Frühkindliche Mehrsprachigkeit. Doppelter Erstspracherwerb oder früher Zweitspracherwerb?


Bachelorarbeit, 2019

46 Seiten, Note: 2,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Begriffsbestimmung
2.1 Definition Erstsprache
2.2 Mehrsprachigkeit
2.2.1 Bilingualismus/doppelter Erstspracherwerb
2.2.2 Semilingualismus/doppelte Halbsprachigkeit

3. Unterschied frühkindlicher Spracherwerb und Spracherwerb im Erwachsenenalter/Kritische Phase

4. Unterschiede zwischen doppeltem Erstspracherwerb und frühem Zweitspracherwerb

5. Theorien des Erstspracherwerbs
5.1 Die Behavioristische Theorie
5.2 Die Nativistische Theorie
5.3 Die kognitivistische Theorie
5.4 Die interaktionistische Theorie

6. Theorien des Zweitspracherwerbs
6.1 Die Identitätshypothese
6.2 Die Interlanguage-Hypothese
6.3 Interdependenzhypothese/ Schwellenniveau Hypothese

7. Phänomene des Zweitspracherwerbs
7.1 Sprachdominanz
7.2 Sprachmischung
7.3 Sprachverlust-Spracherosion/Sprachverweigerung

8. Voraussetzungen für den Erstspracherwerb vor dem Hintergrund von Zwei- und Mehrsprachigkeit
8.1 Biologische und neurologische Voraussetzungen
8.2 Kognitive Voraussetzungen
8.3 Soziale und emotionale Einflussfaktoren: Input und Elternrolle
8.4 Affektive Faktoren

9. Typen der Bilingualität

10. Lernertypen

11. Kritische Betrachtung der bekanntesten Typen der Bilingualität

12. Vorteile des sukzessiven Spracherwerbs

13. Warum der sukzessive Spracherwerb

14. Sprachenerhalt

15. Mehrsprachigkeit als Chance

16. Fazit

17. Literaturverzeichnis

1. Einleitung

Oft stellen sich Eltern mit Migrationshintergrund die Frage, wie sie den Spracherwerb ihrer Kinder in einem anderssprachigen Land gestalten sollen. Auch in der Forschung ist diese Fragestellung ein vielseitig diskutiertes Thema. Die Debatte um die erfolgreiche Erwerbsmethode für zweisprachig aufwachsende Kinder ist sehr umstritten. Ziel ist es oftmals, die Muttersprache nicht zu verlieren und gleichzeitig die Umgebungssprache gut zu beherrschen. Ein guter Spracherwerb in zwei Sprachen ist die Vorstellung aller Familien mit Kindern. Jedoch unterscheiden sich die Meinungen hinsichtlich der Methode sehr stark. Auch ich habe die Erfahrung gemacht, dass sich viele Eltern mit Migrationshintergrund im familiären Kreis hier in Deutschland unterschiedlicher Verfahrensweisen hinsichtlich des Spracherwerbs bedienen. Zum einen sind sie der Meinung, dass als erstes nur die Muttersprache bis zum Beginn des Kindergartens erlernt werden soll. Zum anderen aber bevorzugen viele den Erwerb beider Sprachen von Geburt an. Die Meinungen sind sehr heterogen, doch argumentative Antworten werden dabei nicht ins Feld geführt. Es ist oftmals der Rat von Erzieherinnen oder Erziehern, der aufgegriffen wird, oder schlichtweg die eigene Meinung zum Erwerbsprozess ihres Kindes. Daher hat sich für mich durch die Beobachtung vieler Ansichten in den Familien und deren unterschiedliche Herangehensweisen die Frage nach einer erfolgreichen Erwerbsmethode als zentrale Aufgabe für die vorliegende Arbeit herauskristallisiert. Welche Rolle spielt die Muttersprache im Zweitspracherwerb? Inwieweit hat der Erwerb der Muttersprache gute oder schlechte Einflüsse auf den Erwerb der Zweitsprache und folglich auf den schulischen Bildungsweg? Wie steht es mit dem generellen Verhältnis zwischen dem Erwerb zweier Sprachen von Geburt an und dem versetzten Erwerb von Sprachen (Beginn der zweiten Sprache im Kindergarten)? Welche Voraussetzungen und Einflüsse bringt der Zweitspracherwerb mit sich? Welche Vorgehensweise für den Erwerb zweier Sprachen ist effektiver, und welcher Weg ist der erfolgreichere? Die vorliegende Arbeit fokussiert sich auf diese genannten Fragestellungen und verfolgt das Ziel, argumentativ eine geeignete Methode hinsichtlich des Zweitspracherwerbs zu finden.

