Individuum und Gesellschaft im Werk von Stephen King


Hausarbeit, 2000

15 Seiten


Leseprobe


Einleitung

Die Erkundung der Angst ist ein lukratives Geschäft. Das ist nicht erst seit dem vermehrten Auftreten von Psychiatern und Psychoanalytikern in den 80er Jahren bekannt, sondern ein Unterfangen, das Schriftsteller und Dichter seit jeher beschäftigt. Gegen Ende der 40er Jahre beginnt der Aufstieg eines Genres, das mit den menschlichen Ängsten spielt. Besonders aber die konservative Atmosphäre der 50er, die aufkommende, antikommunistische Paranoia und die generell feindselige Stimmung des Kalten Krieges gegen alles, das nicht amerikanisch oder ,,normal" ist, bildeten einen idealen Nährboden für Horrorliteratur. Der Durchbruch kam allerdings erst 1974, als ,,The Excorcist" ein sensationeller Kinoerfolg wurde. Was aber genau ist Horror, welche Bedeutung kann ihm zugeschrieben werden, und was ist Horrorliteratur? Was macht sie so anziehend, so populär? Ihr Erfolg wird besonders an einem Autoren sichtbar, den ich stellvertretend für die Vielzahl von Schriftstellern gewählt habe, die sich mit der menschlichen Psyche, ihren Auswüchsen und manchmal auch ganz ,,überirdischen" Themen auseinandersetzen: Stephen King. Ich möchte in meiner Arbeit nicht so sehr die Analyse einer seiner Kurzgeschichten in den Vordergrund stellen, sondern vielmehr die Interpretation, da ich der Meinung bin, dass die Erarbeitung der Aussage einer Geschichte wichtiger ist als ein analytisches Auseinanderpflücken.

Der Autor oder »Anything so popular for so long merrits attention.«

Stephen King ist1 geradezu die Verkörperung des amerikanischen Traumes. In ärmlichen Verhältnissen aufgewachsen, hat er sich mit diversen Jobs über Wasser gehalten und schließlich den Sprung zu internationalem Erfolg geschafft. Seit Jahren ist er regelmäßig auf den Bestseller-Listen vertreten, weltweit wurden über 100 Millionen seiner Bücher verkauft und mittlerweile gibt es mehr Bücher über ihn als von ihm. Fast jeder kennt ihn und fast jeder liest ihn. Dennoch gehört er nicht zu den angesehensten Schriftstellern, dennoch sind seine Werke nicht high culture 2 . King ist Populärkultur, wie vielleicht Shakespeare zu seiner Zeit, The Beatles oder der Ford Mustang. Alle wurden zu ihrer Zeit als popular culture items betrachtet. Die Populärkultur einer Generation wird oft zur klassischen Kultur der nächsten.

King wird sicher nicht der nächste Shakespeare, trotzdem ist er ein Phänomen, welches Beachtung verdient. Sein Stil ist einfach und leicht zugänglich. Seine Geschichten fesseln den Leser durch die lebendige Beschreibung von setting und place. Auch scheint sich King alle Mühe zu geben, in der populärsten, umgangsprachlichsten Sprache zu schreiben. Er erhebt Umgangssprache und Klarheit zu Werten, die jedem Leser zugänglich sind. Sein Stil ist dicht und mit Obszönitäten gewürzt, die der gesprochenen Sprache angemessener sind als der gedruckten, aber stets den Figuren entsprechen. Was macht Stephen King noch so populär? Es ist die Fähigkeit, seine Leser direkt anzusprechen. King kennt seine Leser, weil es Menschen sind wie er: durchschnittliche, ,,normale" Menschen. Er weiß, wie sie leben und welche Probleme sie haben. Er beschwört nichts anderes als die Angst, die jedem Menschen innewohnt. Er kennt das Gefühl Außenseiter zu sein, das er in vielen Kurzgeschichten verarbeitet, die Angst vor Entfremdung, Alkoholismus, religiösem Eifer, die Angst vor dem Verlust geliebter Menschen, dem eigenen Tod. Stephen King3 wurde am 21. September 1947 in Portland, Maine, geboren und begann schon im Alter von acht Jahren zu schreiben. Beeinflusst wurde er vor allem von den E.C. Horrorcomics der 40er/50er Jahre, seine Geschichten beschränkten sich dabei auf die Imitation von Horrorklassikern. Kings Beschreibung seiner Kindheit bedient das Klischee des kleinen, dicken, bebrillten Jungen, der immer Außenseiter war, Fantasy- und Horrorgeschichten liest und nicht wirklich viele Freunde hat. Nachdem King 1970 das College abgeschlossen hatte, arbeitete er als Tankwart, Industriewäschereiangestellter u.ä. Eine Anstellung als Englischlehrer verbesserte seine finanzielle Lage erheblich. Stephen King hatte inzwischen geheiratet und drei Kinder zu versorgen. Er mühte sich stets mit dem Schreiben, doch andauernde Misserfolge und berufliche Frustration brachten ihn an den Rand des Alkoholismus. In ,,The Shining" verarbeitet er diese Zeit, wie er auch schon in anderen Werken viele u.a. Kindheitserlebnisse zu Papier gebracht hat. Dabei wird er zwar nie explizit autobiographisch, aber Motive wie eben das Außenseitertum kehren immer wieder. Es ist auch sicher kein Zufall, dass ,,The Mangler" in der Zeit geschrieben wurde, als King in der Industriewäscherei arbeitete. Er verkaufte seine Kurzgeschichten an Magazine wie Startling Mystery Stories und Cavalier. Dabei handelte sich meist um Mainstream-Geschichten ohne jegliches übernatürliche Element, Geschichten mit psychologischem oder übernatürlichem Schrecken und um gradlinige Horrortexte. Nach etwa 60 Ablehnungen gelang ihm 1974 mit ,,Carrie" der langersehnte Durchbruch. Die Geschichte traf den Nerv der Zeit und Kings konstantes Bemühen um Anerkennung wurde endlich erfüllt. 1977 wird ,,The Shining" Kings erstes Buch auf der Bestsellerliste der New York Times.

