Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1 Einführung in dasModell der Schlüsselsituation
2 Titel der Situation
3 Situationsmerkmale
4 Situationsbeschreibung mit Kontext und Ausgangslage
4.1 Situationsbeschreibung mit Reflection in Action in Handlungssequenzen
4.2 Auswertung der Reflection in Action
5 Erklärungswissen
5.1 Gewaltkreislauf nach Walker
5.2 Machtals ein sozialesProblem nachStaub-Bernasconi
6 Interventionswissen - Gesprächsführung und das Krisengespräch nach Widulle
7 Erfahrungswissen
8 Organisations-und Kontextwissen
9 Fähigkeiten
10 Organisational, infrastrukturelle, zeitliche und materielle Voraussetzungen
11 Wertewissen
12 Qualitätsstandards
13 Reflexion anhand der Qualitätsstandards
14 Handlungsalternativen
15 Reflexion des Praxissemesters
15.1 Persönliche Motivation für das Praxisstudium im Frauenhaus
15.2 Reflexion des eigenen Lernzprozesses im Praxisstudium
15.3 Fazit zum Praxissemester
16 Literatur-und Quellenverzeichnis
1 Einführung in das Modell derSchlüsselsituation
Das Modell der Schlüsselsituation soll zur Professionalisierung der Sozialen Arbeit beitragen. Dies wird gefördert durch die reflexive Arbeit mit Schlüsselsituationen. Für Studierende trägt das Modell der Schlüsselsituation dazu bei, zu professionell Handelnden zu werden und für Fachkräfte kann es dazu beitragen, dass ihre professionellen Kompetenzen weiterentwickelt werden. Allgemein werden Schlüsselsituationen definiert als Situationen, die die Fachkräfte der Sozialen Arbeit als zentrale, wiederkehrende Situationen betrachten und die trotz ihrer Individualität gemeinsame, allgemeine Merkmale aufweisen (vgl. Tov/Kunz/Stämpfli 2016, S. 33ff.). Im ersten Teil dieser Hausarbeit wird eine Schlüsselsituation, also eine immer wiederkehrende Situation im Kontext Frauenhaus, bearbeitet. Der zweite Teil besteht aus einem Reflexionsbericht. Das Reflexionsmodell der Schlüsselsituation besteht aus acht Prozessschritten, auf die im Folgenden eingegangen wird.
2 Titel der Situation
Der Titel der Situation stellt den Bezug zur Praxis der Sozialen Arbeit her und bestimmt, zu welcher Schlüsselsituation die spezifische Situation zugeordnet werden kann. Die in der Hausarbeit zu bearbeitende Schlüsselsituation trägt den Titel: „Erstkontakte gestalten im Kontext Frauenhaus - Das Abholen einer Familie an einem neutralen Treffpunkt zum Einzug ins Frauenhaus.“
3 Situationsmerkmale
Der zu bearbeitenden Schlüsselsituation werden bestimmte Merkmale zugeschrieben, die sowohl spezifisch aufdie Schlüsselsituation als auch allgemein auf Situationen mit dem oben ausgewählten Titel zutreffen. Der Schlüsselsituation mit dem gewählten Titel werden folgende Merkmale zugewiesen:
- Ungewisse Erwartungen der Klientinnen (Mutter und Kind/er)
- Erstkontakt und gegenseitiges Kennenlernen
- Emotionale Befindlichkeit unklar
- Klientinnen brauchen Hilfestellung, um Sicherheit zu erlangen
- Klientinnen stehen vor einem Wendepunkt - (Einzug in eine Gemeinschaftsunterkunft)
- Der Situation ist eine Bedrohungssituation vorausgegangen mit Polizeibeteiligung
4 Situationsbeschreibung mit Kontext und Ausgangslage
Die Schlüsselsituation findet an einem neutralen Treffpunkt außerhalb des Frauenhauses statt, damit die Anonymität dessen gewährleistet werden kann. Das Frauenhaus bietet von gewaltbetroffenen Frauen und deren Kindern Schutz vor weiterer Gewaltausübung und leistet ressourcenorientierte und stabilisierende Beratung, sowie Begleitung und Unterstützung in unterschiedlichen Bereichen. In Folge eines polizeilichen Einsatzes ruft die Polizei im Frauenhaus an und erkundigt sich nach einem Platz für eine von gewaltbetroffene und bedrohte Frau mit ihrem Sohn, woraufhin das Frauenhaus der Frau und ihrem Kind einen Platz zusagt. Die Mitarbeiterin des Frauenhauses spricht kurz mit der Frau selber, um sich einen kurzen Eindruck zu verschaffen, in welchem physischen und psychischen Zustand die Frau sich befindet. Die Polizei gibt an, die Frau und ihren Sohn in den Zug zu setzen und dass diese sich nun auf den Weg zum Treffpunkt machen, den die Mitarbeiterin des Frauenhauses der Polizei genannt hat.
