Inhaltsverzeichnis
1 Der Palast der Candacis als höfische Szenerie
2 Alexander und Candacis - eine höfische Romanze?
3 Alexander als Idealbild eines höfischen Herrschers
3.1 Der Minnesklaventopos
4 Schlußbetrachtung
Literaturverzeichnis
Einleitung
Der Straßburger Alexander, dessen Entstehungszeit um das Jahr 1170 liegt, gibt bis heute der mediävistischen Forschung zahlreiche Rätsel auf. Unumstritten ist zwar, daß er auf den Pfaffen Lamprecht zurückgeht, aber schon die Frage nach dem Entstehungsort bereitet Schwierigkeiten, da nicht bekannt ist, wo und in wessen Auftrag der Bearbeiter gedichtet hat, ob es sich beim Straßburger Alexander etwa um eine Auftragsdichtung eines weltlichen Fürsten handelt oder ob der Auftraggeber im geistlichen Bereich zu suchen ist. Allein die Dialektfärbung scheint auf den moselfränkischen Raum zu verweisen.
Ebenfalls unbeantwortet blieb bislang die Frage, ob der Pfaffe Lamprecht ursprünglich die Schilderung von Alexanders Orientfahrt wie sie sich in der Straßburger Fassung findet, geplant hatte; endet doch sein Alexanderroman recht abrupt mit dem Sieg Alexanders über Darius, was zu der Annahme geführt hat, Lamprecht sei vor der Vollendung seines Werkes gestorben und der Schluß von einem weiteren Bearbeiter angefügt worden, was sich auch anhand eines Vergleichs der Schlußpassage mit dem Rest des Textes deutlich machen läßt1. Diese und andere ungeklärte Fragen erschweren die literaturhistorische Einordnung des Lamprechtschen Romans : muß man ihn - oder zumindest die erweiterte Straßburger Fassung - bereits der (früh)höfischen Epik zurechnen?
Kann man also den Straßburger Alexander als höfischen Roman oder zumindest als eine unmittelbare Vorstufe desselben bezeichnen?
Meine Arbeit möchte anhand der Analyse der Candacis-Episode, die mit Sicherheit als die ,,höfischste" Episode der Straßburger Fassung gelten kann, diese Frage erörtern, wobei ich insbesondere auf die ausführliche Schilderung des Palastes der Königin Candacis sowie auf Herkunft und Funktion der ,,Minneszene" eingehen möchte. Ich werde dabei außerdem auf den den Stellenwert der Episode für den gesamten Roman, bzw. für das von ihr und den anderen Orientepisoden kolportierte Bild Alexanders des Großen eingehen.
1 Der Palast der Candacis als höfische Szenerie
Der Bericht vom Besuchs unseres Helden, des Makedonierkönigs Alexander bei Candacis beginnt mit einer ausführlichen Schilderung des Palastes der Königin, der mit viel Liebe zum Detail als über alle Maßen prachtvoll beschrieben wird: sein goldenes Dach wird von Säulen aus edlem Gestein getragen, er ist mit Onyx ausgelegt (V. 5888) und wird von einem Fluß durchflossen, der den Glanz des üppig verwendeten Goldes spiegelt;
Betten und Bettzeug sind vergoldet, es gibt herrliche Wandteppiche, edelsteinbesetzte, kristallene Kerzenleuchter, elfenbeinerne Tische und wunderliche Dinge wie einen weihrauchspeienden Hirsch und eine von Elefanten gezogene Kemenate.
Was aber bezweckt der Bearbeiter mit dieser umfangreichen Beschreibung? Werden hier nur wahllos Einzelheiten aufgelistet, um die ,,Unfähigkeit zur Darstellung eines geprägten Ganzen zu verbergen"2 ? Dieser Deutung kann ich mich nicht anschließen, vielmehr scheint mir die Beschreibung durchaus reflektiert und sehr bewußt an diese Stelle gesetzt worden zu sein, wobei sich der Bearbeiter nicht nur auf seine eigentliche Vorlage, den Alexanderroman des Archipresbyters Leo von Neapel gestützt, sondern seine Quelle dort, wo er ihr folgte, umgeformt und darüber hinaus zahlreiche neue Motive eingebracht hat3.
So erinnert der Palast in seinen Grundfarben gold und weiß - alle dunklen Farben, die sich in der Vorlage des Archipresbyters finden, sind ausgeschieden worden- an das Lob Salomos, in dem der Tempel als Halle in weiß und gold geschildert wird, die goldenen swibogen beruhen vermutlich auf der mittelalterlichen Realität4. Gleiches gilt für den von Candacis gefertigten Wandteppich, der sehr eingehend beschrieben wird: er ist breit unde lanc, von edelen golde durhslagen, mit Seide sind Vögel und Tiere, Ritter und Frauen darauf eingestickt, er ist mit t û re(n) borten eingefaßt, hängt an elfenbeinernen Haken und ist mit goltschellen behangen. Möglicherweise ist diese Schilderung durch die der Ausstattung des Heiligtums in Exodus 36, 8-19 motiviert, in der es heißt:
Die Kunstverständigen unter den Arbeitern verfertigten die Wohnstätte aus zehn Zelttüchern: aus gezwirntem Byssus, violettem und rotem Purpur und Karmesin, mit Kerubimfiguren; als Kunstweberarbeit machten sie es.