Die Bedeutung von Horrorliteratur

Was ist also nun Horrorliteratur?

»Horrorliteratur, literarische Werke aller Gattungen, die Unheimliches, Verbrechen und andere Entsetzen oder Abscheu erregende Greueltaten und Zustände gestalten. Motive und Requisiten der H. besitzen eine lange Tradition, die bis auf die Gothic Novel, die Gespenstergeschichten und den Schauerroman zurückreicht.«4

Es handelt sich also um die Darstellung phantastischer, makabrer, dämonischer und lebensbedrohlicher Ereignisse oder Phänomene, die eine Atmosphäre der Angst und des Entsetzens erzeugt. Der Leser behält zwar eine rationale Distanz zur Handlung, dennoch ist er zu emotionaler Beteiligung gezwungen. Angst spielt eine fundamentale Rolle in der Persönlichkeit und im Verhalten eines Menschen. Die Angst ist allen gemein, sie macht keine Unterschiede zwischen dem Geschlecht eines Menschen, seiner Hautfarbe oder seinem Alter. Während sich Menschen untereinander durch eine ganze Reihe von Charakteristika unterscheiden, ist die Angst das verbindende Element, das alle teilen (müssen). Unser modernes, alltägliches, gegenwärtiges Leben ist voll von Dingen, die einem Angst machen. Sei es nun eine allgemeine Angst wie z.B. Existenzangst oder eine konkrete, z.B. die Angst vor Dunkelheit. Horrorliteratur kann hier eine Katharsisfunktion einnehmen, die die inneren, persönlichen Ängste anspricht, umreißt, definiert und damit vielleicht läutert. Horrorgeschichten erlauben dem Leser einen Einblick in eine fiktionale Welt, in der die Realität verzerrt dargestellt wird. Der Leser kann seine Beobachtungen in die reale Welt übertragen und so zu einem besseren Verständnis der realen Welt und ihrer Auswüchse gelangen. Das gilt selbstverständlich auch für andere Literaturgenres, wird aber durch die Brutalität der Horrorliteratur am deutlichsten demonstriert. Sie ermöglicht die Flucht in eine Welt, in der die unmittelbaren, persönlichen Probleme des Lesers nicht von Belang sind. Er wird mit Ekel, Terror und Hoffnungslosigkeit konfrontiert, die er in der Realität nicht kontrollieren kann. Horror versucht, eine Illusion dieser Kontrolle zu schaffen. Kennt man den Schrecken, ist seine Wirkung auf die menschliche Psyche vielleicht nicht mehr so gravierend, wenn er wirklich einmal eintreten sollte. Es ist eine Methode sich mit dem eigenen Tod auseinander zu setzen, eine Generalprobe sozusagen. So sind es hauptsächlich Teenager, die Horrorliteratur konsumieren, denn sie brauchen diese Erfahrung mehr als Erwachsene, die gedanklich ständig mit ihrer Sterblichkeit konfrontiert sind. Ferner wirkt

Horror gewissermaßen bestätigend. Vor allem der jugendliche Leser kann sein Selbst aufwerten, indem er Protagonisten beobachtet, denen es schlechter geht als ihm. Er kann sein Selbstwertgefühl zurückgewinnen, sich als Teil des Mainstreams sehen, als Teil dessen, was wir die Norm nennen. Damit einher geht natürlich auch die Bestätigung von Werten, vor allem der westlichen Wertvorstellungen. Horror ist ein traditions- und wertebewusstes Genre. Fixer Ausgangspunkt sind zumeist konservative Wertvorstellungen: diejenigen, die vom Pfad der Tugend abweichen werden bestraft. So enden wilde Teenagerpartys in Horrorfilmen fast immer mit einem grausamen Tod, der Sex und den Konsum von Alkohol und anderen Rauschmitteln bestraft. Eine der Hauptfunktionen von Horror ist also, die westliche moralische Norm zu festigen und ein abschreckendes Beispiel zu geben. Kindermärchen haben die selbe Funktion. Hinter jeder Geschichte liegt eine Botschaft, die etwas über den Zustand der Gesellschaft aussagt und sich dem Leser durch das Lesen zwischen den Zeilen erschließt. Insofern lebt Horror auch von religiösen Elementen, wie z.B. dem Kampf zwischen Gut und Böse, dem Leben nach dem Tod und dem Bezug zu den Zehn Geboten, deren Verletzung bestraft wird.

Bevor ich nun näher auf eine Kurzgeschichte von Stephen King eingehe, möchte ich noch kurz etwas zu den Vorraussetzungen einer erfolgreichen Horrorgeschichte sagen. Die Figuren und Situationen müssen im Leser Assoziationen hervorrufen, die ihm die Möglichkeit geben emotional an der Handlung teilzuhaben. Die Identifikation mit den Protagonisten kann nur gelingen, wenn Situationen wiedererkannt werden und die Ängste den eigenen ähnlich sind. Die Gefahren müssen von lebenswichtiger und grundlegender Natur sein. Ausgangspunkt ist der Abdruck einer Realität, der ein Gefühl von Wirklichkeit suggeriert. Durchschnittliche Personen agieren in vertrauten Lebensumständen; es herrschen gewöhnliche, alltägliche gesellschaftliche Zustände. In diese Grundstimmung wird das Abnormale gebracht, ob nun eine persönliche Schwäche des Protagonisten oder eine fantastische Situation.

"The Mist": eine Analyse

"The Mist" ist keine Kurzgeschichte im herkömmlichen Sinn, denn sie umfasst um die 150 Seiten. Ich möchte deshalb vor allem die Kapitel analysieren, in denen King das Schicksal der vom Nebel eingeschlossenen, kleinen Gesellschaft beschreibt.