Zu Beginn werden wichtige Begriffe definiert und aufgeklärt. Termini wie Erstspracherwerb, Mehrsprachigkeit, Bilingualismus und Semilingualismus werden erläutert. Anschließend werden bestimmte Charakteristika des frühkindlichen Spracherwerbs aufgegriffen, und darüber hinaus wird der doppelte Erstspracherwerb mit dem versetzten Spracherwerb verglichen. Danach werden die unterschiedlichen Theorien zum Erst- und Zweitspracherwerb beschrieben. Anschließend folgt ein sehr wichtiger Teil der Arbeit, welcher bestimmte Phänomene und Einflussfaktoren der Zweisprachigkeit in Betracht zieht. Insbesondere sind diese Aspekte für einen ausführlichen Schlussteil von wichtiger Bedeutung.

Da die Untersuchung der Fragestellung auf einem normalen Spracherwerbsprozess beruht bzw. Sprachstörungen oder kognitive Beeinträchtigungen nicht miteinbezieht, werden in einem kurzen Abschnitt bestimmte Voraussetzungen für den natürlichen Erwerbsprozess aufgezählt. Anschließend folgen die Typen der Bilingualität sowie die Lerntypen der Zweisprachigkeit, die ebenfalls einen Einfluss auf den Erwerb ausüben. Im Anschluss daran folgt der Schlussteil mit der beginnenden kritischen Betrachtung von bestimmten bzw. den bekanntesten Typen der Bilingualität. Daraufhin wird der frühkindliche Zweitspracherwerb, der durch den Kontakt mit der zweiten Sprache im Kindergarten gekennzeichnet ist, noch einmal intensiv begutachtet. Hierbei werden wichtige Punkte näher herangezogen, die diesen Erwerbsprozess kennzeichnen.

Vor dem Fazit werden in einem kurzen Abschnitt die Chancen der Mehrsprachigkeit erfasst. Schließlich werden alle Argumente für einen Zweitspracherwerb ab der Kindergartenzeit und dem doppelten Spracherwerb ab der Geburt im Fazit noch einmal zusammengefasst, um eine Schlussfolgerung der vorliegenden Arbeit abzuleiten.

2. Begriffsbestimmung

Hinsichtlich des Spracherwerbs gibt es unterschiedliche Begriffe, die für die vorliegende Arbeit essenziell sind. Um ein klares Verständnis für die vielen Bezeichnungen zu erhalten, werden im Folgenden alle Formen des Spracherwerbs näher erläutert. Hinzu zählen die Erstsprache, die Mehrsprachigkeit, der Begriff des Bilingualismus sowie der des Semilingualismus.

2.2 Definition Erstspracherwerb

Bezüglich der Fragestellung der vorliegenden Arbeit ist es zu Beginn wichtig, verschiedene Begriffe näher zu erläutern. Hierzu zählen die Begrifflichkeiten Erstsprache sowie Zweitsprache.

Die Erstsprache, auch als L1 bekannt, ist die Sprache, die der Mensch als Erstes erwirbt. Sie wird also von Geburt an, vermehrt in einem familiären Kontext, erlernt (vgl. Ahrenholz 2010, 3). Häufig wird der Begriff Erstsprache im Alltag als Synonym für das Wort Muttersprache verwendet, wohingegen in der wissenschaftlichen Literatur die Bezeichnung der Erstsprache dominanter ist, denn die Begrifflichkeit Muttersprache deutet auf einen Spracherwerb hin, der nur von der Mutter erlernt wird, wobei Väter wie auch Geschwister und andere Bezugspersonen, die im Alltag eine wichtige Rolle spielen, daran beteiligt sind (vgl. ebd.). Neben dem familiären Kontext wird die Bedeutung der Muttersprache auch im Zusammenhang von Sprache und Identität thematisiert. Hierbei wird die Muttersprache mit einer emotionalen Ebene verbunden, die in der Ausdrucksweise der Erstsprache nicht vorhanden ist (vgl. ebd., 4). Bei dem Gebrauch des Begriffs Muttersprache spielen also emotionale Aspekte ebenfalls eine wichtige Rolle (vgl. Oksaar 2003, 13).

