Andrej Tarkovskij und die Zensur


Hausarbeit, 2020

16 Seiten, Note: 1,7

Anonym


Leseprobe


1. Einleitung

„Das Filmwesen ist bei uns im Moment ausgesprochen im Niedergang begriffen. Da der Staat das Geld dazu hergibt, tritt er es zugleich mit Füßen, ertränkt es in einer trüben Jauche von künstlerischer Armseligkeit und Liebedienerei. Die Ordens- und Würdenträger, die unfähig sind, zwei zusammenhängende Worte auszusprechen, haben aus unserem Kino eine Ruinenlandschaft gemacht.“1 - Andrej Tarkovskij

Der sowjetische Drehbuchautor und Filmregisseur Andrej Arsen’evic Tarkovskij (1932-1986) gilt heute als einer der bedeutendsten Filmemacher seiner Zeit. Er litt an seinem Schicksal, in einer für ihn ungünstigen Zeit und an einem unpassenden Ort berufstätig gewesen zu sein. In der Sowjetunion war es damals für Regisseure sehr schwer, ihre künstlerischen Ideen und Arbeitspläne umzusetzen.

Zu Lebzeiten von Andrej Tarkovskij war die Filmindustrie in der Sowjetunion, wie jede andere Industrie auch, ein wichtiges Monopol in Staatsbesitz und unter strenger staatlicher Kontrolle.

Bereits Lenin hatte das Kino als „die wichtigste aller Künste“ betitelt und dessen Potential für die Erziehung und die politische Propaganda innerhalb der kaum alphabetisierten und ideologisch noch nicht bekehrten Massen‘ erkannt.2 Spätestens zu Beginn der dreißiger Jahre, nach dem Ersten Allunions-Kongress der sowjetischen Schriftsteller im Jahr 1934, wurde dann der Sozialistische Realismus zur einzig akzeptierten ,Methode‘ in der Kunst. Dies hatte einen simplen Stil mit einer klaren Botschaft zur Folge und ließ tatkräftige kommunistische Helden in Erscheinung treten.3

Viele Filminteressierte berichten, dass sie nach ihrer ersten Begegnung mit einem Werk von Tarkovskij von seinem eigenwilligen und komplexen Stil beeindruckt gewesen seien. Gleichzeitig habe es sie verwirrt, dass sie die Botschaft des Films nicht sofort klar erkennen konnten.

Diese Undurchsichtigkeit seiner ,Filmsprache‘ wirft die Frage auf, wie es möglich sein konnte, dass Tarkovskij seine Filme in der Sowjetunion veröffentlichen durfte, obwohl sie dem Ideal der sowjetischen Kunst nicht entsprachen.

Das Ziel der vorliegenden Hausarbeit ist es, eine Antwort auf diese Frage zu finden. Waren es seine guten Beziehungen innerhalb des sowjetischen Zensursystems? Waren es die Stimmen aus dem Ausland, die nach dem ersten Film Ivanovo detstvo (Iwans Kindheit) laut wurden und nach einem neuen Film von Tarkovskij verlangten? Lag es einzig an der Unberechenbarkeit des teilweise unübersichtlichen Systems in der UdSSR oder daran, dass Tarkovskijs Filme zwar nicht konform - jedoch auch nicht offen systemfeindlich waren?

Die Quellen- und Literaturlage zu Tarkovskij ist sehr breit gefächert. Sie reicht von zahlreichen Publikationen, mit Themen wie der Symbolik und der Ästhetik seiner Werke, über ein von ihm selbst veröffentlichtes Buch mit seinen Gedanken zu Kunst, Ästhetik und Poetik des Films bis hin zu seinen privaten Tagebüchern.

Mit dem Zensursystem des sowjetischen Filmwesens setzten sich bereits viele Historiker, wie Peter Kenez, Vida T. Johnson und Graham Petrie, auseinander.

Diese beiden Bereiche gilt es nun aufeinander zu beziehen, um Tarkovskijs Stellung innerhalb des Systems so gut verstehen zu können, dass die Frage dieser Arbeit ergründet werden kann.