King schreibt aus der Perspektive seines Protagonisten David Drayton. Es ist dessen aktive, wahrnehmende Sicht der Dinge, die er im Nachhinein für den Leser niederschreibt. Der Handlungsablauf stimmt mit der Chronologie der Geschichte überein. Konkretes Geschehen wird unzerstückelt präsentiert. Durch die Form des subjektiven Erzählens eröffnet sich die Möglichkeit, Distanz zu schaffen zwischen erzählendem und erlebendem Ich. Die Handlung bewegt sich fort wie der Verstand selbst. Drayton kann so Andeutungen, Indizien und Vorahnungen einflechten, die die Lesererwartung schüren und eine Atmosphäre drohenden Unheils schaffen, eine Angst, die noch nicht klar definiert und ,,Realität" ist. Unsicherheit, Angst und innerer Aufruhr werden durch diese Erzählweise eine unmittelbare Erfahrung für den Leser, er fühlt mit, erlebt die Geschehnisse durch die Augen des Protagonisten. King übernimmt Eigenheiten der Umgangssprache, die hier zur Erzählsprache wird. Der Leser sieht förmlich einen normalen Mitbürger, Freund, Nachbarn vor seinem inneren Auge, der sich in Sprache und Lebensweise nicht sehr von ihm selbst unterscheidet. Lebensnähe und Mitgefühl für die Agierenden resultieren daraus. Dadurch, dass King Draytons Erleben in den Vordergrund stellt, ist dieser auch der einzige Charakter, der als Individuum ausgefüllt wird. Es ist klar, dass nicht alle Figuren im Text eine psychologische Tiefe aufweisen können. Im Fall von ,,The Mist" ist jedoch dadurch eine Aufteilung in round und flat characters müßig. Drayton ist der Bedeutungsträger. Alle anderen Figuren sind zwangsläufig flat characters, bestimmte Typen von Menschen oder gar Stereotypen. Ein Beispiel eines flat character ist Dan Miller. Drayton beschreibt ihn folgendermaßen:

»He looked like the sort of guy you can't help liking on short notice and-just maybe-the kind of guy you can't help not liking after he's been around for a while. The kind of guy who knows how to do everything better than you do.«5

Mehr wird über ihn nicht gesagt. Seine Persönlichkeit wird weitgehend ausgeklammert, Bedeutung erhält er nur in seiner Haltung gegenüber dem Protagonisten und der Gruppe. Typen wie Dan Miller werden erst durch Draytons Wahrnehmung lebendig, dessen Meinungen und u.U. Vorurteile Personen gegenüber die Meinung des Lesers dominieren. Brent Norton und Mrs. Carmody z.B. füllen genau jene stereotypen Rollen aus, die sie von vornherein als Gegenspieler definieren. Auf die Aktanten, also Personen, die nur für den Verlauf der Handlung relevant sind, werde ich später im Rahmen der Interpretation näher eingehen.

Es gibt Elemente im Text, sog. Deiktika, die zeigen, dass es eine Referenz zur Wirklichkeit gibt. Diese deictic devices schaffen Glaubwürdigkeit und Authentizität. Die Alltäglichkeit des ersten Teils lässt eine Vertrautheit mit den Charakteren entstehen, die den zweiten Teil umso glaubhafter macht Der Raum des Geschehens ist lokal einzugrenzen: südliches Maine, der Long Lake, Harrison, Bridgton, Norway, Portland, alle sind auf der Landkarte zu finden.

Neuenglands neblige, mysteriöse Atmosphäre, der geschichtliche Hintergrund der Hexenprozesse in Salem, sowie der puritanische Glauben und ,,alte" Ängste, die heraufbeschworen werden, vertiefen das Gefühl, dass dort einiges Seltsames passieren kann ohne dass es aufgesetzt und unglaubwürdig erscheint. Ebenso aus dem Bereich des Faktischen sind die Federal Foods Supermarktkette und Radiosender wie WOXO, WBLM oder WIBQ. Aus diesem als ,,Realität" semantisierten Raum, dem ersten setting, werden die Charaktere in einen Raum versetzt, der sich vom ersten auf dramatische Weise unterscheidet: Durch einen geheimnisvollen Nebel und monströse ,,Tiere". Der Raum hat sich nicht verändert, wohl aber alles, das ihn ausfüllt.

Der Zeitraum der Handlung kann wie der Erzählraum klar eingegrenzt werden. Es vergehen vier Tage, wobei die Tageszeit selbst durch das trübe neblige Licht bestimmt wird. Zeit wird auf eine subjektive Weise vermittelt. Draytons Zeitgefühl verschwimmt durch die Masse an Eindrücken und der schnellen Abfolge des Geschehens. Raffung auf Auflockerung, hektische Situationen und Momente der Reflexion lösen sich ab. Assoziationen und Erinnerungen, die eine Verbindung zu vertrauten Dingen schaffen, strecken die Handlung und verdeutlichen den Versuch des Protagonisten, die Geschehnisse rational aufzunehmen und verarbeiten zu können. Der ,,Lebenszyklus" des Nebels bestimmt das Verhalten der Menschen, die auf seine Veränderungen reagieren müssen. Die Nacht wird dabei besonders bedeutungsvoll. Im Horrorgenre ist die Nacht die Zeit der Monster. So werden auch hier die ,,Bewohner" des Nebels bei Einbruch der Nacht aktiv. Die richtige Zeit für eine Flucht ist daher der Zeitraum zwischen Nacht und Tag; die Zeit, in der die meisten tagaktiven ,,Tiere" noch schlafen, die nachtaktiven sich aber schon zurückgezogen haben. Allerdings gibt es hier kein richtiges Oppositionspaar Tag - Nacht, sondern nur Schattierungen von grau.