Plausibler erscheint es jedoch, anzunehmen, daß hier ein Stück mittelalterlicher Realität, wenn auch in idealisierter Übersteigerung, dargestellt wird. Mit dem Aufkommen der Hausherrschaft am Beginn der Stauferzeit begann auch der Bau von Burgen in Deutschland, die hauptsächlich repräsentative Funktion hatten. Entsprechend wurden die Wohnräume mit größter Sorgfalt eingerichtet und mittels ,,mehrgliedrige(r) Fenster, Fresken und Wandteppiche(n)"5 künstlerisch ausgestaltet. Es ist also durchaus möglich, daß der Bearbeiter - zumal wenn es sich bei ihm um einen Hofdichter gehandelt haben sollte- solche Wandbehänge aus eigener Anschauung kannte und seine Erfahrungen in die Erzählung eingebracht hat. Wie schon erwähnt sind auch andere Elemente seiner Schilderung von der mittelalterlichen europäischen Realität bestimmt, was die Vermutung nahelegt, daß der Palast der orientalischen Königin als ein Idealbild eines europäischen Fürstenhofes des beginnenden 11. Jahrhundert zu begreifen ist, zumal wenn im weiteren Textverlauf auch noch ein Mahl geschildert wird, das stark an ein höfisches Fest denken läßt: nicht weniger als 500 Edelknaben versehen den Tischdienst, fünfhundert riterlich(e) Jungfrauen unterhalten die Gäste mit Tanz; Gesang und Harfenspiel (V. 6030-6060). Auffällig ist hierbei, daß sie, ebenso wie ihre Herrin, dem höfischen Schönheitsideal der hochmittelalterlichen Minnelyrik entsprechen: sie sind wol gewassen unde smal, haben schöne Augen mit goldenen ,,Bögen" darunter und sind in den höfischen Farben rot und grün gekleidet. Um die Funktion dieser ausführlichen Beschreibung zu erläutern, muß auf den hohen Stellenwert verwiesen werden, den die Schilderungen von herrschaftlichen Burgen in der höfischen Dichtung einnahmen. Sie waren, wie am Beispiel des Wandteppichs expliziert wurde, nicht ohne Bezug zur Realität, obwohl natürlich kein deutscher Fürst um 1200 so logiert haben dürfte, wie es hier oder in späteren höfischen Epen und Romanen beschrieben wird, vielmehr wurden die Vorstellungen des höfischen Publikums aufgegriffen und ausgeschmückt, was zur Folge hatte, daß die Burg der Dichtung zum Vorbild für die im 13. Jahrhundert zahlreichen neu entstehenden Fürstenhöfe wurde.
Genau das, ,,was den realen Burgen an Farbe, Licht und Wärme fehlte, wurde besonders hervorgehoben"6, wofür die Schilderung des Palastes der Candacis ein besonders eindrucksvolles Beispiel darstellt.
Es läßt sich also sagen, daß selbiger dem Bild eines idealen Fürstenhofes, wie er später in anderen höfischen Epen, beispielsweise in Eschenbachs ´Willehalm´ beschrieben wurde, entspricht. Alle wesentlichen Elemente dieses Idealbildes sind vorhanden: eine prunkvoll ausgestattete Burg, eine adelige Hofgesellschaft, ein prächtig geschmückter Festsaal und luxuriöse Wohnräume.
Diese höfische Szenerie erhält durch die Schilderung der wunderbaren Dinge, wie der rollenden Kemenate und dem mechanisch bewegten Hirsch, den der Verfasser vermutlich aus einem Bericht des Bischofs Luitprand aus dem 10. Jahrhundert übernommen hat, ihren exotischen Reiz, dennoch bleibt die Schilderung eng an das mittelalterliche Bild eines europäischen Fürstenhofes angelehnt. Der Tatsache, daß Alexander der Große nicht im Mittelalter, sondern im 4. Jahrhundert v. Chr. gelebt hat, wird keinerlei Rechnung getragen; der antike Held wird kurzerhand in die Gegenwart des Dichters und seines Publikums versetzt.
Diese ,,Höfisierung" der Antike und des Orients, zweier mehr oder weniger unbekannter Welten, entspringt einem ,,Universalitätsgefühl, das seinen eigenen Ursprung in die große antike Vergangenheit zurückprojiziert"7, wodurch eine raum- und zeitüberspannende Gültigkeit der höfischen Idealvorstellungen suggeriert werden sollte.
2 Alexander und Candacis - eine höfische Romanze?
Nachdem Alexander, der sich als sein eigener Diener Antigonus ausgibt, dem Sohn der Königin, Candaules, sein geraubtes Weib wiedererrungen hat, nimmt er, scheinbar durch den falschen Namen geschützt, die Einladung des Candaules an den Hof von dessen Mutter an, um, wie er sagt, zu sehen, w î iz d â ze lande stunde (V. 5792) und wilher site man d â phl ê ge. Als siegreicher Retter der geraubten Braut wird er bei Hofe von der Königin freundlich begrüßt, sie bewirtet ihn großzügig und führt ihn am folgenden Morgen durch ihren Palast, um ihm weitere Schätze, wie die rollende Kammer, zu zeigen. Bei deren Anblick ruft er erstaunt aus:
,,wolde got der g û te, h ê tih und m î n m û ter dise kemen â ten alsus wol ber â ten mit disen elfanden heim ze Kriechlande!" (V. 6119 -24).
An dieser Stelle gibt Candacis ihr bis dahin sorgsam gehütetes Geheimnis preis, indem sie entgegnet: ,,Alexander, daz w ê re ein michil wunder, h ê tistu alsus l î hte mir nu min gestifte mit d î nen worten benomen (...)" (V. 6127 - 31) . Sie weiß, daß sie nicht den Diener Antigonus, sondern den großen Feldherren Alexander selbst vor sich hat und löst das Rätsel um dieses Wissen sogleich, indem sie Alexander das Bild zeigt, das sie sich, als sie ihm die zahlreichen Gastgeschenke überbringen ließ, hatte anfertigen lassen (V. 5590-95). Alexander, der seine Waffen im höfischen Raum des Palastes abgelegt hat, muß erkennen, daß er, der kluge, der unbesiegbare Herrscher von einer Frau überlistet wurde und ihr nun völlig ausgeliefert ist. Er reagiert mit Scham und Zorn, doch weiß Candacis ihn mit wenigen Worten zu beruhigen und, nachdem sie ihn noch kurz darüber belehrt hat, daß er sich, auch wenn ihm das Glück bis dahin hold gewesen sei, nicht überheben (V.6176-84) und den frowen neheine w î s drowen noh sl â n noh schelden (V. 6217-19) solle, führt sie ihn in ihr Schlafgemach und läßt sich dort von ihm ,,minnen". Anschließend verläßt Alexander sie mit dem Versprechen, bald wiederzukommen, das er jedoch nicht einlöst.
Betrachtet man die Episode bis zur Minneszene, so fällt auf, daß sie durch das Verwechselspiel Alexander/Antigonus eine komödienhafte Struktur aufweist: der Leser (oder Hörer) ist den Personen des Stückes insofern voraus, daß er zum einen weiß, daß es sich bei Antigonus um Alexander handelt, zum anderen aber auch wissen kann, daß Candacis sich ein Bild von Alexander hat malen lassen, ihn daher also ebenfalls erkennt. Dieses Vorwissen ermöglicht dem Leser eine Distanznahme, die ihn mit Amüsement verfolgen läßt, wie sich der Konflikt entspinnt und schließlich zur Zufriedenheit aller Beteiligten aufgelöst wird, wobei dem Protagonisten, Alexander, der sich und seine Klugheit offenbar gründlich überschätzt hat, eine Lehre erteilt wird.
