Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung und Absicht der Arbeit
2. Diagnose und Epidemiologie
3. Behandlung
3.1 Therapeutische Konzepte
3.2 Verhaltenstherapeutisch orientierte Psychotherapie
3.3 Psychopharmaka
4. Psychodynamik
5. Therapieresistenz
5.1 Das Arbeitsbündnis - eine Illusion?
5.2 Übertragung und Gegenübertragung
5.3 Widerstand
5.4 Zusammenfassende Lösungsansätze
6. Diskussion
7. Literatur
8. Anhang
1. Einleitung und Absicht der Arbeit
Die Anorexia Nervosa ist eine psychische Störung der Neuzeit, die bis in die 60er Jahre des 20. Jahrhunderts lediglich als monomorphes Phänomen Beachtung in medizinischer oder therapeutischer Diskussion fand. Erst danach begann die Erforschung der »Magersucht« mit grundlegenden Überlegungen zur Therapie. In der Verhaltenstherapie wurde nach den ersten Katamnesestudien um 1978 festgestellt, dass die erfolgsversprechenden Behandlungen nicht nachhaltig wirkten. Diese Problematik hat sich trotz ausgereifter spezifischer Therapieansätze verschiedenster Schulen bis heute nicht vollständig aufgelöst (Senf, Broda, & Altmeyer, 2007). Entgegen der veralteten Behauptung Anorexia Nervosa sei nicht Behandelbar, liegen inzwischen Ergebnisse zur psychotherapeutischen Wirksamkeit vor (Wittchen & Hoyer, 2011). Diese Arbeit soll die Probleme, die dennoch in der psychotherapeutischen Behandlung entstehen aufgreifen und Lösungsansätze liefern. Es ist unvermeidbar und auch sinnvoll, dass hierbei Grenzen zwischen den therapeutischen Schulen verschwimmen. Auch wenn die Problematik der Therapieresistenz in unterschiedlichen Therapiekonzepten unterschiedlich ausfällt, so besteht ein Grundkonflikt zwischen der Pathologie und einer psychotherapeutischen Intervention.
2. Diagnose und Epidemiologie
Die Kriterien der Diagnose der Anorexia Nervosa in ICD-10 und DSM-V sind nahezu identisch. Leitkriterium der Störung ist ein bestehendes Untergewicht der Patient*innen und eine Weigerung ein normales Gewicht zu erreichen bzw. zu halten. Für die einheitliche Ermittlung und Vergleichbarkeit des Körpergewichts hat sich der Body Mass Index etabliert.
Ab einem BMI von 17,51 besteht ein Normalgewicht. Des Weiteren ist die Wahrnehmung des eigenen Körpers gestört. Figur, Gewicht und Essverhalten steht für die Betroffenen im Mittelpunkt ihres Selbstkonzepts. Liegt ein deutliches Untergewicht vor, tritt bei Frauen eine endokrine Störung und daraus resultierende Amenorrhoe auf. Bei Männern tritt Libido- und Potenzverlust ein (Wittchen & Hoyer, 2011). Generell wird zwischen dem restriktiven und dem bulimischen Subtypus unterschieden. Beim restriktiven Typus wird die Gewichtsregulation bzw. Gewichtsreduktion durch Verringerung der Nahrungsaufnahme erreicht. Selbst induziertes Erbrechen oder Diuretika- sowie Laxanzienmissbrauch sind sehr selten. Dieses Verhalten wird wiederum beim bulimischen Typus genutzt um die Gewichtsreduktion zu erzielen, da hier regelmäßig Essanfälle auftreten (Schmauß, Messer, & Bauer, 2009). Die Störung tritt vorwiegend bei Mädchen in der Adoleszenz und im jungen Erwachsenenalter auf. Die Prävalenzraten schwanken kriteriumsabhängig zwischen 0,2 und 0,8 Prozent. Liegt eine Erkrankung innerhalb der Verwandtschaft ersten Grades vor, ist die Erkrankungsrate um das Achtfache erhöht (Strober, Lampert, Morrell, Burroughs, & Jacob, 1990).