Interpretation

Kings Geschichte beginnt also im ländlichen Maine, das von einem verheerenden Sommersturm heimgesucht wurde. Die Exposition schafft eine Atmosphäre des Alltäglichen, Gewöhnlichen, ein Familienidyll, in das mehr und mehr ein Gefühl des Unbehagens einflochten wird. Ein mysteriöser Nebel zieht von der anderen Seeseite zum Anwesen der Familie Drayton heran. Vater David und der fünfjährige Billy machen sich mit Norton, ihrem Nachbarn, auf den Weg in die nahegelegene Kleinstadt, um im Supermarkt Lebensmittel und andere Versorgungsgüter zu kaufen. Der Nebel rückt immer näher, bis er schließlich den Supermarkt und alle sich darin befindenden Menschen einschließt. Hier werden nun zwischenmenschliche Konflikte offenbar, der Mikrokosmos Supermarkt wird zum Abbild der Gesellschaft.

King beschreibt die klaustrophobische Wirkung des Nebels, für den es keine physikalische Erklärung zu geben scheint. Die schnurgerade Nebelfront schwebt mit einer unnatürlichen Dichte über den See heran. Sie bewegt sich gegen den Wind, was eine immense Treibkraft dahinter vermuten lässt. King impliziert, dass der Nebel von Menschen erschaffen wurde, da seine gerade Form der Natur widerspräche, die keine Ecken und Kanten kenne. Die blendend weiße Farbe ohne Schattierung oder das Funkeln von Feuchtigkeit sprächen seiner Meinung nach dafür. Nebel haftete schon immer eine unheimliche Ausstrahlung an. Das neblige London des 19. Jahrhunderts, in dem Jack the Ripper sein Unwesen trieb, oder das puritanische Neuengland mit seiner unheimlichen Atmosphäre, z.B. dem geschichtlichen Hintergrund der Hexenprozesse in Salem, Mass., und seinen tiefen im Morgennebel verschwindenden Wäldern; Nebel hat seit jeher ein bedrohliches Image. Veränderte Sinneswahrnehmungen, wie Einschränkung der Sicht und Schwierigkeiten beim Einordnen von Geräuschen, ob nah oder fern, und Gerüche verstärken die paranoide Angst, die der Nebel auslöst. Naturgewalten wie Gewitter und Nebel zeigen wie klein und unbedeutend der Mensch eigentlich ist. Die Unfähigkeit die Existenz des Nebels zu erklären, erzeugt ein undifferenziertes mulmiges Gefühl, das in Panik und ungeahntem Schrecken gipfelt als die Eingeschlossenen entdecken, dass sich ,,etwas" darin befindet. Plötzlich befinden sich die Figuren in einem regelrechten Alptraum. In unserer modernen Welt kann so ziemlich alles erklärt werden. Sobald allerdings die Möglichkeit ,,zu Erklären" wegfällt, fehlt ein elementarer Teil des alltäglichen Gefühls von Sicherheit. Moderne Institutionen, wie z.B. das Radio, das eigentlich immer da ist sobald man es einschaltet und das man als selbstverständlichen Teil des Lebens versteht, sind plötzlich nicht mehr da. Impliziert wird dadurch, dass etwas Gravierendes geschehen sein muss. Es verstärkt den Eindruck von Isolation und verweist auf die Möglichkeit, dass es sich bei dem Nebel nicht um ein örtlich begrenztes Phänomen handelt. Es drängt sich unmittelbar die Frage auf, wo der Nebel (wenn überhaupt) aufhört.

Auch die Frage nach der Ursache des Phänomens kann (natürlich) nicht befriedigend beantwortet werden. Jede der eingeschlossenen Figuren hat ihre eigene Erklärung: ,,Some kind of temperature inversion, that's my guess."6 ; ,,It's one of those pollution clouds. The mills at Rumford and South Paris. Chemicals."7 ; oder Mrs. Carmodys Erklärung, dass Gott nun zum Jüngsten Gericht riefe, die Hölle sich aufgetan hätte und die Kreaturen auf die Erde gekommen seien, um die Menschen zu bestrafen. Einen wesentlichen verunsichernden Charakter hat das mysteriöse Arrowhead-Projekt. Ein Regierungsgelände in der Nähe, das mit allerlei Vorstellungen von Geheimnissen und Verschwörungen behaftet ist. King erschafft einen Verschnitt der berühmt-berüchtigten Area 51 in Nevada, die nicht erst seit dem Erfolg von Science Fiction-Serien wie den X Files die Phantasie der Leser oder Zuschauer beflügelt. Sie beruhen auf der Annahme, dass die Regierung der USA (oder eine zwielichtige ,,Regierung hinter der Regierung") ohne Wissen der Bevölkerung Experimente und gefährliche Forschung betreibt, die schließlich zum Untergang der Welt, wie wir sie kennen, führen muss. So kann dieses streng bewachte Arrowhead-Projekt, das als Teil der lokalen Welt hingenommen wird, als Sinnbild für ein tiefverwurzeltes Misstrauen gegen die staatliche Autorität und die Undurchdringlichkeit der Strukturen, die das Land regieren, gesehen werden. Alle wissen ,,etwas", aber niemand weiß genaues. Die Reihe der Spekulationen ist vielfältig. Von landwirtschaftlicher Forschung ist die Rede, die auf Versuche mit Gentechnologie schließen lassen können; über eine geologische Station zur Erforschung von oder zur Suche nach Mineralöl, die eine Erklärung für die große Erschütterung und für besonders Phantasievolle eine Erklärung für eine Dimensionsverschiebung8 liefern würde; bis hin zu verschleierten Atomtests oder der Theorie des Black Spring mit seinem chaotischen Wetter ist für jeden Geschmack etwas dabei. Die genannten Indizien sprechen sowohl für die eine als auch für die anderen Theorien, so dass eine eindeutige Klärung nicht möglich ist. Die Theorie, dass ,,Die Regierung" ihre Finger im Spiel hat, wird zusätzlich noch durch den Selbstmord der beiden Soldaten in Kapitel 8 untermauert. Um keinen Preis soll ,,Etwas" ans Licht kommen, ,,Etwas" streng Geheimes und Behütetes geht auf dem Regierungsgelände vor, niemand darf ,,Etwas" erfahren. King spricht hier das allseits bekannte Gefühl an, dass die Geheimniskrämerei der Regierung nichts Gutes verheißt.