Die Minneszene selbst will jedoch aus zwei Gründen nicht recht in diese Struktur passen. Zum einen bleibt sie für die Episode scheinbar ohne Funktion : die Versöhnung zwischen Alexander und Candacis ist bereits vor dem Beischlaf gegeben, Alexander hat nach seinem kindisch anmutenden Betragen (V. 6187ff.) seine Lektion erhalten und Candacis hat ihm versichert, daß sie ihn weder verraten, noch seine Schande, von einer Frau besiegt worden zu sein, an die Öffentlichkeit dringen lassen werde. Zwar erklärt sie ihm, während sich beide in ihrem Schlafgemach aufhalten nochmals, daß ihm kein Leid geschehen werde (V. 6250), nennt ihn ,,ihren Mann" [Alexander ist zu diesem Zeitpunkt bereits mit Roxane verheiratet (V. 3982-4059) ] und bittet ihn, bald wiederzukommen, doch ist all dies für den weiteren Handlungsverlauf eigentlich überflüssig und wegen der logischen Brüche als eher störend zu bezeichnen. Nach dem Schäferstündchen folgt noch eine kleine Reiberei zwischen den Söhnen der Candacis, die diese jedoch rasch zu schlichten weiß, und schließlich reist Alexander zufrieden ab, ohne sein Versprechen, bald zurückzukehren, jemals einzulösen.
Zum anderen wird, bevor die Minneszene tatsächlich stattfindet, in keinster Weise ein Liebesverhältnis zwischen den beiden Herrschern angedeutet: Candacis wird zwar, gewissermaßen in Analogie zu ihrer Umgebung, als außergewöhnlich schön und dem Ideal einer höfischen Minnedame entsprechend geschildert (V. 5851- 53; V. 6070-75), mindestens ebensoviel Gewicht wird jedoch auf ihre große Klugheit gelegt, die an diversen Stellen erwähnt wird ( V. 5524; V. 5596; V. 5860; V. 5928; V. 5970-72; V. 6105; V. 6114f; V. 6310), was vermutlich die Funktion hat, zu erklären, warum es ihr gelingen konnte, den klugen Alexander zu überlisten. Ihre Klugheit scheint weniger dazu angetan zu sein, den ,,Sexappeal" der Dame zu steigern. Auch wird berichtet, daß Candacis Alexander mit minnen (V. 5883) empfängt und ihn auf den Mund küßt (V. 5885), doch ist minnen hier wohl eher mit «Freundlichkeit» o.ä. denn mit «Liebe» zu übersetzen, der Kuß läßt sich schlüssiger als höfisches Begrüßungszeremoniell, denn als ein Indiz für Verliebtheit seitens der Candacis interpretieren. Auch daß Candacis Alexander alleine durch den Palast führt (V. 6093f.) ist wohl weniger als ein Hinweis auf ihren späteren erfolgreichen Versuch, Alexander zu verführen, zu bewerten, als vielmehr aus dem Handlungsverlauf heraus logisch notwendig, denn außer ihr darf ja niemand um Antigonus´ wahre Identität wissen. Wie läßt sich außerdem der befremdliche Sachverhalt, daß Alexander sexuell mit einer Frau verkehrt, die ihn erklärtermaßen an seine Mutter erinnert (V. 5853-57), erklären? Leidet er womöglich an einem Ödipuskomplex8 ? Oder gibt hier die Mutter des Helden ,,das Muster, das den weiblichen Protagonistinnen zum Vorbild dient"9, wie es in vielen hochhöfischen Romanen, beispielsweise bei ,,Iblis und Lanelet", der Fall ist ?
Was also hat den Bearbeiter veranlaßt, an dieser Stelle eine Minneszene anzuschließen?
Schon im Jahre 1901 hat W. Wilmanns10 die These vertreten,, daß die Minneszene durch eine Kontamination zu erklären sei. Inzwischen herrscht in der Forschung Einigkeit darüber, daß der Bearbeiter an dieser Stelle in der Tat seine Vorlage unterbricht, indem er ein Textstück aus einer anderen Tradition einfügt. Während nämlich im französischen Alexanderroman ein ,,gewöhnliches" Minneverhältnis zwischen Alexander und Candacis beschrieben wird, hat der Bearbeiter des Straßburger Alexanders zwar das Minnemotiv eingebracht, nicht aber, wie der französische Schreiber, die aus der Historia de preliis stammenden Anspielungen auf ein Mutter-Sohn-Verhältnis eliminiert. Daß nämlich Candacis Alexander an seine Mutter erinnert, findet sich bereits im antiken Roman des Pseudo-Kallisthenes, dafür fehlt in dem Roman ,,jegliche(r) Liebesbeziehung zwischen Candacis und Alexander, statt dessen wünscht sich Candacis, der von ihr wegen seiner Klugheit bewunderte Alexander wäre ihr Sohn"11. Von hier also stammt ursprünglich die Annahme einer Mutter-Kind-Beziehung. Sie findet sich ebenso in der Res gestae Alexandri Macedonis des Julius Valerius und in der Historia de preliis. Erst im französischen Roman d ´ Alexandre ist ,,die hehre königin des Altertums (...) zu einem verliebten weibe nach art der Artusheldinnen gemeinsten schlags geworden"12, die sich in Alexander verliebt und ihn ausschließlich deshalb an ihren Hof lockt, wo sie ihm, bevor die ihm entdeckt, daß sie um seine Identität weiß, ihre Liebe gesteht, die von Alexander erwidert wird, und seinen Zorn durch einen Kniefall besänftigt! Dem Bearbeiter des Straßburger Alexander aber haben als Quellen offenbar sowohl die Historia de preliis als auch der französische Roman vorgelegen, und obwohl er sich in der Candacis-Episode hauptsächlich auf die erstere stützt, hat er an dieser Stelle auf den französischen Roman zurückgegriffen und die Minneszene eingefügt.