3. Behandlung
3.1 Therapeutische Konzepte
Grundlegende Konzepte zur Behandlung sind schulenübergreifend konvergent. Der größte Erfolg in der Behandlung von Anorexia Nervosa wird vorwiegend mit einer Kombination verschiedenster therapeutischer Verfahren sowie Ernährungsmanagement erzielt: „Eine ausreichende Evidenzbasierung für die Präferenz eines bestimmten Verfahrens liegt gegenwärtig noch nicht vor.“ (Schmauß et al., 2009, S. 166). Da Allgemeinmediziner oder Beratungsstellen die häufigsten Anlaufstellen sind, sollten die Patient*innen hier zu einer Psychotherapie motiviert werden. Bei einem kritischen Körpergewicht sollte zu einer stationären Therapie geraten werden (ebd.). Neben den psychotherapeutischen Angeboten steht hier zunächst die Gewichtsrestoration im Vordergrund, welche bei durch normale und hochkallorische Kost unter Betreuung stattfindet (Legenbauer & Vocks, 2006). Bei einem lebensbedrohlichen körperlichen Zustand2 wird in der Regel auf Venös- oder Sondenernährung zurückgegriffen um das Gewicht zu stabilisieren. Dies wird jedoch, aufgrund der Komplikationen die auftreten können, nur vorrübergehend durchgeführt, bis eine normale Nahrungszufuhr wieder möglich ist. In weniger kritischen Fällen und unter Ausschluss von Komorbiditäten ist bei Kindern und Jugendlichen auch eine ambulante Psychotherapie sinnvoll. Das soziale Umfeld während der meist langen Therapiezeit kann dabei sehr fördernd sein, sofern die nötigen Ressourcen vorhanden sind. Wenngleich sich ein Großteil der Patient*innen den Konsequenzen ihres Untergewichts bewusst ist, ist die Ambivalenz zwischen dem Wunsch nach einer Genesung und den Ängsten vor einer Gewichtssteigerung sehr groß. Die Therapeut*innen haben hier die Aufgabe, den Genesungswunsch zu stärken. Die Ängste vor einer Gewichtszunahme bleiben in der Regel bestehen. Verbunden mit einer Steigerung des Körpergewichts ist auch die Steigerung emotionaler Erlebnisfähigkeit. Die Ängste vor einer veränderten Körperwahrnehmung, einem unkontrollierten Drang zum Essen, vor Konflikten und Alltagsproblemen werden dabei verschärft und können zu Krisen bis hin zur Suizidalität führen. Unabhängig vom Gewicht ist bei Anorexia Nervosa ein geringes Selbstwertgefühl charakteristisch, das im therapeutischen Prozess gesteigert werden muss (Schmauß et al., 2009). Um den Focus vom Körper abzulenken kann ein Selbstsicherheitstraining die Stärkung der sozialen Kompetenzen in den Vordergrund rücken und neue Möglichkeiten eröffnen, dem eigenen Selbstwert und Autonomiestreben zu begegnen. Grundlegend hat sich in spezialisierten Einrichtungen für Essstörungen auch die Verfügbarmachung von natürlichen Hunger- und Sättigungsgefühlen unter Anwendung von Essensbetreuung und Diätberatung etabliert. Die Askese, die im Essverhalten zum Ausdruck kommt, kann in ergotherapeutischen Interventionen thematisiert und bearbeitet werden. Des Weiteren gibt es oft das Angebot von Gesprächsgruppen an denen Bullemie- und Anorexiepa- tient*innen gleichermaßen teilnehmen. Hier werden neben der gruppendynamik relevante Themenkomplexe wie Nähe und Distanz, Bedürfnis- und Leistungsorientierung, Aggressivität und Ablösung von den Eltern thematisiert. Ein weiteres relevantes Ziel der Therapie ist die Verbesserung des negativen Körperbildes. Liegt eine ausgeprägte Störung des Körperschemas vor, bieten sich Konfrontationstechniken durch Spiegel oder Videoaufnahmen an (Senf et al., 2007). Ist ein Normalgewicht per stationärer Behandlung erreicht worden sollte eine weitere ambulante Behandlung angeschlossen werden, da die Patient*innen nun mit wesentlich mehr emotionalen Ansprüchen in ihrer Umwelt konfrontiert werden. Ist auch die eine weiterführende ambulante Behandlung erfolgreich abgeschlossen, bieten sich niederfrequente Angebote beim Hausarzt oder bei Beratungsstellen zur Überwachung des weiteren Verlaufs und zur Rückfallprophylaxe an (Schmauß et al., 2009).