Wie bereits zu Beginn angeführt, wird der Terminus Muttersprache in der sprachwissenschaftlichen und psychologischen Literatur weniger verwendet, da die mögliche Interpretation als eine von der Mutter gelernte Sprache gelten kann. Trotz dieser Problematik ist zu beobachten, dass die Unterscheidung von Muttersprache und Erstsprache sprachlich sowohl in der Literatur als auch im alltäglichem Gebrauch nicht immer konsequent differenziert wird (vgl. Ahrenholz 2010, 5).

2.1 Mehrsprachigkeit

Im Spektrum der Mehrsprachigkeit sind viele Begrifflichkeiten bekannt, die eine Vielfalt an Sprachaneignungen und Sprachformen beschreiben. Vor der Erläuterung verschiedener Bezeichnungen lässt sich sagen, dass die grundlegende Bedeutung der Mehrsprachigkeit darin liegt, dass Menschen neben dem Erwerb der Erstsprache L1 mindestens eine weitere Sprache ergänzend dazu erlernen (vgl. Bickes, Pauli 2009, 81).

Sie haben die Fähigkeit in mehr als einer Sprache zu kommunizieren und sich auszudrücken (vgl. Rothweiler 2007, 104). Hierbei ist der Erwerb jeder weiteren Sprache optional und abhängig von den Umständen, unter denen dieser Erwerb stattfindet (vgl. Bickes, Pauli 2009, 81). Dabei beeinflussen viele verschiedene Faktoren die spätere Sprachfähigkeit des Menschen und das Verhältnis zwischen den Sprachen (vgl. ebd.). Folglich lässt sich hinzufügen, dass nicht nur Bürgerinnen und Bürger mit Migrationshintergrund als mehrsprachig bezeichnet werden, sondern auch all die Menschen, die Sprachkenntnisse beispielsweise aus dem Schulunterricht (z.B. Englisch, Spanisch o.ä.) in kommunikativen Situationen anwenden können (vgl. Rothweiler 2007, 104). Die Mehrsprachigkeit umfasst im Allgemeinen alle Formen von multipler Sprachkompetenz und beschränkt sich nicht auf bestimmte Zeitfenster wie der Bilingualismus (vgl. Ahrenholz 2010, 5).

2.1.1 Bilingualismus

Von Bilingualismus wird dann gesprochen, wenn in den ersten Lebensjahren zwei oder mehr Sprachen simultan erworben werden. Man spricht auch vom doppelten Erstspracherwerb oder - wie dies in der Literatur oft angegeben ist - als 2L1 (zwei erste Sprachen), im Rahmen dessen man sich quasi mehrere Sprachen in den ersten Lebensjahren gleichzeitig und auf natürliche Weise (d.h. ohne formalen Unterricht) aneignet (vgl. Rothweiler 2007, 1006). Vom simultanen Spracherwerb grenzt sich der Begriff des sukzessiven Erwerbs ab. Hierbei werden Sprachen nacheinander erlernt, indem der Erwerb einer zweiten Sprache dann beginnt, wenn der Erwerb der ersten Sprache in ihren Grundzügen vollzogen ist (vgl. ebd.). Der sukzessive Erwerb kann im Kindesalter, oder aber auch in nachfolgenden weiteren Altersstufen stattfinden (vgl. Heimann-Bernoussi 2011, 22). Die Altersgrenze für die Bestimmung von simultanem und sukzessivem Spracherwerb ist in der Literatur umstritten. Allerdings lässt sich überwiegend festhalten, dass ca. ab dem 3./4. Lebensjahr der sukzessive Spracherwerb erfolgt und ab dem Zeitpunkt die Rede von dem Erwerb einer Zweitsprache ist. Die Zweitsprache ist somit ein sukzessiver Erwerb, wobei auch hier zwischen dem kindlichen/früheren Zweitspracherwerb und dem Zweitspracherwerb im Erwachsenenalter unterschieden wird (vgl. Rothweiler 2007, 106). Der Grund für die Unterscheidung liegt in den unterschiedlichen Einflussfaktoren der physischen und psychischen Entwicklung am Ende der Pubertät, die den Spracherwerb prägen (vgl. Ahrenholz 2010, 6). Der Zweitspracherwerb Erwachsener lässt sich somit als ein Zweitspracherwerb definieren, der im Alter von zehn Jahren oder später beginnt. Diese Altersfeststellung ergibt sich aus der Diskussion der kritischen Phase, die im weiteren Verlauf dieser Arbeit näher erfasst wird (vgl. Chilla, Rothweiler, Barbur 2013, 30). In Ergänzung hierzu lässt sich sagen, dass sich der sukzessive Spracherwerb hinsichtlich seines natürlichen Erwerbs zweier oder mehrerer Sprachen und seinem gesteuerten Erwerb mit formalem Unterricht unterscheiden lässt (vgl. Müller, Kupisch, Schmitz, Cantone 2011, 15). Der gesteuerte Zweitspracherwerb ist somit eine Variante des Fremdsprachenlernens (vgl. Rothweiler 2007, 106). Als Beispiel für den natürlichen Spracherwerb kann eine einsprachige Familie in Betracht gezogen werden, die ihren Wohnsitz in einem Land mit einer anderen Umgebungssprache als die Muttersprache der Eltern gewählt hat. Hier erwerben Kinder der Familie die Umgebungssprache, also eine weitere Sprache auf natürlichem Wege, die durch die Bewältigung von alltäglichen Kommunikationssituationen stattfindet (vgl. et al. 2011, 15).