Diese Erklärung der Szene scheint plausibel und ist in der Forschung inzwischen unumstritten, Uneinigkeit n herrscht hingegen in der Frage, warum der Bearbeiter die Szene eingeschoben hat, ohne daß das Minneverhältnis zwischen der orientalischen Herrscherin und dem Protagonisten des Romans im vorangehenden Text in irgendeiner Weise angedeutet wird. Wilmanns interpretierte den Einschub lediglich als Folge von ,,stumpfsinn und gefühlsroheit"13 des Bearbeiters, inzwischen hat sich jedoch - in verschiedenen Modifikationen - die Meinung durchgesetzt, daß es die Intention des Bearbeiters war, Alexander zu einem höfischen Ritter umzustilisieren, wie dies bereits im französischen Roman geschehen ist. Warum aber hat er dann nicht die gesamte Episode aus dem französischen Roman übernommen? Und hat die Minneszene einzig und allein die Funktion, Alexander als ,,Repräsentanten eines innerweltlichen Rittertums darzustellen (...), eines Rittertums zu dem (...) eben auch die Minnebindung des Ritters gehörte? Diese Fragen werden im Folgenden noch zu erörtern sein.
3 Alexander als Idealbild eines höfischen Herrschers
Im folgenden Abschnitt möchte ich die Frage beleuchten, ob und inwiefern Alexander im Gesamtroman und natürlich in der Candacis-Episode als höfischer Ritter dargestellt wird.
Barbara Haupt ist der Ansicht, daß der Protagonist des Straßburger Alexander einen Entwicklungsprozeß hin zum höfischen Idealbild durchläuft, der mit der Orientfahrt beginnt: hier lernt er ,,ein neues Kulturmuster" kennen, das durch ,,Frieden, Diplomatie und freundschaftliche Beziehungen"14 und letztendlich auch durch die «Minne» geprägt ist. Aus dem kriegerischen Feldherren, den wir im ersten Teil des Romans bei seinem unerbittlichen Vernichtungszug gegen Darius kennengelernt haben, wird durch die Begegnungen mit fremden Kulturen ein Idol, ein Herrschertypus, mit dem sich der Feudaladel identifizieren konnte und dessen kriegerische Ambitionen sich nun ausschließlich ,,auf die Ebene des Animalischen und Monströsen"15 konzentrieren. Seine schlechten Eigenschaften, also seine Neigung zu Zorn, Maßlosigkeit und Hybris werden Alexander nach und nach abgewöhnt: zunächst durch das Vorbild der friedlich und besitzlos lebenden Occidraten (V. 4765- 4889), das ihn ,,mit dem extremen Gegenbild, der Negation seiner kriegerisch machtpolitischen Ambitionen konfrontiert"16, dann durch die Begegnungen mit den Blumenmädchen, die die Krieger in eine Welt von ,,Musik Gesang und glücklicher Liebe"17 entführen, in der sie alle kriegerische Aktion vergessen und sich ganz der Muße hingeben. In der Candacis-Episode schließlich, so Haupt, wird ,,die Minne übertragen in den Raum des Hofes von Meroves, wo sie (...) versöhnende Kraft entfaltet"18. Haupt erkennt in der Minneszene außerdem ein Motiv gegenseitigen Trostes, den sich Mann und Frau nach ihrer Auseinandersetzung schenken. Nun ist es meiner Ansicht nach nicht einsehbar, warum Candacis, nachdem sie den Herrscher der damals bekannten Welt überlistet und mit einigen klugen Worten für seinen weiteren Lebensweg bedacht hat, des Trostes bedürftig sein sollte. Ebenso erscheint es zumindest seltsam, daß sie sich ihm hingibt - wobei sich der Schilderung des Ablaufs nach eher er sich ihr hinzugeben scheint - um ihn zu trösten, denn so wie die Minneszene darstellt wird, hat es mehr den Anschein, als erfülle er ,,der Minne Gebot fast widerwillig"19 und empfände sie insofern als nicht sonderlich tröstlich. Der Deutung der Minneszene als gegenseitigem Spenden von Trost kann ich mich daher nicht anschließen. Darüber hinaus ist anzumerken, daß die Orientfahrt Alexanders sich zwar vom Handlungsverlauf signifikant vom ersten Teil unterscheidet, daß aber sogenannte ,,höfische" Eigenschaften Alexander auch schon im ersten Teil des Romans zugesprochen werden. Das beginnt bei der Schilderung seiner Erziehung am Beginn des Romans (V 200- 269): Alexanders Lehrer, sechs an der Zahl, lehren ihn nicht nur die Kriegskunst, sondern auch Sprachen, musische Fertigkeiten, Mathematik, Astrologie und wi er von dem unrehten beschiede daz rehte (V. 249), also Rechtsprechung. Ein Katalog, der sich durchaus mit dem höfischen Bildungsideal des Mittelalters, das vor allem auf die christlichen Kardinaltugenden der Besonnenheit, Gerechtigkeit, Weisheit und Tapferkeit abzielte, deckt. Daß Alexander ritterliche Gesinnung besitzt, stellt er auch im ersten Teil des Romans des öfteren unter Beweis, wenn er zum Beispiel keine Scheu vor dem menschenfressenden Bucival zeigt, wenn er für seinen Vater gegen aufständische Fürsten zu Felde zieht (V. 510) oder seine Mutter vor der Verdrängung durch eine Nebenbuhlerin bewahrt (V. 473-508; ergänzt aus Vorauer V. 430-40) - was immer über den jungen Alexander berichtet wird, zeugt von großer Tapferkeit, Weisheit und einem ausgeprägten Gerechtigkeitssinn, der ihn schließlich auch dazu veranlaßt, Darius den Zins zu verweigern und damit die Auseinandersetzung zu beginnen, deren Schilderung im Gesamt des Romans den Hauptteil einnimmt. Zwar finden sich, nachdem Alexander seine Heerfahrt begonnen hat, einige Hinweise auf seine uberm û techeit (V. 723), indem z.B. sein Verhalten gegenüber den Einwohnern von Tyrus auf das Schärfste verurteilt wird, insgesamt gesehen aber wird Alexander im Kontrast zu Darius stets als der kluge, tapfere und edle Feldherr beschrieben, der im Umgang mit seinen Vasallen auch die höfischen Forderungen der g ü ete und der triuwe erfüllt20 und mit dem sich der Leser oder Zuhörer, trotz des blutigen Handwerks, bei dessen Ausübung er hier gezeigt wird (die Schlachtschilderungen nehmen großen Raum ein), durchaus identifizieren kann. Seine Trauer um Darius, sein edles Verhalten gegenüber dessen Familie, die Begnadigung des «Schurken aus Liebe» (V. 2730-2776) all dies zeugt von Eigenschaften, die einem idealen Fürsten der höfischen Zeit zugeschrieben wurden.
