Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Georg Büchners Woyzeck
2.1. Die geschlossene und offene Dramenform
2.2. Die offene Dramenform
2.2.1. Komposition und Handlung
2.2.2. Sprachstil und Dialogführung
2.2.3. Raum, Zeit und Personal
2.3. Kompensierung der offenen Dramenform
3. Fazit
4. Literaturverzeichnis
1. Einleitung
„Den Tonfall von ,Wozzek' [...] ist mir im Fleisch und Blut. [...] Das Theater ist bei Büchner, der ein Dramatiker war von Geburt, ein buntes erleuchtetes Loch, vor dem die Zuschauer mit weit aufgerissenen Augen sitzen Mit diesem Lob preist der Journalist Kurt Tucholsky 1913, etwa ein Jahrhundert nach Georg Büchners Lebenszeit, diesen.
Der hessische Schriftsteller und Naturwissenschaftler Georg Büchner, der im Jahr 1813 geboren wird, zählt trotz seines bescheidenen ffiuvre, da er bereits im Alter von 24 stirbt, zu den bedeutendsten Literaten des 19. Jahrhunderts. Büchners Kampf für die gesellschaftlich Benachteiligten und die politische Ausrichtung seiner Werke sind ausschlaggebend für dessen individuellen literarischen Stil und gilt somit als Bahnbrecher der literarischen Moderne. Als Autor des Vormärz eröffnet er dem sonst von der Politik ausgeschlossenen Leser die aktuelle Situation. Als wichtiger zeitgenössische Dramatiker ist Christian Dietrich Grabbe zu nennen, der das Geschichtsdrama präferiert. Seine Werke - von Pessimismus geprägt - kritisieren heftig das Wirklichkeitsverständnis seiner Zeit, wie beispielsweise in seinem wichtigsten Werk Napoleon oder die hundert Tage. Jedoch besteht zwischen Büchner und seinen Zeitgenossen nicht viel Kontakt. Lediglich der Schriftsteller Karl Gutzkow erkennt dessen Talent und setzt sich mit Engagement für die Veröffentlichung Büchners Werke ein.
Büchner spielt weiterhin eine herausragende Rolle für die Literatur, was sich an dem an Büchner erinnernden, bedeutendsten Literaturpreis im deutschen Sprachraum auszeichnet - dem Georg-Büchner-Preis.
Als erstes Kind des Arztes Karl Ernst Büchner und dessen Ehefrau Louise Caroline Büchner, lernt Georg Büchner an der Privat-Erziehungs- und Unterrichts-Anstalt und später am Pa- edagogium Darmstadium. Bereits mit 17 Jahren um 1830 hält er die bewegende Rede zur Verteidigung des Kato von Utica. Schon in diesen jungen Jahren beschäftigte er sich mit literarischen und philosophischen Werken, sodass in seinem Reifezeugnis dessen klarer und durchdringender Verstand hervorgehoben wird. Während seines Medizinstudiums in Straßburg ab 1931 engagiert Büchner sich zunehmend für die soziale Gleichheit des Volkes und hält vor der Studentenverbindung Eugenia einen Vortrag über die konservative politische Lage in Deutschland, dessen Verfassung am monarchischen Prinzip festhält. Büchners anschließendes Studium ab 1833 in Gießen missfällt ihm unter anderem aufgrund des mangelnden Engagements seiner Kommilitonen, sich dem deutschen politischen System zu widersetzen. Daher gründet er die Gesellschaft für Menschenrechte nach französischem Vorbild, die nach1 einem Umsturz der politischen Verhältnisse strebt. Aufgrund