturation“ (Bourdieu & Passeron, 1964/1971, S. 40).

 

Die Weitergabe des kulturellen Kapitals geschieht also vor allem in den privilegierteren Milieus diskret und mühelos in Form von Allgemeinbildung, die in der Schule auf hohe Wertschätzung stößt (Bourdieu & Passeron, 1964/1971, S. 37). Für die Angehörigen der weniger privilegierten Klassen ist dagegen die Schulbildung der einzige Zugang zur Kultur (ebd., S. 39), sodass die schulische Bildung „nur denen wirklich zugänglich ist, welche die implizit vorausgesetzte Bildung bereits besitzen“ (ebd., S. 126). Entscheidend für den Schulerfolg ist „die mehr oder minder große Affinität zwischen den kulturellen Gewohnheiten einer Klasse und den Anforderungen des Bildungswesens oder dessen Erfolgskriterien“ (ebd., S. 40). Bourdieu (1972/1973, S. 58) hat in diesem Zusammenhang eine Theorie der „kulturellen Passung“ zwischen dem im familiären Umfeld erworbenen primären Habitus und dem von der Schule geforderten sekundären Habitus entwickelt, die aktuell von Kramer und Helsper (u. a. Helsper, Kramer, Thiersch & Ziems, 2010; Kramer & Helsper, 2010; Kramer, 2013, 2014) aufgegriffen wird (s. auch Kapitel 4.1). Die symbolischen Ordnungen an den Schulen, die als sekundärer Habitus rekonstruiert werden können, gewährleisten die Auswahl von „passenden“ Schüler*innen (Lange-Vester & Vester, 2018, S. 180).

 

5.2.2 Auswirkungen der familiären Herkunft auf Übergangsentscheidungen

 

Wenn Pierre Bourdieu von „symbolischer Gewalt“ und der Reproduktion sozialer Ungleichheiten im Bildungssystem spricht, so meint er einerseits die distinktiven Strategien der oberen Klassen, die den „legitimen“ Bildungsbegriff definieren und gegen einen allgemeinen Zugang verteidigen. Andererseits werden die Machtkonstellationen aber auch durch die „Beherrschten“ aufrechterhalten: Die symbolische Gewalt ist eine „Form der Gewalt, die über einen sozialen Akteur unter Mittäterschaft dieses Akteurs ausgeübt wird“ (Bourdieu & Wacquant, 1992/1996, S. 204). Im Bildungssystem äußert sich dies explizit durch eine „Selbsteliminierung“ von Angehörigen der unteren Klassen. Die Individuen schließen sich selbst aus den höheren Bildungsgängen aus, indem sie sich – meist an Schulübergängen – für weniger anspruchsvolle Bildungswege entscheiden (Bourdieu & Passeron, 1964/1971, S. 174ff.).

 