3.2 Psychopharmaka
Ergebnisse Psychopharmakologischer Studien mit unterschiedlichen Präparaten zeigen, dass eine pharmakologische Behandlung nur begrenzten Nutzen hat (Wittchen & Hoyer, 2011). Die schlechte körperliche Verfassung der Patient*innen setzt aufgrund der Nebenwirkungen eine genaue Beobachtung und gezielte Dosierung voraus. SSRI sind bei einer depressiven Komorbidität hilfreich. Neuroleptika können die Einschränkungen der Kognitionen und ausgeprägte Ängste vor einer Gewichtszunahme reduzieren. Hierzu werden vor allem Risperi- don, Quetiapin, sowie Olanzapin empfohlen. Bei einem Fehlschlagen der Psychotherapie ist die Psychopharmakotherapie keine Option, da eine ausschließliche Behandlung keine ausreichende Wirkung erzielt (Schmauß et al., 2009).
3.3 Verhaltenstherapeutisch orientierte Psychotherapie
Da die kognitive Verhaltenstherapie das in Deutschland am häufigsten angewendete psychotherapeutische Verfahren ist und bei Anorexia Nervosa in stationärer Behandlung auch zusätzlich zu psychodynamischen Verfahren genutzt wird, soll diese hier nicht unerwähnt bleiben. Das kognitiv-verhaltenstherapeutische Störungsmodell skizziert Regelkreise, die zur Entstehung und Aufrechterhaltung von Essstörungen beitragen. Hierbei wird auch die Interaktion von bulimischem und anorektischem Verhalten aufgezeigt. Die wichtigsten Risikofaktoren sind genetische Dispositionen, physische Ablehnung oder sexueller Missbrauch sowie sozio- kulturelle und psychobiologische Aspekte3. Diese tragen zu einem niedrigen Selbstwertgefühl bei und bedingen die Nahrungsrestriktion, durch die eine Steigerung der Selbstkontrolle und Selbstwirksamkeit erreicht wird. Das erfolgreiche Erleben führt in einen Regelkreis der Selbstwertregulierung durch Nahrungsrestriktion. Die entstandene Störung sorgt folglich für eine erneute Verringerung des Selbstwertgefühls, indem körperliche, psychische und soziale Komplikationen entstehen (Wittchen & Hoyer, 2011).
Die Behandlung der Anorexia Nervosa erfolgt mit Hilfe von kognitiver Verhaltenstherapie und wird häufig mit einer stationären Behandlung verknüpft. Dabei wird versucht, die Individualität des Patienten soweit es geht aufrecht zu erhalten um das Rückfallpotential zu senken. Außerdem werden Strategien für die Bewältigung emotionaler Anforderungen entwi- ckelt. Darunter fällt die Erhöhung von Sozialkompetenz und Kommunikationsfähigkeit sowie die der Akzeptanz des eigenen Körpers. Es wird ein „Two-Track-Approach“ (Legenbauer & Vocks, 2006, S. 36), (zweigleisiges Vorgehen) angewendet. Zum einen die kurzfristige Gewichtssteigerung und die medizinische Versorgung bei Komplikationen, die durch das Untergewicht verursacht werden können, sowie eine Normalisierung des Essverhaltens und Kontraktmanagement. Im ambulanten Setting ist die Vorgehensweise identisch, wobei jedoch die Gewichtskontrolle wesentlich schwerer fällt. Für komplexere psychotherapeutische Interventionen muss zunächst auf die kognitive Beeinträchtigung, die sich besonders in Reflexionsprozessen zeigt, Rücksicht genommen werden. Über eine „Bedingungs- und Verhaltensanalyse“ (Senf et al., 2007, S. 512) kann das weitere individuelle Therapievorgehen geplant werden (ebd.). Zum anderen werden langfristige Strategien angewandt, die die Veränderung von psychologischen und psychosozialen Bedingung zum Ziel haben (Legenbauer & Vocks, 2006). In der kognitiven Theorie geht man davon aus, das sich im Laufe des Lebens Verhaltensmuster, kognitive und emotionale Reaktionen für die Interpretation und Verarbeitung von Situationen bilden. Das multimodale Konzept der kognitiven Verhaltenstherapie soll hier kognitive Techniken für die Identifikation und Modifikation dysfunktionaler Denkmuster bereitstellen (Cras- ke & Brock, 2012). Die kognitiv- verhaltenstherapeutischen Maßnahmen beziehen sich oft nur auf das Individuum. Bei Kindern und Jugendlichen wird der Therapieerfolg maßgeblich erhöht, wenn unterstützende Maßnahmen für die Familien getroffen werden. Neben familientherapeutischen Möglichkeiten eignen sich auch Beratungsgespräche und gemeinsame Sitzungen. Dabei wird unter Anderem versucht, die Eltern der Patient*innen in den Prozess der Gewichtsrestoration einzubinden und mit gemeinsamen Mahlzeiten die Kontrolle über die Nahrungsaufnahme zu gewährleisten. In weiteren Schritten wird dann die Kontrolle an das Kind zurückgegeben und versucht, eine Familiendynamik zu entwickeln, in der die Essstörung nicht mehr im Mittelpunkt steht (Lock & Le Grange, 2012).