4.1 Situationsbeschreibung mit Reflection in Action in Handlungssequenzen
Erste Sequenz: Begrüßung
Die Professionelle der Sozialen Arbeit (PSA) fährt zu dem vorher vereinbarten neutralen Treffpunkt um eine neue zukünftige Bewohnerin/Klientin (K.) mit ihrem Kind (A.) abzuholen. Die PSA ist gespannt, wer und was sie am Treffpunkt erwartet. Am Treffpunkt angekommen erwartet die PSA die K. mit ihrem siebenjährigen Sohn A. Zunächst stellt sich die PSA der K. und ihrem Sohn A. vor, indem sie ihren Namen benennt und sagt, dass sie Mitarbeiterin des Frauenhauses ist. Sie fragt die K. ob sie miteinander telefoniert hätten. Dies bejaht K.
Reflection in Action:
Emotionale Situation Klientin (K):
- Ist nervös und angespannt
- Ist aufgelöst und traurig
- Unsicher
Kognitive Situation Klientin (K):
- Fragt sich was sie erwartet
Emotionale Situation Sohn (A):
- Unsicher
- Noch misstrauisch
Kognitive Situation Sohn (A):
- Fragt sich, wer die Person ist
Emotionale Situation PSA:
- Merkt die Anspannung von K.
- Möchte die K. ablenken
Kognitive Situation PSA:
- Begegnet K. sehr freundlich und versucht ihr damit Angst zu nehmen
Zweite Sequenz: Gesprächseinleitung
Die PSA fragt K. ob sie den Treffpunkt gut gefunden hat und wie ihre Zugfahrt bis hierher war, um die Situation etwas aufzulockern. Außerdem sagt die PSA, dass sie sehr froh ist, dass die K. es bis hierhin geschafft hat und den Mut hatte, diese Entscheidung zu treffen. K. berichtet der PSA, dass sie fertig mit ihren Nerven sei und sie schon seit sehr langer Zeit, 9 Jahre lang, von ihrem Mann Gewalt erfährt. Sie hat schon oft darüber nachgedacht sich zu trennen, hat aber bisher keinen richtigen Weg dafür finden können. Auch ihre finanziellen Mittel wurden von ihrem Mann einbehalten und er hat sie stark kontrolliert. An diesem Tag jedoch, sei ihr Mann zum ersten Mal heftig auf ihren Sohn A. losgegangen und hat ihn dabei schwer misshandelt. Sie sagt, dass sie vermutet, dass ihre Nachbarn daraufhin die Polizei gerufen haben, da ihr Mann sehr laut gegenüber ihr und ihrem Sohn geworden ist. Sie berichtet, dass sie als die Polizei da war, alle Sachen, die sie greifen konnte eingepackt hat und mit dieser losgefahren ist. Die Polizei hat der K. angeboten, ihrem Mann ein Näherungs- und Kontaktverbot auszusprechen und somit aus der gemeinsamen Wohnung wegzuweisen damit dieser sich ihr dann erstmal nicht nähern darf. Dies wollte die K. nicht, da sie und ihr Sohn große Angst vor ihrem Mann haben und sich in der gemeinsamen Wohnung nicht mehr sicher fühlen. Daher hat sie sich gemeinsam mit der Polizei dafür entschieden, in ein Frauenhaus zu gehen. Die K. ist im Redefluss und möchte weiterhin über ihre Misshandlungen mit der PSA sprechen. Die PSA versucht die K. dabei zu stoppen, um ihr zu sagen, dass die PSA später mit der K. ein Erstgespräch führen wird, indem sie alles loswerden kann. Zudem erläutert die PSA ihr, dass sie jetzt für die K. die feste Ansprechpartnerin darstellt und sie mit allem zu ihr kommen kann. Die PSA möchte ungerne vor dem Kind A. über die Misshandlungen und den Weg bis hierher reden, damit dieser nicht überlastet wird und keine negative Atmosphäre aufkommt. Für die K. ist es schwer sich darauf einzulassen, da sie sich gerne sofort vieles von der Seele reden würde.