Da sich der Schwerpunkt der vorliegenden Arbeit auf den doppelten Spracherwerb und den sukzessiven frühkindlichen Zweitspracherwerb beschränkt und es um die Frage geht, inwieweit noch der sukzessive Erwerb einer Sprache qualitativ (und quantitativ) verläuft wie der simultane Erstspracherwerb, werden im Verlauf verschiedene Aspekte und Unterschiede zwischen dem doppelten Spracherwerb und dem frühkindlichen Zweitspracherwerb näher erläutert.

2.1.2 Semilingualismus/Doppelte Halbsprachigkeit

Semilingualismus oder auch Doppelte Halbsprachigkeit beschreibt eine negative Version der Zweisprachigkeit. Genauer gesagt bedeutet dies, dass ein Sprachdefizit bzw. eine mangelnde Beherrschung beider Sprachen vorliegt (vgl. Gümüsoglu 2010, 55). Charakteristisch für den Semilingualismus sind zwei entscheidende Faktoren. Zum einen kennzeichnet er sich durch den Erwerb der zweiten Sprache aus, noch bevor der Erwerb der ersten Sprache abgeschlossen ist, was zu einer niedrigen Sprachkompetenz in der zweiten Sprache führt. Zum anderen ist der Semilingualismus durch die Schwächung der zuerst erworbenen Sprache markiert, die während des Zweitspracherwerbs erfolgt. Infolgedessen entsteht auch eine Unvollkommenheit der zweiten Sprache, somit auch geringe allgemeine kognitive Fähigkeiten in beiden Sprachen (vgl. ebd.). Der Begriff des Semilingualismus steht eng mit der Schwellenhypothese bzw. der Interdependenzhypothese im Zusammenhang. Dieser wird im Abschnitt der Zweitspracherwerbstheorien noch einmal aufgegriffen. Hinzukommt, dass der Begriff ebenfalls mit weiteren wichtigen Aspekten wie dem Sprachverlust oder auch dem Sprachabbau einhergeht. Diese Bezeichnungen spielen für den Konfliktpunkt der vorliegenden Arbeit auch eine wichtige Rolle, der darin besteht, die Effektivität eines simultanen Zweitspracherwerbs und eines sukzessiven Erwerbs zu analysieren.

3. Unterschied frühkindlicher Spracherwerb und Spracherwerb im Erwachsenenalter / Kritische Phase

Wie bereits im vorherigen Abschnitt angeführt wurde, lässt sich der sukzessive Spracherwerb im frühkindlichen Alter vom Spracherwerb im Erwachsenenalter bzw. von später sukzessiver Zweitsprachaneignung unterscheiden. Dies liegt darin, dass das Alter ein entscheidendes Kriterium für die Aneignung einer weiteren Sprache in einem muttersprachlichen Niveau ist (vgl. Ehrmann 2016, 57).