Lediglich die Tugend der m â ze geht ihm zunächst noch gänzlich ab. Die Problematik der uberm û techeit, die an Alexander auch im weiteren Verlauf des Romans bis hin zur Paradiesfahrt kritisiert wird, taucht hier bereits auf. Auch findet sich schon im ersten Teil das Motiv der Fortuna mit dem Rad, die den Menschen, die darauf sitzen, spielerisch ihre Geschicke zuteilt, das später in der Rede der Candacis wieder auftaucht - hier allerdings auf Darius angewandt (V. 3413-21). Bei Darius´ Tod erhält Alexander erstmalig die Mahnung, sich am Beispiel des Schicksals seines früheren Gegners vor Augen zu halten, daß die ,, s æ lde dem Menschen nicht immer treu" ist und den ,,Mächtigen zu Fall bringen"21 kann (V. 3844- 48; V. 6179-84). Es zeigt sich also, daß, wenn bei Alexander einen Lernprozeß stattfindet, dieser bereits im ersten Teil des Romans einsetzt. Meines Erachtens kann man jedoch die Begegnungen Alexanders mit den verschiedenen orientalischen Völkern (Occidraten, Blumenmädchen, Candacis, Amazonen) nicht pauschal als Stationen eines Lernprozesses deuten, den Alexander absolviert. Während seiner Begegnung mit den Occidraten zum Beispiel zweifelt er, obwohl auch in diesem Abschnitt das nahezu leitmotivische Wort ubirm û t (V. 4767f.) auftaucht und er wieder einmal aufgefordert wird, m â ze zu üben, nicht einen Augenblick daran, daß seine Lebensführung die ihm von Gott zugedachte und daher für ihn richtige ist, obwohl er sich dem Argument, daß er trotz allem sterblich sei und somit letztendlich auch nicht mehr besitzen werde als sein eigenes Grab, nicht verschließen kann. Dennoch ist er der Ansicht, daß er etwas das ihm wol t û t (V. 4885f.) beginnen müsse. Obwohl hier im Gegensatz zum Vorauer Alexander, die persönliche Befriedigung, die der Held durch sein Handeln erlangt, stärker in den Vordergrund gestellt wird, weiß sich sein ,,selbstbestimmtes Handeln (...) letzlich abhängig von der höchsten Macht, von Gott"22 Er verläßt die Occidraten, ohne die eigene Lebensform ernstlich in Frage gestellt zu haben. Ähnlich verhält es sich mit den Blumenmädchen. Zwar lassen hier die Krieger für einige Monate von ihrem Handwerk ab, um sich ganz der Muße zu widmen, doch galt der Zustand äußerster Entrückung, in den Alexander und seine Mannen im Mädchenwald geraten, für den mittelalterlichen Menschen als eher bedrohlich. Die im Grunde negative Konnotation dieses Zustandes wird umso deutlicher, wenn man sich vor Augen hält, daß Alexander in der vorhergegangenen Episode ausdrücklich gesagt hat, daß ihm sein tätiges Leben von Gott auferlegt wurde, er also, indem er sich in dem Wald aufhält und alle angist unde leit (V. 5230) vergißt, seine göttliche Sendung verfehlt. Allerdings gemahnt auch diese Szene Alexander, ebenso wie die Occidraten, an die irdische Vergänglichkeit (die Mädchen, die einem naturhaften Kreislauf des Werdens, Blühens und Sterbens unterliegen, verwelken schließlich förmlich und sterben dahin) und somit auch an den eigenen Tod, doch scheint er auch hier keine Lehre aus seinem Erlebnis zu ziehen.
Erst in der Candacis-Episode erhält seine ,,Vanitas" wirklich einen Dämpfer: ausgerechnet einer Frau gelingt es, ihn zu überlisten. Meiner Ansicht nach ist an dieser komödienhaften Episode jedoch der Unterhaltungswert mindestens ebenso hoch zu bewerten, wie das didaktische Anliegen, zu zeigen, daß Hochmut vor dem Fall kommt - immerhin entbehrt die Episode mit ihrem Verwechselspiel nicht einer gewissen Komik. Möglich ist aber auch, daß hier versucht wurde, einen mittelalterlichen Topos zu realisieren, der sich in der hochhöfischen Zeit großer Beliebtheit erfreuen sollte: der Minnesklaventopos, auf den ich an anderer Stelle eingehen werde.
Abschließend läßt sich sagen, daß Alexander durchaus Träger ritterlicher Eigenschaften ist, ,,alle Begriffe des höfischen Tugendsystems, die in den großen Epen und Romanen der Jahrzehnte um 1200 eine Rolle spielen" klingen hier zumindest an ,,und so kann Alexander schon hier als Idealbild des mittelalterlichen Ritters gelten"23. Auch ist es der Fall, daß sich im Verlaufe des Romans eine Entwicklung ergibt, die ihn diesem höfischen Ritterideal noch näherbringt, indem er von seinem ubirm û t befreit wird und die Tugend der m â ze lernt. Ich bin jedoch nicht der Meinung, daß mit der Schilderung der Orientfahrt die Darstellung eines kontinuierlichen Lernprozesses beabsichtigt war, zumal Alexander seine größte Vermessenheit, den Versuch, das Paradies zinspflichtig zu machen, erst am Ende des Romans begeht. Man könnte also behaupten, daß er zwar von Darius, den Occidraten und Candacis zur m â ze ermahnt wird, daß aber diese Warnungen letzlich ohne Wirkung auf Alexanders Ambitionen bleiben, überhebt er sich doch am Ende zu der größenwahnsinnigen Idee, das Paradies zu erobern. Erst als ein alter Jude ihm den Wunderstein deutet (V. 7155-7246), den er, nachdem er mit unendlichen Mühen, an die Mauer des Paradieses gelangt ist, erhalten hat, bevor er wie ein verirrtes Kind zurückgeschickt wurde, geht Alexander tatsächlich in sich und führt fürderhin ein Leben frei von url ô ge und giricheit (V. 7265) - er wird zum Ideal eines höfischen Herrschers.