seiner politisch erregenden Schriften, wie der Hessische Landbote, in dem er die Landbevölkerung zur Revolution gegen die Unterdrückung der Höfe aufruft, gerät er ins Visier der Polizei, sodass er im Jahr 1835 in das liberalere Straßburg flieht. Um Geld für die Flucht zu erhalten, schreibt Büchner innerhalb von fünf Wochen das realitätsbezogene Werk Dantons Tod nieder, das die Konflikte revolutionärer Gruppen in Frankreich während der Schreckensherrschaft von 1794 thematisiert. Da er Ende Juli 1836 an der Philosophischen Fakultät der Universität Zürich zum Doktor der Philosophie und als Privatdozent ernannt wird, zieht er noch im selben Jahr dorthin. Bereits in Straßburg fängt Büchner mit den Entwürfen seines Dramas Woyzeck an, welche er später mit in die Schweiz nimmt, um es dort zu vollenden. Doch bleibt es aufgrund Büchners frühen Todes im Jahr 1837 lediglich ein Fragment, ist aber dennoch richtungweisend für viele soziale Dramen ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts.2
Angelehnt an den realen Fall des Leipzigers Johann Christian Woyzeck entsteht dieses Teilwerk. Johann Christian Woyzeck lernt im Soldatendienst eine Frau kennen mit welcher er ein Kind zeugt, kann diese jedoch aufgrund seiner Rückkehr in die Heimat nicht heiraten. In Leipzig arbeitslos geht er ein Verhältnis mit der Witwe Johanna Christiane Woost ein. Da sich diese mit weiteren Männern trifft, verfällt Woyzeck der Eifersucht und ersticht am Abend des 2. Juni 1821 die 46-jährige Witwe in ihrer eigenen Wohnung und wird kurz darauf verhaftet. Die Frage, ob Woyzeck aufgrund seines geistigen Zustandes schuldfähig sei, führt zu einer von Dr. J.C.A. Clarus vollzogenen gerichtsärztlichen Beobachtung. Dieser konkludiert, Woyzeck weise lediglich psychische Verwilderung, jedoch keine Geistesstörungen auf, woraufhin Woyzeck zum Tode verurteilt wird. Ein zweites Gutachten folgt, welches ein zweites Mal bestätigt, das Verbrechen sei ein Effekt der sexuellen Verdorbenheit. Aus diesem Grund wird Woyzeck am 27. August 1824 in Leipzig öffentlich hingerichtet.3
Büchners Drama Woyzeck basiert auf diesem wahren Fall. Der mittellose, ehemalige Soldat Franz Woyzeck will seiner Freundin Marie und dem gemeinsamen unehelichen Kind finanzielle Hilfe bieten. Um das zu ermöglichen führt er diverse untertänige Arbeiten aus. Als Bursche des Hauptmanns wird er psychisch ausgenommen. Ebenso ergeht es ihm im Dienst bei einem Doktor, der ihn als Versuchsobjekt seiner wissenschaftlichen Arbeiten verwendet. Als der ehemalige Soldat von Maries geheimer Affäre erfährt, gibt dieser komplett dem Wahnsinn nach und folgt den Stimmen in seinem Kopf, welche ihm Befehle geben Marie umzubringen.
Woyzeck ersticht sie und flieht. Das Dramenfragment endet mit dem Fortgang seines Sohnes und seines Freundes.4 Da Büchner sein Werk nicht vollenden kann, ist unklar in welcher Reihenfolge er die einzelnen Szenen anzusiedeln meint. Somit haben sich über die Jahre hinweg Forscher mit dieser Thematik auseinander gesetzt und verschiedene Verknüpfungen der Segmente entwickelt.