Reflection in Action:
Emotionale Situation Klientin (K.):
- Aufgebracht
- Belastet
- Ängstlich
Kognitive Situation Klientin (K):
- Versteht nicht, wieso die PSA sie unterbricht
- Möchte weiter über das Thema sprechen
- Sieht noch keine Perspektive für sich und ihren Sohn
Emotionale Situation Sohn (A.):
- Unsicher
- Unruhig
- Orientierungslos
Kognitive Situation Sohn (A.):
- Fragt sich, was nun passiert
- Möchte nicht, dass es der K. schlecht geht
Emotionale Situation PSA:
- Hört der K. aufmerksam zu
- Wirkt empathisch auf die K. ein
Kognitive Situation PSA:
- Möchte nicht, dass der Sohn alles mithört und eine negative Stimmung erfährt und unterbricht dafür die K.
- Kann die Situation von K. besser einschätzen
- Möchte die Klientin stabilisieren und die Angst nehmen
Dritte Sequenz: Stabilisierung
Die PSA versucht die K. etwas abzulenken und fragt die K. ob sie etwas zu essen und zu trinken für den heutigen Tag einpacken konnte. Dies verneint K. Die PSA bietet der K. an, auf einem Weg zu einem Lebensmittelgeschäft zu fahren, um ein paar wichtige Dinge für den heutigen Tag zu besorgen. Gleichzeitig hat sie die Möglichkeit der K. ein wenig die Umgebung des Frauenhauses zu zeigen. Dieses Angebot nimmt die K. gerne an. Auch erzählt die PSA der K. dass die anderen Bewohnerinnen im Frauenhaus sehr freundlich sind und sie sicher dort aufgehoben sind. Der Sohn A. fragt die K. ob sie wegen ihm vom Papa weggegangen sind. Die K. verneint dies gemeinsam mit der PSA und sagt, dass er sich keine Sorgen machen braucht. Dann fragt der Sohn A. die PSA, wo sie denn nun hinfahren würden. Daraufhin erläutert die PSA dem Sohn A., dass sie nun gemeinsam in ein Haus fahren werden, wo er die nächste Zeit mit seiner Mama leben wird. Außerdem erklärt sie, dass in diesem Haus noch ganz viele andere Frauen mit ihren Kindern leben und es dort einen ganz großen Spielbereich mit vielen Spielen gibt.
Reflection in Action:
Emotionale Situation Klientin (K.):
- Ein wenig entspannter
- Dankbar
Kognitive Situation Klientin (K.):
- Fragt sich, wie es weitergehen soll und was sie im Frauenhaus erwartet
Emotionale Situation Sohn (A.):
- Ängstlich
- Gespannt
- Fühltsichschuldig
- Erleichtert, dass es der K. besser geht
Kognitive Situation Sohn (A.):
- Fragt sich, ob die Situation wegen ihm so ist
Emotionale Situation PSA:
- Froh, den ersten Schritt gemeistert zu haben und froh darüber, dass sich die K. auf ihrAngebot einlässt
Kognitive Situation PSA:
- Möchte K. und A. unterstützen
- Möchte K. und A. einen angenehmen Einstieg in das Frauenhaus ermöglichen Vierte Sequenz: Abschluss
Die PSA bittet die K. ihre Ortungsdienste am Smartphone auszuschalten und erläutert ihr, dass dies sowohl zum Schutz von ihr und ihrem Sohn, als auch zum Schutz der anderen Bewohnerinnen unabdingbar ist. Die PSA erklärt K., dass das Frauenhaus nicht weit vom Treffpunkt weg sei. Die PSA fährt mit K. und ihrem Sohn A. los zum Frauenhaus.