3.1 Der Minnesklaventopos
Der Minnesklaventopos wurde erstmals im Jahre 1953 von Friedrich Mauerer24 beschrieben. Anhand des sogenannten Malterer Teppichs, eines Bildteppichs aus dem vierzehnten Jahrhundert, sowie an Textzeugen aus dem 13. und 14. Jahrhundert erläutert Maurer den Topos vom durch die Minne besiegten Mann, der sich im Hochmittelalter großer Beliebtheit erfreut zu haben scheint. Es gab ganze Kataloge von Männern, die durch die Minne ins Unglück gerieten, in denen neben biblischen und antiken Gestalten auch Alexander der Große (zum Beispiel bei Lucidarius, im Frauenlob und bei Hugo von Montfort) auftauchte. Intention bei der Verwendung dieses Topos war nach Maurer zunächst, um 1200, die Gegenüberstellung von falscher und wahrer Frauenminne, ab dem Ende des 13. Jahrhunderts aber wurden ,,die falsche Weltminne, die Liebe zur Frau, die in Schande und Leid führt" und ,,die wahre Gottesminne, die zur höchsten Freude und ewigen Seligkeit geleitet"25 in Kontrast zueinander gesetzt, wodurch die Zuhörer angehalten wurden, die wahre Minne, die ,,Liebesvereinigung mit Christus"26 zu suchen, sich der Vergänglichkeit und Schlechtigkeit der Welt bewußt zu werden und ihre Hoffnung nicht in den irdischen, sondern in den jenseitigen Bereich zu setzen. Beliebte Beispiele für ,,Minnesklaven" waren Aristoteles, Vergil und Iwein, Samson, Absalon und Holofernes, Salomon, Adam und, wie bereits erwähnt, nicht selten auch Alexander.
Rüdiger Schnell hingegen unterscheidet zwischen ,,Frauensklaven-" und ,,Minnesklaventopos", die im Mittelalter nicht diachron aufeinander folgten, sondern in synchronem Zusammenhang miteinander stehen. Der Frauensklaventopos hat seinen Sitz hauptsächlich ,,in pastoraltheologischen, in exegetischen, in moraltheologischen und didaktischen Werken"27, aber auch in Satire und Schwankdichtung. Er fußt auf der damals üblichen misogynen Interpretation von Genesis 3,1 -24 und der daraus gewonnenen Überzeugung, daß alles Übel in der Welt von der Frau ausgehe, und daß sie die Verführerin und Verderberin des Mannes sei, von der selbiger sich daher tunlichst fernhalten sollte. Häufig ist Frauensklaventopos jedoch auch ,,verbunden mit der Differenzierung von «bösen» und «reinen» Frauen"28. Charakteristisch für den Topos aber ist, daß Beispielfiguren wie Adam, David, Samson oder Salomon stets als ,,negative Warnung, als Opfer von falschen, listigen Frauen"29 auftreten. Sie alle sind nicht ,,Opfer der Liebe" sondern Opfer tückischer Frauen.
Der Minnesklaventopos wiederum findet sich hauptsächlich in der höfischen Literatur, im höfischen Roman, in Minnesang und Minnerede. Im Gegensatz zum Frauensklaventopos ist es hier nicht die Frau, die den Mann heimtückisch ins Elend stürzt, sondern die Minne selbst ist es, die ihn durch ihre Macht zwingt, sich ihr bedingungslos unterzuordnen. Durch diese Personifikation wird ,,das Verhältnis Minnesänger/Dame entgegenständlicht"30 und idealisiert. Paradoxerweise werden in der höfischen Literatur nun viele Charaktere, die vormals als mahnende Beispiele für Opfer weiblicher Hinterlist angeführt wurden, nun quasi unter umgekehrten Vorzeichen wieder aufgegriffen, sie werden jetzt zu Positivbeispielen von Männern, die ,,höfisches" Verhalten an den Tag gelegt und die Übermacht der Minne anerkannt haben. Auch wird die Liebe nun nicht mehr als fatal für den Liebenden betrachtet, sondern der Aspekt der Lust und der Freuden der Liebe wird betont - denn warum hätten Samson, Salomon, Adam oder David alles Ungemach auf sich nehmen sollen, das ihnen durch die Verbindungen zu ihren jeweiligen Damen entstanden, wenn nicht die Freuden der Liebe dies vielfach aufgewogen hätten? In der höfischen Literatur, in der die Minne die zentrale Rolle spielte, konnte man den frauen- und leibfeindlichen Tenor des Frauensklaventopos nicht unterbringen, zu eklatant widersprach eine solche Einstellung dem ,,tragenden Gefühl der höfischen Gesellschaft"31, der vr ö ude.