Aus diesen Vermutungen, Andeutungen und Gerüchten setzt King ein Kaleidoskop von Möglichkeiten zusammen, in denen sich seine Figuren zurechtfinden müssen. Sie sind mit einer Umwelt konfrontiert, die sie nicht selbst gewählt haben und in der sie nun so gut wie möglich agieren müssen. King zeigt dabei verschiedene Bewältigungsstrategien auf. Strategien, die die Figuren durch den Umgang mit der Katastrophe definieren. Einige betäuben sich mit Alkohol oder Arzneimitteln, vielleicht in der Hoffnung am nächsten Morgen aufzuwachen und nichts ist passiert. Andere wiederum sind auch ohne Drogen völlig katatonisch, starr und tumb sitzen sie herum, unfähig mit der Situation umzugehen. Dies ist die Mehrzahl der im Supermarkt eingeschlossenen Menschen, deren Starre und fast scheintote Ausstrahlung einen beunruhigenden Effekt auf die dritte Gruppe hat. Zu dieser lassen sich all jene zählen, die namentlich erwähnt werden und somit einen Beitrag zur Verbesserung oder zumindest zum Halten der prekären Situation leisten. Sie sind die Aktanten, die maßgeblich an der Handlung beteiligt sind. Diese Kompromiss-Gruppe, wie King sie nennt9, versucht mehr oder weniger rational zu erfassen, was geschehen ist. Sie lässt sich in drei Untergruppen einteilen: die Praktiker, die Flat Eartheners um Brent Norton, und die Gruppe um Mrs. Carmody.

Es lässt sich erkennen, dass die Praktiker eine Art natürlicher Regierung des Supermarktes bilden. David Drayton, Ollie Weeks, Mike Hatlen und Dan Miller, um nur ein paar zu nennen, gehen Probleme logisch und vernünftig an. Sie agieren zum Wohle aller, wirken beruhigend, deeskalierend, z.B. durch das Verschweigen des Todes der Soldaten, sie lenken die Kräfte und organisieren den Wachbetrieb im Supermarkt. Der Supermarkt wirkt dadurch wie ein kleiner Staat. Sie sind Autoritätspersonen, z.B. ein Stadtrat, ein Künstler und eine Lehrerin, die hier so etwas wie eine natürliche Führungsriege bilden. Ihre Entscheidungen werden von der Masse unterstützt, bzw. von den Betäubten gar nicht wahrgenommen. Sie sammeln Informationen über den Nebel und die Kreaturen, interpretieren ihre Beobachtungen, und versuchen, Muster zu erkennen, die eine Flucht möglich machen könnten. Sie gehen im allgemeinen systematisch und besonnen vor.

Ganz im Gegensatz zu den Flat Earth People, an deren Spitze der New Yorker Anwalt Brent Norton steht. Schon in der Exposition wird auf einen Konflikt zwischen Drayton und Norton hingewiesen, der -grob betrachtet- die Beziehung zwischen Einheimischen und zugewanderten Städtern widerspiegelt. Auch lässt sich daraus auf eine noch kommende Auseinandersetzung der beiden schließen. Norton handelt irrational und Ich-bezogen. Seine Angst äußert sich in paranoidem Verhalten, er fühlt sich von Drayton persönlich angegriffen und weigert sich die Fakten auch nur in Erwägung zu ziehen. Sein mentaler Zustand hängt von der Logik ab, die ihm strikt verbietet, dass es so etwas wie den Nebel und die Kreaturen darin geben kann. Für ihn existieren nur Dinge, die er gesehen hat, im gleichen Augenblick aber weigert er sich, zu sehen. Der Angst vor dem Unbekannten, die er nicht zulässt, versucht er auf diese Weise Herr zu werden. Er negiert das Problem, wodurch es sich für ihn auflöst. Der arrogante Großstadtanwalt, der sich selbst unter Kontrolle hat und durch ein souveränes Auftreten überzeugt, wird plötzlich mit einer Situation konfrontiert, die er nicht beeinflussen kann. Es scheint eine derart neue Erfahrung für ihn zu sein, dass er damit nicht umgehen kann. Sein Erscheinungsbild trägt seinen inneren Kampf nach außen:

»[...] He was no longer performing, hectoring us with the trained courtroom shout; he was nealry screaming and on the verge of losing control. [...] Norton was grinning savagely at me. [...] His eyes, bloodshot and wide, bulged from their sockets. [...] His voice tried for hard emphasis and overshot into stridency.«10