„Die kindliche Spracherwerb sfähigkeit ist dem Vermögen eines Erwachsenen, eine Fremdsprache zu lernen, weit überlegen. Kinder lernen schnell, ohne Anstrengung, durchlaufen überindividuell festlegbare Erwerbsstadien, die sich von solchen unterscheiden, denen erwachsene Zweitsprachlerner folgen. Vor allem aber erreichen Kinder eine Erstsprachkompetenz, die Zweitsprachlerner nur extrem selten erreichen.“ (Rothweiler 2007, 123)

Die Bedeutung des Alters für die Zweitsprachenaneignung lässt sich in dem Zusammenhang der kritischen Phase bzw. der sensiblen Phase, die auf der Hypothese der Critical Period Hypothesis von Lenneberg (1967) beruht, ergründen (vgl. Ehrmann 2016, 57). Diese sagt aus, dass sich ein Mensch eine Sprache ab einem bestimmten Aneignungsalter nicht mehr wie eine Erstsprache aneignen kann (vgl. ebd.). In der heutigen Literatur wurde diese Theorie relativiert. Allerdings ist man sich dennoch einig, dass es zwischen dem frühkindlichen Zweitspracherwerb und dem Zweitspracherwerb im Erwachsenenalter qualitative Unterschiede gibt (vgl. Rothweiler 2007, 124). Näher erläutert bedeutet dies, dass Kindern und Erwachsenen unterschiedliche Erwerbsmechanismen zustehen. Insbesondere stehen Kindern spezifische Erwerbsmechanismen zur Verfügung, auf die Erwachsenen nicht mehr vollständig Zugriff haben, das heißt, dass sie andere Strategien und Mechanismen verwenden als Kinder (vgl. ebd.). Als kritische Grenze kann das Alter von sieben Jahren gelten, da der Erwerb einer Sprache vor diesem Alter nach dem grammatischen System einer Erstsprache organisiert ist und näher definiert ebenfalls in der linken Hemisphäre1 verarbeitet wird (vgl. Chilla, Rothweiler, Babur 2013, 49). Bei späterem Erwerbsbeginn wird morphosyntaktisches2 Wissen für beide Sprachen in unterschiedlich zerebralen Strukturen verarbeitet (vgl. ebd.). Die kritische Periode beschreibt somit einen Altersbereich, in der die optimale Erwerbsperiode abklingt und somit der Zugang zu bestimmten Spracherwerbsmechanismen verschwindet, da sich die kognitiven Fähigkeiten für den Spracherwerb mit der Zeit verändern (vgl. ebd.). Dies ist insbesondere für die Fragestellung der vorliegenden Arbeit ein wichtiger Aspekt, der später im Verlauf noch einmal aufgegriffen wird.

4. Unterschiede zwischen doppeltem Erstspracherwerb und frühem Zweitspracherwerb

Einer der wichtigsten Unterschiede zwischen dem simultanen, also dem doppeltem Erstspracherwerb, und dem sukzessiven bzw. dem frühen Zweitspracherwerb liegt darin, dass sich der Erwerbsprozess einer weiteren Sprache in beiden Erwerbsformen differenziert (vgl. Meisel 2007, 99). Beim sukzessiven Erwerb wird auf zuvor erworbenes sprachliches Wissen zurückgegriffen, da die ersten Phasen der sensorischen und motorischen Entwicklung bereits durchlaufen sind und die Kinder einen kognitiven und sprachlichen Startvorsprung haben (vgl. Nauwerck 2005, 59). Dies hat zur Folge, dass mehr Möglichkeiten beim Lernen, Speichern und Verarbeiten von Sprache eröffnet werden, was wiederum zur Folge hat, dass der Aneignungsprozess zu Beginn etwas länger und komplexer als beim simultanen Spracherwerb erfolgen kann (vgl. ebd.?). Das Kind wird in der Familie groß, in der die Erstsprache nicht der Umgebungssprache entspricht. Erst mit ca. drei bis vier Jahren, mit Eintritt in den Kindergarten, begegnet das Kind der zweiten Sprache (vgl. Jenny 2008, 19). Die Anfangszeit im Kindergarten ist die Zeit, in der das Kind die Sprache wahrnimmt und aufnimmt. Dies ist die Zeit des Sprachinputs (vgl. ebd.). Sobald das Kind die rezeptive bzw. die stumme Phase überwindet, die bei Kindern sehr unterschiedlich lang andauert, beginnt das Kind mit dem aktiven Sprechen (vgl. ebd.). Hierbei findet der Spracherwerb unter natürlichen Umständen statt, indem die Kinder spielerisch die Sprache erlernen. Außerdem verlaufen Spracherwerbsphasen der neuen Sprache durch das vorherige Wissen unterschiedlich schnell ab. Entweder kann die Zweitsprache stark verkürzt oder auch etwas verlangsamt erlernt werden. Dies liegt daran, dass die Muttersprache und die Zielsprache bzw. Umgebungssprache nicht immer der gleichen Sprachfamilie angehören (vgl. ebd.). Gehört die Muttersprache beispielsweise der indoeuropäischen3 Sprache an, kann das Kind einige Phasen überspringen und schon am Anfang mit einem grammatischen Teil beginnen. Die türkische Sprache4 gehört hingegen z.B. der altaischen Sprachfamilie an, bei der grammatische Elemente an den Wortstamm angehängt werden. Dies hat zur Folge, dass das Kind bei der Phase der 2-Wort-Sätze beginnt, um den Sprachbau der indoeuropäischen Sprache durchschauen zu können (vgl. ebd.). Das Kind braucht daher etwas mehr Zeit beim Erlernen der Zweitsprache. Hinsichtlich dieser Feststellung rückt der Begriff des Transfers näher in den Vordergrund, da genau dieser die Übertragung einer Sprache auf die andere Sprache näher definiert.