Die vorliegende Arbeit soll evaluieren, inwiefern Büchners Fragment Woyzeck Merkmale der offenen Dramenform aufweist. Dies geschieht, indem beginnend die geschlossene Form im Vergleich zur offenen Form im Drama Umrissen wird, deren Unterscheidung auf das gleichnamige Buch von Literaturwissenschaftler Volker Klotz zurückgeht. Anschließend bildet die Untersuchung der offenen Form im Drama Woyzeck den Schwerpunkt und wird unter den Aspekten der Handlung, der Sprache und dem Zeit-Raumaspekt näher beleuchtet. Jedoch zeigt Büchners Drama trotz seiner offenen Struktur diverse semantische Zusammenhänge zwischen den einzelnen Szenen auf, welche die offene Form kompensieren. Hierbei spielen Parallelhandlungen und die Bildlichkeit eine große Rolle. Es stellt sich trotz der NichtVollendung des Werkes heraus, dass Büchner sein Drama Woyzeck auf die offene Form hin anlegt, jedoch nicht komplett von der geschlossenen Dramenform abweicht und eine gewisse Gesamtstruktur erkennbar bleibt.
2. Georg Büchners Woyzeck
Georg Büchners Drama Woyzeck zeichnet sich durch deutliche Kennzeichen des offenen Dramas aus, weist aber auch Parallelen zum geschlossenen Drama auf.
2.1. Die geschlossene und offene Dramenform
Der Begriff der geschlossenen und offenen Dramenform beruht auf Volker Klotz gleichnamigem Werk Geschlossene und offene Form im Drama von I960, in welchem die Differenzierung beider Dramentypen ausführlich behandelt wird.
Beide sind Idealtypen. Das bedeutet, die dramentechnische Verwirklichung wird nicht komplett nach einem dieser Schemen umgesetzt, sondern nähert sich lediglich an eines der beiden an. Während die geschlossene Form auf Aristoteles zurückgeht, entsteht die Offene mit Shakespeare in England im 16. Jahrhundert und wirkt in der deutschen Literatur erstmals seit dem Sturm und Drang im 18. Jahrhundert.5
Die geschlossene Form setzt die Einheit von Ort, Zeit und Raum voraus und erhält eine durchgängige Stillage, indem Figuren, Handlung und Rede harmonisch festgelegt werden. Die Geschichte bildet sich aus der kausalen Verknüpfung von intentionaler Handlung und Gegenhandlung, in denen eine Auseinandersetzung stattfindet. Ihr Pendant ist der Idealtyp der offenen Form, welcher in Abgrenzung zur positiv beschreibbaren geschlossenen Form ex ne- gativo bestimmt wird. Daraus kann gefolgert werden, dass das offene Drama alle Dramentypen einschließt, die von der geschlossenen Form abweichen, was den Sturm und Drang betrifft, den Naturalismus, das Satirische, Epische und Absurde. Es gibt kein festes Modell, sondern wird durch die Abweichung der Merkmale des geschlossenen Dramas definiert.6 Das Unterscheiden beider Typen geschieht auf verschiedenen Analyseebenen. Theoretiker - besonders des neo-klassischen Dramas - fordern einerseits das strikte Beharren auf die aristotelische Form und sehen die stringente Handlung als notwendige Bedingung an, während andererseits die unbeugsame Art oft als unrealistisch angesehen wird. Somit ist keine bevorzugte Tendenz zu erkennen. Eher ist gewünscht und auch üblich, dass ein Drama, welches nicht dem typischen Ordnungssystem entspricht, dennoch aristotelische Merkmale übernimmt.7
2.2. Die offene Dramenform
Volker Klotz erachtet Büchners Woyzeck als Paradigma des offenen Dramas.8 Und auch David Richards Meinung nach ist kein Schriftsteller seit Shakespeare fähiger gewesen, die offene Form des Dramas mit so viel Geschick umzusetzen wie Büchner in Woyzeck9 Da Büchners Woyzeck lediglich ein Dramenfragment ist, gilt es aber als Sonderfall und sollte mit Vorsicht analysiert werden, sodass die Unvollkommenheit des Dramas und die offenen Form nicht als dasselbe betrachtet wird. Dennoch erkennt man aus Büchners früheren Werken, wie Dantons Tod, seinen Hang zum offenen Drama, sodass sicher ist, Woyzeck wäre kein stringentes Werk geworden, hätte Büchner es vollendet.