Läßt sich nun aber einer dieser Topoi auf die Candacis-Episode im Straßburger Alexander übertragen? Immerhin liegt er zeitlich um einiges früher als die in den Aufsätzen von Mauerer und Schnell genannten Texte. Darüber hinaus scheint die Geschichte von Alexander und Candacis seltsamerweise eine Mischform von Frauen- und Minnesklaventopos darzustellen, denn Alexander wird zwar von Candacis überlistet, doch geschieht dies eher zu seinem Vorteil denn zu seinem Schaden, da sie ihren Sieg nur dazu nutzt, ihn vor dem eigenen Hochmut zu warnen und nicht etwa, um ihn ins Elend zu stürzen. Auch wird Candacis keineswegs als hinterlistig und tückisch, sondern als klug und weise beschrieben.. Andererseits aber wird, wie bereits dargelegt, an keiner Stelle erwähnt, daß es die abstrakte Macht der Minne ist, die Alexander zu Candacis hintreibt, sondern lediglich die Neugier. Nichtsdestotrotz kann meiner Ansicht nach davon ausgegangen werden, daß die Erzählung des Sieges der Candacis über Alexander aus der selben Wurzel stammt, wie der höfische Minne- oder Frauensklaventopos, nämlich aus den antiken Liebeskonzeption Ovids. Der Topos, der hier, wenn auch nur sehr unterschwellig, anklingt, ist das «Amor vincit omnia»- Motiv, das ursprünglich von Vergil stammend32, die ovidianische Liebeskonzeption, in der die Minne als eine den Menschen von außen her überwindende Macht charakterisiert wird, treffend bezeichnet. Ovids Werke waren seit dem 11. Jhd. ,,allgemein verfügbares Bildungsgut"33 geworden und da er der einzige den mittelalterlichen Autoren zugängliche antike Dichter war, der das zentrale Thema der höfischen Dichtung, die Minne, behandelte, tauchen ,,in der deutschen Literatur des ausgehenden XII. und XIII. Jahrhunderts zahlreiche Ovid-Reminiszenzen"34 auf. ,,Seine Dichtung verkörperte das Neue, das Verbotene: Sinnlichkeit zum Selbstzweck"35. Seit dem Ende des 11 Jahrhunderts war sein Name ,,weitgehend identisch mit erotischer Poesie und Gattungsmarke einer durchaus diesseitig- sinnlichen Erotik ohne jede transzendente Legitimation", deren ,,Allegorisierung und Moralisierung" im 12. Jahrhundert einsetzte"36 Vor diesem Hintergrund erscheint es durchaus möglich, daß der Bearbeiter des Straßburger Alexander mit der ovidianischen Liebeskonzeption vertraut war und sie hier einzubringen versucht hat. Einen Hinweis darauf liefert auch die Analyse der Verse 5578-5588, in denen das Einhorn beschrieben wird, übrigens das ,,früheste Zeugnis über das Einhorn in der deutschsprachigen epischen Literatur"37. Für den modernen Leser scheint das merkwürdige Tier, das den carbunkel treget und sich nur von einer Jungfrau fangen läßt, zunächst nur ein weiteres Element der langen Liste von Kostbarkeiten und erstaunlichen Dingen zu sein, die Candacis Alexander schenkt, für den mittelalterlichen Menschen aber hat es eine symbolische Bedeutung.
Bereits von Ktesias wurde um 400 v. Chr. ein weißes, eselsähnliches Pferd beschrieben, dessen Horn heilkräftige Wirkung besitze und das nur mit Hilfe einer Jungfrau zu fangen sei. Es findet sich auch in der griechischen Urfassung des Physiologus aus dem 2. Jhd. v.Chr., erhielt von dort Eingang in mittelalterliche Bestiarien und drang schließlich auch in christliche Symbolvorstellungen und -darstellungen ein. Daß sich das Tier in den Schoß einer Jungfrau legt, galt als Symbol der unbefleckten Empfängnis, bei der das Einhorn, also Christus, durch den Erzengel Gabriel in Mariä Schoß getrieben wird,38 das eine, heilkräftige Horn versinnbildlichte die Einheit Gottes. Später wird das Einhorn jedoch auch zum Symbol des Mannes, der ,,seiner Natur gemäß" dem Liebreiz oder dem Duft der Dame nicht widerstehen kann, und, wie das Einhorn, an die Dame gefesselt und, von ihr verraten, schließlich in ihrem Schoß von Jägern getötet wird. Betrachtet man diese Stelle im Blick auf die folgende Überwindung Alexanders durch Candacis, so scheint hier tatsächlich bereits die spätere Entwicklung angedeutet zu werden. Andererseits symbolisiert das Einhorn aber auch Hochmut und Überheblichkeit. So weist zum Beispiel Gregor der Große auf die Überwindung der allzu Stolzen durch Christus mit dem Bilde des gezähmten Einhorns hin."39 Handelt es sich also bei der Schilderung des Einhorn- Motivs doch eher um einen Hinweis auf Alexanders Überheblichkeit, die ihn demnächst in eine schwierige Lage bringen wird? Auch diese Deutung scheint möglich, jedoch war sie augenscheinlich nicht so verbreitet wie die des Einhorns als Sinnbild er «sanften Stärke» der Weiblichkeit.
Es läßt sich also annehmen, daß es sich bei der Candacis-Episode im Straßburger Alexander quasi um eine, wenn auch noch nicht ganz ausgereifte, frühe Form der ovidianisch geprägten hochhöfischen Minnesklavenmotivik handelt. Sie wurde in späteren Bearbeitungen, in denen Alexander endgültig zum höfischen Ritter umstilisiert wurde, beispielsweise von Ulrich von Etzenbach, der die ,,Geschichte von Aristoteles und Phyllis auf Candacis"40 übertrug, vervollkommnet.
4 Schlußbetrachtung
Im Verlaufe meiner Arbeit ist deutlich geworden, daß der Bearbeiter des Straßburger Alexanders durchgängig versucht hat, den Helden des antiken Romans in einen höfischen Ritter umzustilisieren. Zwar klingt das Vanitas-Motiv in der Vorrede und auch im weiteren Verlauf des Romans immer wieder an, doch im Grunde wird Alexander hier nicht mehr als ein Negativbeispiel gotteslästerlicher Vanitas, sondern als ein mit allen höfischen Tugenden ausgestatteter idealer höfischer Herrscher dargestellt. In der Candacisepisode wird außerdem versucht, den Helden in eine höfische Umgebung zu transponieren, wie sie in der hochmittelalterlichen Epik verbreitet war. Noch ist diese Umgestaltung nicht ganz perfekt, noch zieht Alexander nicht um der Minne willen, sondern der ê re wegen in die Schlacht, noch bleibt seine Begegnung mit Candacis auf einer Art Zwischenstufe stehen: die Minne klingt an, spielt jedoch keine zentrale Rolle.
All dies läßt darauf schließen, daß der Straßburger Alexander am Beginn der Stauferzeit als eine der ersten höfischen Dichtungen entstanden ist, die vordergründig die Funktion hatte, das Publikum zu erfreuen, weniger aber didaktische Intentionen verfolgte, wodurch auch erklärbar wird daß der Bearbeiter des Straßburger Alexander den Wahrheitswert seiner Dichtung nicht mehr durch ständigen Bezug auf die Heilsgeschichte zu legitimieren sucht. ,,Alexander steht exemplarisch nicht mehr für die Konzeption der Geschichte als Heilsgeschichte, sondern in der Darstellung seiner Taten werden Lebensmuster eigenen Rechts für eine ritterlich-aristokratische Laienschicht entworfen."41
Daß der Verfasser in der Candacis-Episode tatsächlich versucht hat, das ovidianische Motiv der Minne als einer höheren, göttlichen Macht, die selbst den Klügsten und Stärksten überwindet, einzuarbeiten, ist in Anbetracht der Tatsache, daß die Entstehungszeit der Handschrift in einem Jahrhundert liegt, in dem sich ,,ein seltsames geistesgeschichtliches Phänomen, eine Art Achsendrehung von Vergil und Horaz zu Ovid" vollzog und dieser als ,, der Dichter für alle an literarischer Produktion irgendwie interessierten Menschen an die erste Stelle"42 trat, durchaus nicht unwahrscheinlich, jedoch schwer nachzuweisen, obwohl mir diese Annahme eine recht plausible Erklärung für die Einfügung der Minneszene zu geben scheint.