Er verhält sich wie ein Anwalt, der einen Prozess gewinnen und möglichst viele Leute, wie Geschworene, von seinen Ansichten überzeugen muss. Er ist so verhaftet in seiner juristischen Welt, dass er einfach alles in seinen gewohnten Rahmen pressen will, und damit unweigerlich scheitert. Sein Kontrahent in dieser Sache ist Drayton, und da er schon einen Prozess um die Grenze ihrer beider Grundstücke verloren hat, muss er diesen um jeden Preis gewinnen. Sein Tod ist deshalb durch seine Uneinsichtigkeit vorprogrammiert. Mrs. Carmody wird ebenfalls relativ früh als Gegenspielerin eingeführt. Sie ist die lokale Kräuterhexe. Ihr Antiquitätengeschäft mit ausgestopften Tieren und ihr prophetisches Gehabe machen sie zu einer seltsamen, alten -und gefährlichen- Gestalt. King scheint ein Faible für solche Charaktere zu haben, denn in einem seiner Romane, ,,Needful Things", stellt ebenfalls ein Antiquitätenhändler das personifizierte Böse dar. Der erste visuelle Eindruck von Mrs. Carmody zeigt eine dicke, alte Frau in einem knallgelben Anzug. Ein recht lächerliches Bild scheint sie abzugeben. Niemand nimmt sie ernst, sie ist der freak. Sie wird wie ein kleines Kind oder eine senile Frau behandelt. Nachsichtig werden ihr ihre Ausbrüche am Anfang noch verziehen. Dennoch ist sie eine Respektsperson, deren Bibelfestigkeit nicht erschüttert und deren Überzeugungskraft nicht gemindert werden kann. Drayton unterstellt Mrs. Carmody einen negativen Einfluss auf die Menschen, ihre Überzeugungskraft macht ihm angst und mehr noch ihr religiöser Eifer. Für sie ist der Nebel die Strafe Gottes, und auch wenn Gott als Erklärung etwas zu einfach scheint, ist diese Art der Bewältigung dennoch nicht zu unterschätzen. Steht sie zu Beginn noch allein, scharen sich im Laufe der Zeit doch immer mehr Menschen um sie, die in ihrer Nähe die Versöhnung mit Gott anstreben. Mother Carmody 11 nennt sie sich; ein recht messianischer Anspruch, möchte ich meinen. Dennoch ein Strohhalm, an den sich die mehr und mehr verzweifelnden Menschen klammern. In der Realität ist zu beobachten, dass sich in Zeiten von gesellschaftlichen Veränderungen, wirtschaftlichem Chaos und dem Verlust der zwischenmenschlichen Bindungen viele Menschen der Religion zuwenden. Nicht umsonst wird in der Öffentlichkeit das Thema Sekten so intensiv diskutiert. Religion hat sicher einen stark Halt gebenden Charakter und kann Denkanstöße für den zwischenmenschlichen Umgang geben, doch King verzerrt diese Funktion in traditioneller Horrorautorenmanier, indem er die verbindende, Zuflucht bietende Funktion in ihr grausames Gegenstück verwandelt. Mrs. Carmody wird zur zeternden, irrationalen Hexe, gemieden und belächelt, und später dann als Gefahr erkannt, wird sie zur Sprecherin eines Rachegottes aus dem Alten Testament. An ihr zeigt King die negativen Seiten von Religion auf: den Fanatismus, der darin gipfelt, dass ein Mitglied der Gemeinschaft geopfert werden soll. Was hier jeglicher Logik und Menschlichkeit entbehrt, ist im geschlossenen Denksystem einer Mrs. Carmody jedoch nur ein unausweichlicher Schritt zur Erlösung:

»,,A sacrifice," Mrs. Carmody said - she seemed to grin in the gloom. "A blood sacrifice."«12 Sie spielt mit den Ängsten der Menschen und kanalisiert die aus der Angst entstehenden Kräfte in eine Art Ur-Religion, Drayton zufolge eine dunkle Abart des Puritanismus. Es scheint als würde sie auf diese Weise endlich zu der Art Anerkennung kommen, die ihr bisher immer verwehrt war. Anerkennung und das Bedürfnis auch einmal im Mittelpunkt zu stehen, sind meiner Meinung nach ihr Antrieb. Sie macht einen bemitleidenswerten, vereinsamten Eindruck auf mich, und schließlich ist sie auch nur ein Mensch, der sich nach Freunden sehnt. Vielleicht blüht sie deshalb so auf, als sich mehr und mehr Anhänger um sie scharen.13 Ich möchte im folgenden noch auf die allgemeinen Geschehnisse in ,,The Mist" eingehen. Dabei ist vor allem auffällig, dass eine logische Betrachtung der Situation einen generellen beruhigenden Effekt auf die Aktanten hat. Sobald ein akutes Problem auftritt, z.B. der verstopfte Generator oder die Glasfassade des Supermarktes, werden die Figuren aktiv. Es gilt ein Problem zu lösen, und jedwede Ablenkung scheint besser zu sein als ein unbestimmtes Warten. Die Männer ergreifen dabei die Initiative, es gibt eine Möglichkeit sich hervorzutun, sich zum Helden zu machen. Der Ausgang des Generatordebakels spricht allerdings für sich. Dennoch wird das Ausmaß der Katastrophe überschaubarer und somit leichter zu verarbeiten. Interessant ist bei der Verarbeitung der grausamen Ereignisse, dass sich Draytons Wahrnehmung auf die Details fokussiert. Der Schrecken, den King bei der Entdeckung der toten Soldaten14 beschreibt, wird durch die nüchterne und detaillierte Vorstellung des Wie noch um einiges verstärkt. Nüchternheit und Detailfülle zeigen die ganze Hoffnungslosigkeit des Versuchs, Zusammenhalt zwischen den Menschen im Supermarkt zu schaffen; dass man sich unmöglich um alle kümmern kann. Ferner wird hier ein Blick in die Psyche des Protagonisten gewährt, die versucht den Schock zu verdrängen, indem sie sich wiederum auf praktische Erwägungen und Details konzentriert. Die Toleranzschwelle für diese Details wird mehr und mehr ausgereizt. Meiner Meinung nach kommt die Angst, die King beschwört, vor allem von dieser Nüchternheit und Hoffnungslosigkeit. Es ist das Sich-Abfinden mit extremen Situationen, eine Gefühlsleere, die sich bildet, das Handeln aus der einfachen Notwendigkeit, dass es jemand tun muss, wie z.B. das Verstecken der toten Soldaten.