Dafür wird nach einem Überblick über den filmhistorischen Kontext das Zensursystem und dessen Wechselwirkungen zu Zeiten Tarkovskijs genauer untersucht. Um den zeitlichen Rahmen weiter einzugrenzen, liegt dabei der Schwerpunkt vor allem auf der Entstehungs- und Vertriebsgeschichte des am längsten unter Verschluss gehaltenen Films Andrej Rublëv. Es soll herausgearbeitet werden, wer zu dieser Zeit welche Stellung besetzte, und in welcher Beziehung Tarkovskij zu diesen wichtigen Persönlichkeiten stand.

Außerdem soll dargestellt werden, welche Reaktionen seine gute Auslandsreputation im eigenen Land hervorrief, und wie sich sein Ruhm auf seine Arbeit in der Sowjetunion auswirkte. Zum Schluss werden die Wirkung und die verschiedenen Deutungsmöglichkeiten seiner Filme analysiert und mit dem Dogma des

Sozialistischen Realismus verglichen. Auch der Frage, inwiefern Tarkovskijs Filme der sowjetischen Ideologie widersprachen, wird nachgegangen.

2. Filmhistorischer Kontext

Die im vorherigen Kapitel bereits erwähnte Aussage Lenins zog sich gleich einer immer wiederkehrende Formel durch die gesamte sowjetische Filmgeschichte und wurde verwendet, um eine strenge politische und ideologische Kontrolle der Filmproduktion zu begründen.

Bereits im Jahr 1919 verstaatlichte die Kommunistische Partei die Filmindustrie, die sich zuvor in Privatbesitz befunden hatte. Drei Jahre später gründete eben jene Partei das Zentrale Staatliche Komitee für Kinematographie, Goskino. Dieses war dem Volkskommissariat für Erziehung unterstellt.4

Während die wenigen verbliebenen privaten Studios zu Beginn der zwanziger Jahre noch parallel zu den bereits verstaatlichten Studios existieren konnten, erlangte die Regierung nach der Einführung des ersten Fünfjahresplans im Jahr 1928 beinahe die gesamte Kontrolle über die Kinoindustrie.5

Stalin selbst zeigte großes Interesse an den sowjetischen Filmproduktionen. So stieg der Druck auf die Regisseure, nachdem der Sozialistische Realismus das neue Dogma der Kunst geworden war. Im Zuge dieser Entwicklung verhaftete die Staatsmacht mehrere Filmmanager, vereinzelt kam es sogar zu Exekutionen. Stalins Erklärung im Jahr 1951, dass nur noch ,Meisterwerke‘ produziert werden sollten, führte dazu, dass die Anzahl der neuen Filme immer weiter abnahm. Zur Befriedigung der Massen wurden auf den Kinoleinwänden die im Krieg eroberten „Trophäenfilme“ gezeigt.6

Bis auf eine kurze Periode der Liberalisierung während des „Tauwetters“ nach Stalins Tod - von den späten Fünfzigern bis in die späten sechziger Jahre - blieb das Kino, wie alle Bereiche der Kunst, bis 1988 unter der Kontrolle der Kommunistischen Partei und hatte den Sozialistischen Realismus als einzig erlaubte Form künstlerischen Ausdrucks.7

Tarkovskijs erster großer Film Ivanovo detstvo wurde 1962 veröffentlicht. Nach ihm kann jedes Werk Tarkovskijs als Versuch gedeutet werden, das Dogma der sowjetischen Kunst zu untergraben. Tarkovskij war hier kein Einzelfall. Bemerkenswert ist allerdings, dass er im Gegensatz zu manch anderen Kollegen8 seine Filme veröffentlichen durfte.

Viele Schriftsteller, die sich den Auflagen nicht beugen wollten, ereilte das Schicksal, ,für die Schublade‘ zu schreiben. Da für das Schreiben lediglich Feder und Papier benötigt werden, war es dem Staat jedoch unmöglich, diese Tendenzen vollkommen zu unterdrücken. Anders beim Film: um einen Film drehen zu können, werden große Geldmengen, Requisiten und Personal benötigt. All dies mussten nach der Prüfung des Drehbuchs genehmigt und zugewiesen werden.