2.2.1. Komposition und Handlung
Die relative Selbständigkeit der Sequenzen im Drama ist ein entscheidender Faktor der offenen Form im Hinblick auf die Handlung. Da die Szene die entscheidende Gliederung im offenen Drama vorgibt, weicht der Akt komplett oder ihm kommt eine untergeordnete Bedeutung zu. Es entsteht ein Gefüge vieler Einheiten wechselhaften Umfangs.10
Da die Szenen nur punktuell durch Handlungsinterferenz Zusammenhängen, entsteht ein facettenreicher Geschehenszusammenhang, indem ein Problem, eine Figur oder eine Idee aus unterschiedlichen Perspektiven beleuchtet wird. Die diversen Einzel Sequenzen bilden keine dominante Haupthandlung, sondern sind ein Nebeneinander relativ autonomer und gleichberechtigter Einzelsequenzen.11 Die lineare Finalität wird ersetzt durch eine Strukturierung der Abschnitte, die sinngebende Korrespondenz- oder Kontrastbezüge anstreben. Dies zeigt sich durch den Wechsel von Kurzszenen und komplexen Szenen, freien Szenen und Interieurszenen, Monologszenen und Szenen, in denen die Masse dominiert.12
Nach Klotz steht der Protagonist als Monagonist isoliert im Zentrum der Gesellschaft, die aus allen Richtungen auf ihn eindrängt. Die Handlungsbewegung ist hier, anders als im geschlossenen Drama, keine stringente Entwicklung von Beginn zu einem bestimmten Ziel führend, sodass ein Akt den nächsten herbeiführt, sondern ein Zirkulieren.13
[...]
1 Tucholsky, Kurt: Büchner (1913). In: Goltschnigg, Dietmar (Hrsg.): Georg Büchner und die Moderne. Texte, Analysen, Kommentar. Berlin: Erich Schmitt-Verlag 2001. S. 245, 246.
2 Vgl. Beise, Amd: Einführung in das Werk Büchners. (= Einführung Germanistik). Darmstadt: WBG-Verlag 2010. S. 16-38.
3 Vgl. Neumeyer, Harald: Woyzeck. In: Bogards, Roland/ Neumeyer, Harald (Hrsg.): Büchner Handbuch. Leben. Werk. Wirkung. Stuttgart, Weimar: Metzler-Verlag2009. S. 100- 102.
4 Vgl. BÜCHNER, Georg: Woyzeck. Leonce und Lena. (Hrsg. v. Dedner, Burghard). Stuttgart: Reclam-Verlag 2013.
5 Vgl. Scherer, Stefan: Einführung in die Dramenanalyse. (= Einführung Germanistik). Darmstadt: WBG- Verlag 2010. S. 34 -35.
6 Vgl. PFISTER, Manfred: Das Drama. Theorie und Analyse. 3. Auflage. München: Fink-Verlag 1982. S. 322 - 326.
7 Vgl. Richards, David: Georg Büchners Woyzeck. Interpretation und Textgestaltung. 2. Auflage. Bonn: Bou- vier-Verlag 1989. S. 61 -71.
8 Vgl. Neumeyer, Harald: Woyzeck. In: Bogards, Roland/ Neumeyer, Harald (Hrsg.): Büchner Handbuch. Leben. Werk. Wirkung. 2009. S.103 - 104.
9 Vgl. Richards, David: Georg Büchners Woyzeck. Interpretation und Textgestaltung. 1989. S. 61 -71.
10 Vgl. Pfister, Manfred: Das Drama. Theorie und Analyse. 1982. S. 322 - 326.
11 Vgl. Scherer, Stefan: Einführung in die Dramenanalyse. 2010. S. 38, 39.
12 Vgl. Pfister, Manfred: Das Drama. Theorie und Analyse. 1982. S. 322 - 326.
13 Vgl. Pfister, Manfred: Das Drama. Theorie und Analyse. 1982. S. 322 - 326.