4. Psychodynamik
Der Entstehung eines anorektischen Verhaltens können Trennungssituation oder einschneidenden Lebensereignisse zugrunde liegen. Der Konflikt von Abhängigkeit und Separation (Mentzos, 2009, S. 31) zu den Eltern ist hier zentral. Dieser Konflikt macht das Essverhalten zum Übertragungsobjekt und kann als Resultat eines Ablösungsprozesses verstanden werden.
Daher tritt die Störung auch vorwiegend in der Adoleszenz auf. Soziokulturelle Faktoren dürfen jedoch keinesfalls außer Acht gelassen werden. „Die Magersucht ist eine »Wohlstands«- Erkrankung innerhalb einer deutlich leistungs-, weniger beziehungsorientierten Umgebung mit stark artikulierten Ansprüchen an Ästhetisierug des Lebens [...]“, (Seidler, 1993, S. 88). Das Schlankheitsideal unserer westlichen Kultur steht für soziale und sexuelle Unabhängigkeit und ist im pubertären Ablösungsprozess ein zentraler Punkt (Dolan, 1991). Fahrig und Horn (Seidler, 1993) beschreiben drei unterschiedliche Strukturformen von magersüchtigen Patientinnen4. Schizoid strukturierte sind besonders in der Körperwahrnehmung gestört. Zwanghaft strukturierte Patient*innen nutzen die Kontrolle des Körpergewichts zur Triebabwehr. Bei der dritten Gruppe handelt es sich vordergründig um narzisstische Stukturanteile und damit eine durch Ästhetisierungsstreben charakterisierte Besetzung des eigenen Körpers. Diese Strukturformen stellen lediglich Ausprägungen der individuellen Symptomatik dar. Anna Freud (1980) beschreibt in diesem Zusammenhang die veränderte Triebstärke, die in der Pubertät zusammen mit den genitalen Regungen auftritt, und so neue Abwehrmechanismen erfordert. Dabei geht es nicht um die Abwehr eines spezifischen Triebwunsches, sondern um die Quantität der aufkommenden Triebe.
Die zentralsten psychodynamischen Interpretationsansätze um die Pathologie zu fassen sind die triebpsychologischen Betrachtungen von Bruch und die Interpretation über das kernbergsche Modell der Objektbeziehungen von Palazzoli (Vgl. Gast, 1985, Seidler, 1993). Es gibt einige Weitere Autoren wie beispielsweise Schmidt-Bauer, der eine Regression auf die phallische Position vorschlägt (ebd.). Außerdem mag es sinnvoll sein, Konzepte anderer Autoren in die bestehenden und fundierten Ansätze mit einzubeziehen. Dies liefert Möglichkeiten, die individuelle Psychodynamik eines jeden Falls zu betrachten.
[...]
1 Body mass Index: (BMI = kg/m2)
2 Ein lebensbedrohlicher Zustand liegt bei einem Body Mass Index von weniger als 13kg/m2 vor.
3 Eine differenzierte Betrachtung findet sich in (Jacobi, Hayward, de Zwaan, Kraemer, & Agras, 2004).
4 Da in den psychodynamischen Konzepten von weiblichen Patienten ausgegangen wird, verzichte ich in diesem Abschnitt auf geschlechtsneutrale Ausdrucksweisen.