Reflection in Action:
Emotionale Situation Klientin (K.):
- Etwas erleichtert aber immer noch angespannt, weil sie nicht weiß was sie erwartet und es nun losgeht
Kognitive Situation Klientin (K.):
- Versteht und akzeptiert, dass sie ihre Ortungsdienste ausschalten soll
- Merkt, dass es im Frauenhaus bestimmte Schutzvorschriften gibt
Emotionale Situation Sohn (A.):
- Neugierig
- Aufgeregt
- Gespannt was ihn erwartet
Kognitive Situation Sohn (A.):
-Fragt sich wie es im Frauenhaus ist
Emotionale Situation PSA:
- Hat das Gefühl, dass die Klientin emotional hoch belastet ist
- Ist froh, dass die Klientin es bis hier geschafft hat
- Ist auf die Zusammenarbeit gespannt
Kognitive Situation PSA:
- Möchte eine gute Zusammenarbeit gestalten
- Möchte die Klientin besser kennenlernen, um herauszufinden, wie man am besten auf sie einwirkt ohne sie emotional zu sehrzu fordern
- Möchte eine erste Gefährdungsanalyse durchführen
4.2 Auswertung der Reflection in Action
Durch die Reflection in Action in den oben beschriebenen Handlungssequenzen wird deutlich, in was für einer Lebenslage sich die Klientin mit ihrem Sohn gerade befindet. Durch die hohe Emotionalität und Instabilität der Klientin benötigt es in dieser Situation professionelle Hilfe und Unterstützung, die von verschiedenen Wissensressourcen geprägt ist. Unbewusste Prozesse, die während des Handelns in der Situation stattfinden, werden durch die Reflection in Action bewusst und ein Perspektivwechsel findet statt. Durch das Ausarbeiten der kognitiven und emotionalen Situation gelingt es einem, sich in die Klientin auf verschiedenen Ebenen zu versetzen und somit bestimmte Handlungen und Gedankengänge nachzuvollziehen. Außerdem kann dadurch ein Reflektieren des eigenen professionellen Handelns in dieser Situation stattfinden.
5 Erklärungswissen
Das Erklärungswissen wird als Wissensressource genutzt, um soziale Probleme, Verhaltensweisen und bestimmte Prozesse zu erklären und nachzuvollziehen (vgl.Tov/ Kunz/Stämpfli 2016, S. 107).
5.1 Gewaltkreislauf nach Walker
Die amerikanische Psychologin Lenore E. Walker, welche ein Institut für häusliche Gewalt gründete, publizierte Ende der siebziger Jahre den „Cycle of violence“, genannt Kreislauf der Gewalt oder auch die Spirale der Gewalt. Im Folgenden wird die Bezeichnung „Kreislauf der Gewalt“ verwendet. Der Kreislauf der Gewalt teilt sich in drei Phasen auf. Die ers- te Phase nennt sich „tension biuld-up“ Phase und beschreibt die SpannungsaufbauPhase. In dieser Phase werden vom Täter häufig verbale Misshandlungen oder leichtere körperliche Gewalt gegenüber dem Opfer angewandt (vgl. Peichl 2011, S.8f). Die zweite Phase wird beschrieben als die „Explosion-Phase“ und wird auch die akute Gewaltphase genannt. Diese Phase stellt für das Opfer eine massive Gefahrensituation dar. Das Opfer erlebt in dieser Phase eine akute traumatische Situation (vgl. ebd.). Die letzte Phase des Kreislaufs der Gewalt nennt sich „Honeymoon Phase“, die Wiedergutmachungs- und Beruhigungsphase. Diese Phase ist gekennzeichnet durch ein Zeigen von Reue seitens des Täters und ein Versprechen, dass die Misshandlung nicht erneut eintreten wird (vgl. ebd.). Das Opfer erhält meist verstärkte Aufmerksamkeit vom Partner in dieser Zeit, was die Hoffnung auf eine intakte Beziehung beim Opfer bestehen lässt und somit ein Ausbruch aus dem Gewaltkreislauf oft nicht eintritt. Die folgende Abbildung veranschaulicht den Kreislauf der Gewalt.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abb. 1: Kreislauf der Gewalt (nach der US-amerikanischen Psychologin Walker L.: The battered women syndrome. New York: 1984.).
[...]