Interessant wäre in diesem Zusammenhang sicher auch die Frage gewesen, ob und wie das Minnemotiv in der Candacis-Episode in späteren Bearbeitungen verwendet wurde, doch würde die Erörterung dieses Themas den Rahmen dieser Arbeit sprengen.
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1 Vgl. FERDINAND URBANEK: Umfang und Intention von Lamprechts Alexanderlied, in: ZfdA 99 (1970), S. 96-120.
2 HANS SZKLENAR: Studien zum Bild des Orients in vorhöfischen deutschen Epen. Göttingen 1966, S. 105..
3 JÜRGEN BRUMMAK: Die Darstellung des Orients in den deutschen Alexandergeschichten des Mittelalters. Berlin 1966, S. 130.
4 Vgl. ebd. S. 127.
5 HILKERT WEDDIGE: Einführung in die germanistische Mediävistik. München 1987, S.168.
6 JOACHIM BUMKE: Höfische Kultur - Literatur und Gesellschaft im hohen Mittelalter. München4 1987, S. 153.
7 HELMUT DE BOOR: Die höfische Literatur; Vorbereitung, Blüte und Ausklang 1170- 1250, in: Ders.: Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zur Gegenwart. Band 2, München10 1979, S. 23.
8 Vgl. TRUDE EHLERT: Alexander und die Frauen in spätantiken und mittelalterlichen Alexander-Erzählungen, in: Willi Erzgräber (Hrsg.):Kontinuität und Transformation der Antike im Mittelalter. Veröffentlichung der Kongreßakten zum Freiburger Symposion des Mediävistenverbandes. Sigmaringen 1989, S. 82 -88.
9 CLAUDIA BRINKER-VON DER HEYDE: Geliebte Mutter - mütterliche Geliebte. Rolleninszenierung in höfischen Romanen. Bonn 1996, S. 301.
10 Vgl. W. WILMANNS: Alexander und Candace, in: ZfdA 45 (1901), S. 229-244.
11 EHLERT, ebd. S. 85.
12 WILMANNS, ebd. S. 240.
13 WILMANNS: ebd. S. 236.
14 BARBARA HAUPT: Alexanders Orientfahrt. Das Fremde als Spielraum für ein höfisches Kulturmuster. In: Eijiro Iwasaki (Hrsg.): Begegnungen mit dem »Fremden«. Grenzen, Traditionen, Vergleiche. Akten des VIII. Internationalen Germanistenkongresses. Tokyo 1990, Bd. 7, München 1991, S. 285 - 295.
15 Ebd. S. 290.
16 Ebd. S. 288.
17 Ebd. S. 290.
18 Ebd. S. 292.
19 KURT RUH: Höfische Epik des deutschen Mittelalters. Bd. 1. Berlin 1967, S. 44.
20 zum höfischen Tugendsystem vgl. JOACHIM BUMKE: Höfische Kultur, Bd. 2, München 1986, S. 416-30.
21 ELISABETH GRAMMEL: Studien über den Wandel des Alexanderbildes in der deutschen Dichtung des 12. und 13. Jahrhunderts. Frankfurt 1931, S. 49.
22 TRUDE EHLERT: Der Alexanderroman. In: Horst Brunner (Hrsg.): Mittelhochdeutsche Romane und Heldenepen. Stuttgart 1993, S. 32.
23 Ebd. S. 46.
24 FRIEDRICH MAURER: Der Topos von den Minnesklaven, in: Dvjs 27 (1953), S. 182- 206.
25 Ebd. S. 185.
26 Ebd. S. 192.
27 RÜDIGER SCHNELL: Frauensklave und Minnesklave, in: Ders.: Causa amores. Liebeskonzeption und Liebesdarstellung in der mittelalterlichen Literatur. Bern 1985. S. 482.
28 Ebd. S. 483.
29 Ebd. S. 485.
30 Ebd. S. 491.
31 HELMUT DE BOOR: H ö vescheit -Haltung und Stil höfischer Existenz, in:Günter Eifler (Hrsg.): Ritterliches Tugendsystem. Darmstadt 1970, S. 386.
32 VERGIL: Bucolica (Hirtengedichte), Lateinisch und in deutscher Übersetzung von Rudolf Alexander Schröder. Frankfurt a. M. 1957,Eccloge 10, Vers 69.
33 WINFRIED OFFERMANNS, Die Wirkung Ovids auf die Sprache der lateinischen Liebesdichtung des 11. und 12. Jahrhunderts, in: Carl Langosch (Hrsg.): Beiträge zum Mittellateinischen Jahrbuch. 4. Bd. Wuppertal 1970. S. 13.
34 KARL STACKMANN: Ovid im deutschen Mittelalter, in: Arcadia Bd. 1 (1960), S. 235.
35 WINFRIED OFFERMANNS, S. 9.
36 Ebd. S. 10 + 11.
37 JÜRGEN W. EINHORN: Spiritalis Unicornis. Das Einhorn als Bedeutungsträger in Literatur und Kunst des Mittelalters. München 1976.
38 Vgl. GERD HEINZ MOHR: Lexikon der Symbole. Bilder und Zeichen der christlichen Kunst. Düsseldorf 1971.
39 HANS SCHÖPF: Fabeltiere. Wiesbaden 1988.
40 BRUMMAK, S.134.
41 EHLERT, Alexanderroman, S. 32.
42 FRIEDRICH WALTER LENZ: Einführende Bemerkungen zu den mittelalterlichen Pseudo-Ovidiana,in: Michael von Albrecht/Ernst Zinn (Hrsg.): Ovid. Darmstadt 1968. S. 547.
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