In Untersuchungen zu dem „Selbstausschluss“ der unteren Milieus an Bildungsübergängen werden meist die Theorien von Raymond Boudon zu primären und sekundären Herkunftseffekten herangezogen (u. a. Dumont, Maaz, Neumann & Becker, 2014; Maaz & Nagy, 2010; Müller-Benedict, 2007; Neugebauer, 2010). Unter primären Herkunftseffekten fasst Boudon (1974, S. 29) alle Effekte der sozialen Herkunft zusammen, die sich auf die Schulleistungen der Schüler*innen auswirken. Wichtiger als die primären Herkunftseffekte erachtet der Autor (ebd., S. 28) jedoch die sekundären Herkunftseffekte, die sich auf Unterschiede im Entscheidungs­verhalten an Bildungsübergängen beziehen. Boudon sieht Bildungsentscheidungen als das Resultat einer rationalen Kosten-Nutzen-Abwägung, die insbesondere auf der Auseinandersetzung mit drei Komponenten beruht: „Der ,Bildungskosten‘, der erzielbaren ,Bildungsrenditen‘ (d.h. erwarteter Berufs- und Einkommenschancen und sozialer Aufstiege oder Statussicherungen durch Vermeidung eines Abstiegs) und der ,Erfolgswahrscheinlichkeit‘ (d.h. ob der entsprechende Bildungsgang auch erfolgreich bewältigt werden kann)“ (Vester, 2006, S. 16). Dabei wird davon ausgegangen, dass sich Familien der oberen Klassen eher für gehobene Bildungsgänge entscheiden, weil sie erstens finanziell in der Lage sind, ihren Kindern einen verzögerten Eintritt in das Arbeitsleben zu gewährleisten, zweitens, um einen Statusverlust zu vermeiden und drittens, weil sie sich zutrauen, ihre Kinder in anspruchsvolleren Bildungsgängen angemessen zu unterstützen. Die Wahl einer höheren Schulform kann für Schüler*innen der unteren Klassen zudem mit „Entfremdungsprozessen“ (Brake & Büchner, 2012, S. 99; Kock, 2015, S. 62) verbunden sein, wenn sich ihnen „durch höhere Bildung soziale und kulturelle Welten erschließen, die nicht anschlussfähig an das Herkunftsmilieu sind“ (Brake & Büchner, 2012, S. 99). Auch dieser Aspekt kann Einfluss auf die Übergangsentscheidung nehmen.

 

Die hohe Bedeutung von Übergangsentscheidungen für die Chancenungleichheit im Bildungssystem wurde in verschiedenen Untersuchungen empirisch belegt. So untersuchten Maaz und Nagy (2010) den Einfluss primärer und sekundärer Herkunftseffekte mithilfe von Daten der ÜBERGANG-Studie, indem sie die Herkunftseffekte auf der Grundlage pfadanalytischer Verfahren spezifizierten. Beim Übergang beträgt dieser Studie zufolge der absolute Herkunftseffekt 51%. Der Anteil primärer Herkunftseffekte fällt dabei mit 41% geringer aus als der Anteil sekundärer Effekte (59%). Diese Befunde wurden von Neugebauer (2010) bestätigt. Eine Simulation der konkreten Auswirkungen von Eingriffen in diese Effekte auf den Schulerfolg ergab sogar, dass ein Neutralisieren des sekundären Herkunftseffekts eine mehr als doppelt so große Steigerung des Schulerfolgs bewirken würde wie ein Ausschalten des primären Effekts (24,3% vs. 11,3%) (Müller-Benedict, 2007, S. 628).

 

Kramer (2011, S. 119) sieht in dieser Gewichtung primärer und sekundärer Herkunftseffekte unter Rückbezug auf Bourdieu jedoch einen „folgenreichen Kategorienfehler“. Er konstatiert, dass sich die primären Herkunftseffekte im Grunde durch Unterschiede in der primären Sozialisation ergeben, die wiederum von der sozialen Herkunft abhängt. Die erworbenen Befähigungen als Ergebnis der Sozialisation sind aus der Perspektive Bourdieus Ausdruck des Habitus, der jedoch in den theoretisch-konzeptionellen Annahmen Boudons fehlt. Dabei hat der Habitus nicht nur Auswirkungen auf die Schulleistungen, sondern beeinflusst in einem erheblichen Maße auch die Bildungsentscheidungen:

 

Auch die sekundären Effekte der sozialen Herkunft auf Bildungsteilhabe und -erfolg ließen sich dem Habitus (hier dem Habitus der Eltern) zurechnen, weil die Bildungsentscheidungen – abhängig von ökonomischen Ressourcen und der Schichtzugehörigkeit – wiederum auf die materialen Zwänge und Deutungsspielräume der Existenzbedingungen verweisen. Wie im vorhergehenden Kapitel zu Bourdieu ausgeführt, sind somit bewusste, intentionale Entscheidungen Ausdruck und Ergebnis grundlegender, impliziter Haltungen, die organisiert über die Schemata des Habitus die Wahrnehmung, Deutung und entsprechende Handlungsvollzüge überhaupt erst anlegen (oder eben nicht!). (ebd.)