Die Unterdrückung von ideologisch inakzeptablen oder gar systemkritischen Filmen scheint demnach einfach kontrollierbar gewesen zu sein. Die Tatsache, dass viele Filme zunächst genehmigt und produziert wurden, um später im Regal zu landen, weist auf eine wesentlich komplexere und manchmal auch unübersichtlichere Arbeitsweise in der Filmindustrie hin, als sich zunächst aus theoretischer Sicht vermuten ließe.9

2.1. Die offizielle Struktur der Filmindustrie zur Zeit Tarkovskijs

Während Tarkovskijs Schaffenszeit war die offizielle Struktur der Filmindustrie in der Sowjetunion folgendermaßen aufgebaut:

Die oberste Instanz bildete das Staatskomitee für Kinematographie beim Ministerrat, Goskino, das von einem Präsidenten und einer Regierungskommission geleitet wurde. Zu Zeiten Tarkovskijs hatten Aleksej Romanov (1963-1972) und Filipp Ermas (1972-1986) das Präsidentenamt inne. Die Regierungskommission setzte sich aus den Vorsitzenden der einzelnen Abteilungen zusammen, dem Herausgeber der offiziellen Kinozeitschrift Iskusstvo kino, dem Vorsitzenden der Behörde für die Drehbuchredaktion, einem Beauftragten des KGB und einer Anzahl der etabliertesten Regisseure, Schauspieler und Drehbuchautoren.

Die einzelnen Filmstudios waren Goskino untergeordnet. So auch Mosfil’m, das größte und mächtigste Sowjetstudio, in dem Tarkovskij alle seine in der Sowjetunion entstandenen Filme drehte.10 11 Der Direktor von Mosfil’m war zu Tarkovskijs Anfangszeit Vladimir Surin, später der ihm wohlgesonnene Nikolaj Sizov.11 Der Direktor wiederum stand den Abteilungsvorsitzenden sowie einem Künstlerischen Rat vor, der alle Filme beurteilen und genehmigen musste. Dieser setzte sich aus etwa 75 bis 100 Filmemachern, lokalen Parteivertretern und Arbeitern zusammen.

Die eigentliche Arbeit in den Studios wurde von den ,Kreativen Teams‘ geleitet.

Diese wurden Mitte der fünfziger Jahre eingeführt, um den Produktionsprozess zu verbessern. Bei Mosfil’m gab es sieben solcher Teams, denen jeweils ein bekannter Regisseur und ein Produktionsmanager vorstanden. Zusätzlich existierte eine Redaktionsabteilung, die den Film schon während der Produktion zu besichtigen hatte und die erste offizielle Begutachtung des fertigen Filmes durchführte. Diese Zensoren unterstützten ihre Regisseure normalerweise und machten häufig hilfreiche ,Vorschläge‘, um etwaigen politischen Konflikten vorzubeugen.

Des Weiteren hatte jedes Team seinen eigenen Redaktionsausschuss und Künstlerischen Rat, die beide aus professionellen Mitgliedern bestanden. Der unterstützende Redaktionsausschuss, der das Drehbuch zu lesen hatte, bestand aus etwa 20 Schriftstellern, Drehbuchautoren und Kritikern, von denen einige als Teilzeitbeschäftigte eingestellt waren.12

Es wird bei dieser unübersichtlichen Vielzahl an bürokratischen Instanzen deutlich, dass ein Regisseur in der Sowjetunion kaum kreative Freiheit hatte. Ein etablierter Regisseur wie Andrej Tarkovskij war allerdings in der glücklichen Lage, dass er seine gesamte Arbeitsgruppe selbst zusammenstellen konnte und seine Vorschläge meist vom künstlerischen Rat bewilligt wurden.13