Ferner ein gewisser Galgenhumor, eine Ironie, die die Situation eigentlich noch gegenwärtiger, deshalb aber nicht bedrohlicher macht. Da wird ein Spiderman Comic ein makabres Detail, nachdem die Außenmission zur Apotheke in einem Gemetzel endete. Es macht jedoch die Charaktere menschlicher in einer unmenschlichen Situation. Dafür sprechen auch die zum Teil unsinnigen und unpassenden Assoziationen, die der Protagonist beim Anblick des Gräuels hat. Drayton versucht eine Verbindung zu schaffen zwischen dem Bekannten und dem Neuen. Der Leser soll sich eine Vorstellung machen können, inwiefern sich z.B. die Kreaturen von normalen Tieren unterscheiden. Er zieht Vergleiche zu Vögeln, Tintenfischen, Spinnen und Insekten heran, die aber durch ihr überdimensionales Erscheinungsbild wieder relativiert werden. Der Leser kann sich so nur eine ungefähre Vorstellung des Ausmaßes der Katastrophe machen. Es bleiben Unbestimmtheitsstellen, die der Protagonist nicht füllen kann, weil er es nicht erträgt sich zu erinnern, oder er will sie nicht füllen, weil er anderen das Grauen ersparen möchte. Zum Ende hin ist ein beängstigender Grad an nüchterner Erzählweise erreicht. Der Mensch gewöhnt sich an alles, spricht daraus, und das macht die Geschichte erschreckender als alle grausigen Details zusammen. Der wahre Horror kommt aus den Menschen selbst, ihrem zwischenmenschlichen Verhalten und vor allem daher, dass der Leser dieses Verhalten nachvollziehen kann. Fragt man sich nicht unwillkürlich zu welcher der Gruppen man selbst gehören würde? Die Aggressionen, die sich zwischen den Figuren aufbauen, sind den Lesern bekannt. Allein schon ein schreiendes Kind in der U-Bahn macht so manchen Menschen aggressiv, wie groß ist dann erst die psychische Belastung in einer Katastrophensituation?

Die Gedanken des Protagonisten sind dem Leser nicht fremd, möchte ich meinen. Der Verlust eines geliebten Menschen, das Unwissen über sein Schicksal, der Verlust von Liebe, Nähe und Geborgenheit, von Sicherheit und das Hineingeworfenwerden in eine ungewisse Zukunft, in der nicht einmal das Überleben gesichert ist, erzeugen extreme gefühlsmäßige Belastungen, denen nicht jeder standhalten könnte. So ist auch der sexuelle Akt zwischen Drayton und Amanda nichts weiter als eine Notwenigkeit, eine Möglichkeit sich abzureagieren. Keine Entspannung kann daraus entstehen, sondern einzig die Illusion einer Geborgenheit für den Moment. Aus Verzweiflung wird eine künstliche Nähe geschaffen, die nicht erfüllen kann. Eine Notwendigkeit. Eine Gefühlsleere, die den Schockzustand der Figuren deutlich zum Ausdruck bringt.

Die Polarisierung innerhalb der Gruppe wird schließlich immer deutlicher. Mrs. Carmody schart eine regelrechte Gemeinde um sich, wodurch die zu Beginn starke Gruppierung der Praktiker in die Opposition gedrängt wird. Es wird immer schwerer, sich ihren aufwiegelnden Predigten zu entziehen oder offen gegen sie anzugehen. Die Spannungen sind nun so groß, dass eine gewaltfreie Lösung des ideologischen Konflikts nicht mehr möglich ist. Der Triumph der Guten über das Böse in Gestalt von Mrs. Carmody hat einen bitteren Nachgeschmack. Ihr Tod wird durch ihre unversöhnliche Haltung und Anstiftung zum Mord gerechtfertigt, dennoch sollte er in einer zivilisierten Gesellschaft unnötig sein. Die Menschen wurden bereits durch die äußeren Einwirkungen dezimiert, und es gibt ein trauriges Bild einer Gesellschaft ab, die sich wenn auch in Notwehr von innen her zerstört. Die Flucht der letzten lebenden vier ,,Vertretern der Vernunft" wird dadurch des kleinen Hoffnungsschimmers beraubt. Es gibt ein vorläufiges Entkommen, doch der Nebel lichtet sich nicht, noch gibt es Zufluchtsorte, die auf Dauer bestehen können. Hoffnung ist das letzte, was den Figuren bleibt. Eine Hoffnung, die ziemlich utopisch scheint angesichts der Umstände. Es ist ein offenes Ende, allerdings ohne die sonst für King typischen aufflammenden Zeichen für eine bessere Zukunft. So wird am Ende sogar die Hoffnung hoffnungslos und der Leser ist mit gemischten Gefühlen auf sich allein gestellt. Wie es sich gehört für eine gute Horrorgeschichte.

Fazit

King kann und muss also als seriöse Sozialfiktion gelesen werden. Es ist sein Kommentar auf und seine Kritik am modernen amerikanischen Wertesystem, der Politik, interpersonellen Beziehungen sowie den vertrauten und verehrten Institutionen. Sein Werk zeigt, dass die Sicherheiten unseres Mikrokosmos aus Familie, Heimat und Gesellschaft keine Zuflucht mehr bieten; dass eine sich ständig wandelnde, sich verkleinernde Welt Gefahren birgt, die man nicht leicht überschauen kann; und dass die Monster der Moderne keine Frankensteins sind, sondern die Menschen selbst, von denen alles Übel ausgeht. Er zeigt, dass gegenwärtige, in der Gesellschaft diskutierte Themen, wie Gentechnologie, wissenschaftliche Experimente, und vielleicht besonders in Amerika religiöser Fanatismus, Horror sein können. Der Alptraum entfesselter und ungezügelter Wissenschaft wird am Beispiel von ,,The Mist" gezeigt. Der Autor und Universitätsprofessor Tony Magistrale stellt eine Verbindung zwischen Kings Werk und der Theorie des social narcissism 15 her. Dieser Narzissmus äußere sich in einem Verlust des Vertrauens in Staat und Institutionen, einer generellen Haltung von Zynismus und Verzweiflung in der Gesellschaft sowie dem kollabierenden Konzept der Familie, wie sie sich besonders im Roman der 90er Jahre beobachten lässt, in dem traditionelle Familienschemata aufgelöst oder umgestaltet werden. Er erwähnt die Sorge des Individuums um sich selbst, um das eigene Überleben, das zum einzig realistischen Ziel wird, da alles andere außerhalb der Macht und Kraft des Individuums liegt. Für Magistrale ist das Überleben des Einzelnen eine vorherrschende Ideologie in der Gegenwart. Selbstverwirklichung wird nur erreicht, wenn sich das Individuum ändert, nicht aber die Gesellschaft. Man will zwar ein besseres Leben, aber nicht unbedingt auch eine bessere Gesellschaft.