 

Kramer (ebd.) betont dabei, dass der Annahme eines schicht- und herkunftsspezifischen Entscheidungsverhaltens mit dem Hinweis auf Bourdieus Habitus keineswegs widersprochen wird. Aus der Bourdieuschen Perspektive ist aber entscheidend, dass die primären und die sekundären Effekte Ausdrucksformen desselben Hervorbringungsprinzips – des Habitus in den Familien – sind. Die vorgestellten Studien beanspruchen also prinzipiell weiterhin Gültigkeit. Es darf nach Bourdieu jedoch nicht davon ausgegangen werden, dass die ungleichen Übergangsentscheidungen das Resultat eines rationalen Abwägungsprozesses darstellen, „sondern von einer vorbewussten, nicht vollständig zugänglichen Vernünftigkeit der Handlungspläne der beteiligten Akteure begleitet sind, die sich wiederum aus dem Habitus der Familie, der jeweiligen Position im sozialen Raum sowie der Familienbiographie ergibt“ (Kock, 2015, S. 61). Bourdieu spricht in diesem Zusammenhang von einem „Anlage-Sinn“ (Bourdieu, 1979/1987, S. 151), einem „unmerklichen Erwerb eines Gespürs für das richtige Anlegen kultureller Investitionen“ (ebd.). Die subjektive Erwartung, die Individuen dazu veranlasst, sich selbst auszuschließen, ist dabei an einer Einschätzung der objektiven Erfolgschancen der Herkunftsklasse orientiert:

 

Die Berechnung der objektiven Wahrscheinlichkeit zum Besuch des einen oder anderen Schultyps, die einer Klasse eignet, … ermöglicht … eine theoretische Konstruktion, die eines der stringentesten Erklärungsprinzipien für diese Ungleichheit liefert: Die subjektive Erwartung, die den einzelnen veranlaßt, sich selbst auszuschließen, orientiert sich an einer Schätzung der objektiven Erfolgschancen seiner Klasse, wobei gerade dieser Mechanismus zur Verwirklichung der objektiven Wahrscheinlichkeit beiträgt. (Bourdieu & Passeron, 1964/1971, S. 178f.)

 

Nach Bourdieu und Passeron (ebd., S. 179) tritt damit eine „Self-fulfilling prophecy“ in Kraft, da die Übergangsentscheidung als Resultat der subjektiven Erfolgserwartung, die sich aus Verinnerlichung der objektiven Bedingungen ergibt, wiederum die objektiven Bedingungen reproduziert. Wenn im Folgenden von „sekundären Herkunftseffekten“ gesprochen wird, dann impliziert das neben möglichen Kosten-Nutzen-Abwägungen ebenso den verinnerlichten „Anlage-Sinn“, der Individuen dazu veranlasst, sich für einen bestimmten Bildungsgang zu entscheiden.

Ende der Leseprobe aus 82 Seiten

Details

Titel
Mehr Chancengleichheit durch eine Schule für Alle? Chancen und Grenzen im deutschen Bildungswesen
Autor
Jahr
2021
Seiten
82
Katalognummer
V990556
ISBN (eBook)
9783960959731
ISBN (Buch)
9783960959748
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Chancengleichheit, Chancengerechtigkeit, Bourdieu, Gesamtschule, Schule für alle, Bildungssystem, Hauptschule, Durchlässigkeit, Realschule, Gymnasium, sozioökonomischer Status, Bildungsgerechtigkeit, Illusion der Chancengleichheit, Chancenungleichheit, Chancenungerechtigkeit, Chancenverteilung, Bildungserfolg, Schulreform, Unterricht
Arbeit zitieren
Tabea Taulien (Autor:in), 2021, Mehr Chancengleichheit durch eine Schule für Alle? Chancen und Grenzen im deutschen Bildungswesen, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/990556

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