Trotzdem zeigte die höhere Instanz Goskino ihre Unzufriedenheit mit Tarkovskijs Entwürfen, indem sie nach der Bewilligung der Drehbücher in umfangreichen Korrespondenzen mit dem Studio Budgetkürzungen und die Streichung von einigen großen Szenen durchsetzte. Auch in seinem Film Andrej Rublëv wurde beispielsweise die geplante einleitende Kulikovo-Feldschlacht aus dem Drehbuch gestrichen.14

Bei seinem dritten Film, Soljaris, klagte Tarkovskij, nachdem er bereits einige Kürzungen vorgenommen hatte, über weitere Änderungsvorschriften und verglich die Veröffentlichungsgeschichte mit dem Drama um Rublëv. Keine zwei Monate später schrieb er jedoch in sein Tagebuch:

„Romanow [kam] ins Studio, er hat Solaris ohne jede Änderung abgenommen.

Niemand glaubt uns das. [...] Wahrscheinlich hat ihm jemand einen großen Schrecken eingejagt. Ich habe gehört, daß Sisow den Film drei führenden Wissenschaftlern gezeigt haben soll. Sie sind zu große Autoritäten, als daß ihre Meinung ohne Auswirkungen bleiben konnte.“15

[...]


1 Tarkowskij, Andrej: Martyrolog. Tagebücher 1970 - 1986. Berlin: Limes 1989, S. 90.

2 Vgl. Roth-Ey, Kristin: Moscow prime time. how the Soviet Union built the media empire that lost the cultural Cold War, Ithaca, NY: Cornell University Press 2011, S. 25ff.

3 Vgl. Kenez, Peter: Cinema and Soviet Society, 1917 - 1953. Cambridge: University of Cambridge 1992, S. 157ff.

4 Vgl. Kenez, Peter: Cinema and Soviet Society. S.33ff.

5 Vql. Sprinq, Derek / Taylor, Richard (Hqq.) : Stalinism and Soviet Cinema. London [u.a.]: Routledge, 1993, S.154ff.

6 Vgl. Faraday, George: Revolt of the Filmmakers. The Struggle for Artistic Autonomy and the Fall of the Soviet Film Industry, University Park, PA, 2000, S.54

7 Vgl. Johnson, Vida / Petrie, Graham: The Films of Andrei Tarkovsky. A Visual Fugue. Bloomington, Indianapolis: Indiana University 1994, S.6f.

8 siehe z.B. Alexandr Askol’dov mit seinem Film Komissar (dt. Die Kommissarin) 1967. Sein Film wurde von der Zensurbehörde verboten. Askol’dov selbst wurde aus der KP verstoßen, musste Moskau verlassen und erhielt Berufsverbot.

9 Vgl. Le Fanu, Mark: The Cinema of Andrej Tarkovsky. London: British Film Institute 1987, S.2ff.

10 Vgl. Johnson, Vida T. / Petrie, Graham: The Films of Andrei Tarkovsky. S.8.

11 Vgl. Tarkowskij, Andrej: Martyrolog. S.335.

12 Vgl. Johnson, Vida T. / Petrie, Graham: The Films of Andrei Tarkovsky. S.8.

13 Vgl. ebd. S.9.

14 Vgl. Schlegel, Hans-Joachim: Der antiavantgardistische Avantgardist. In: Andrej Tarkovskij. Reihe Film 39. München/Wien: Hanser 1987, S.28f.

15 Tarkowskij, Andrej: Martyrolog. S.92.

Ende der Leseprobe aus 16 Seiten

Details

Titel
Andrej Tarkovskij und die Zensur
Hochschule
Albert-Ludwigs-Universität Freiburg
Note
1,7
Jahr
2020
Seiten
16
Katalognummer
V993705
ISBN (eBook)
9783346360137
ISBN (Buch)
9783346360144
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Andrej Tarkovskij, Andrei Tarkowski, Sowjetunion, Udssr Zensur Kino Regisseur Film
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Anonym, 2020, Andrej Tarkovskij und die Zensur, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/993705

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