Genau diese Punkte lassen sich auch in ,,The Mist" erkennen, denn Kings Interesse gilt dem Individuum und seinem persönlichen Kampf mit den korrumpierenden Einflüssen der Gesellschaft. Der einzige Weg, dem gesellschaftlichen Angriff zu entgehen, ist die Gesellschaft zu verlassen, aus ihr herauszutreten und hineinzugehen in eine kleine Gruppe mit zwischenmenschlichen Bindungen. In ,,The Mist" sind diese Bindungen ein Familienersatz: Mrs. Reppler, die Lehrerin, eine Mutterfigur; Amanda, die Geliebte; Billy, der Sohn, und der Protagonist. Es entsteht eine Art Ideologie der small group rebellion, in dem der Einzelne ein Held sein kann, sofern es überhaupt noch Helden geben kann heutzutage. Wenn aber die Helden den Mut aufbringen die Gesellschaft zu verlassen, warum haben sie dann nicht auch den Mut die Gesellschaft zu verändern? Weil es der einfachere Weg zu sein scheint. Man muss sich den Problemen, die politische Konflikte mit sich bringen, nicht stellen. Es findet keine offene Konfrontation mehr statt. King scheint nicht der Meinung zu sein, dass sich das Individuum effektiv mit den sozialen Kräften konfrontieren kann, die es selbst ablehnt. Abschließend lässt sich sagen, dass King ein weitgehend unterschätzter Autor ist, was die Botschaften seiner Geschichten angeht. Das suchende Auge wird bei ihm immer die eine oder andere gesellschaftskritische Aussage finden. Ich bin deshalb sehr wohl der Ansicht, dass King ein gesellschaftskritischer Autor ist, nur dass er eben keine wissenschaftlichen Abhandlungen oder Essays darüber schreibt, sondern mainstream - und dazu noch Horrorliteratur. Sie ermöglicht den Lesern an unkonventionellen Lösungen für alltägliche Probleme teilzuhaben. Sie ist ein interessanter Weg, sich mit dem Leben auseinander zu setzen, auch wenn Horror hauptsächlich vom Tod lebt. Sie unterstützt das Vorstellungsvermögen und beflügelt die Phantasie. Sie hat oberflächlich betrachtet nichts mit der Realität zu tun, was sie zum entspannenden Lesevergnügen macht, bei dem man nicht ständig nachdenken und analysieren muss. Ein Großteil der Stephen King Fans weiß sicherlich nicht, wie Horror im Speziellen wirkt, sie sehen und fühlen nur die Wirkung, die er auf sie hat. Auf diese Weise macht das Sichfürchten Spaß: Man kann das Buch jederzeit zuklappen. Die Realität dagegen lässt sich nicht so einfach zuklappen...

[...]


1 Zitiert nach: Davis, Jonathan P.: Stephen King's America, Bowling Green State University Press 1994, S. 8.

2 Davis, Jonathan P., Stephen King's America, Bowling Green State University Press 1994, S. 8.

3 Biographische Angaben aus: Anton, Uwe: Wer hat Angst vor Stephen King?, Tilsner München 1994.

4 Meyers Grosses Taschenlexikon, Bd. 10, 4. Auflage, B.I.-Taschenbuchverlag, 1992.

5 King, Stephen: "The Mist", in: Skeleton Crew, London: Warner Books, 1993. Seite 86.

6 Ebd., S. 32.

7 Ebd., S. 49.

8 Ebd., S. 112.

9 Ebd., S. 105.

10 Ebd., S. 72-77.

11 Ebd., S. 82.

12 Ebd., S. 82.

13 Ich würde an dieser Stelle gern noch auf die zum Teil klischeehafte, fast stereotype Präsentation der weiblichen Charaktere eingehen, bin aber der Meinung, dass dies den Rahmen dieser Hausarbeit sprengen würde.

14 King, Stephen: "The Mist", in: Skeleton Crew, London: Warner Books, 1993, S. 109f.

15 vgl: Magistrale, Tony: Landscape of Fear, Stephen King's American Gothic, Bowling Green State University Press 1988, S. 6ff.

Ende der Leseprobe aus 15 Seiten

Details

Titel
Individuum und Gesellschaft im Werk von Stephen King
Hochschule
Freie Universität Berlin
Veranstaltung
Analyse literarischer und visueller Texte
Autor
Jahr
2000
Seiten
15
Katalognummer
V99128
ISBN (eBook)
9783638975773
Dateigröße
436 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Individuum, Gesellschaft, Werk, Stephen, King, Analyse, Texte
Arbeit zitieren
Susanne Maßwig (Autor:in), 2000, Individuum und Gesellschaft im Werk von Stephen King, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/99128

Kommentare

  • Gast am 8.5.2003

    Geniale arbeit.

    Deine Interpretation ist richtig treffend

    und wie die Gesellschaft danach beurteilst und ihr verhalten hat mir auch sehr bei meiner arbeit geholfen

    du scheinst dich sehr gut auszukennen

    vielleicht kannst du mir weiterhelfen...

    ich möchte gerne stephen king genauer charakterisieren

    und seine 2 Werke Carrie und Pet Sementary

    hättest du lust etwas zu diskutieren ?

    Mfg Lucas

Blick ins Buch
Titel: Individuum und Gesellschaft im Werk von Stephen King



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