„Der Begriff Transfer wird verwendet für einen Prozess, in dem ein bestimmtes sprachliches Element (z.B. ein Wort, ein Laut oder ein Morphem) eine abstrakte sprachliche Struktur (z.B. Aspektmarkierung oder Auslaufverhärtung) oder eine Regel (z.B. wann man Futur verwendet) von einer Sprache in die andere übertragen wird.“ (Riehl 2014, 108)

Daraus erschließt sich, dass beispielsweise Fehler und Schwierigkeiten im Erwerbsprozess einer zweiten Sprache dann geringer sind, wenn die strukturelle Ähnlichkeit zwischen der Erstsprache und der zu erwerbenden Sprache größer ist (vgl. Ehrmann 2016, 46). Durch die Übertragung erstsprachlicher Elemente kommt es zu einer korrekten Reproduktion in der Zielsprache, die in der wissenschaftlichen Literatur als positiver Transfer bezeichnet wird (vgl. Ehrmann 2016, 46).

Vom negativem Transfer bzw. von Interferenzen wird dann gesprochen, wenn die Zielsprache fehlerhafte Formen aufweist, die auf die strukturellen unterschiedlichen Aspekte der Erstsprache zurückzuführen sind (vgl. Ehrmann 2016, 46).

Diese Annahme führt zur Transferhypothese bzw. Kontrastivhypothese der Zweitspracherwerbstheorien von Fries (1945), Weinrich (1953) und Lado (1957) (vgl. Günther, Günther 2007, 147). Sie basiert auf der behavioristischen Lerntheorie und geht davon aus, dass sprachliche Bereiche und Regeln durch Unterschiede zwischen Erst- und Zweitsprache zu Lernschwierigkeiten und Fehlern führen können und dass hingegen identische und ähnliche Bereiche leicht zu erlernen sind (vgl. Pinar 2016, 37). Hinsichtlich der Theorien zum Zweitspracherwerb lässt sich festhalten, dass kein allgemein gültiges Erklärungsmodell vorliegt. Es gibt verschiedene Zweitspracherwerbstheorien, die in der Zweitspracherwerbsforschung eine zentrale Rolle spielen und im Folgenden näher beschrieben werden.

5. Theorien des Erstspracherwerbs

Es existieren unterschiedliche Theorien bzw. Annahmen, die die sprachliche Entwicklung von Kindern erklären.

„Theorien sind für den Pädagogen Hilfen, um sich Phänomene des Alltags zu erklären und über sein praktisches Handeln nachzudenken.“ (Günther, Günther 2007, 88)

Daher werden im Folgenden verschiedene Entwürfe des Spracherwerbs vorgestellt.

5.1 Die Behavioristische Theorie

Die Behavioristische Theorie nach Skinner (1957) geht davon aus, dass Sprache als eine besondere Form des menschlichen Verhaltens gilt. Skinners imitationsorientierter Ansatz besagt, dass der Mensch auf der einen Seite durch seine Umgebung bzw. durch Reize und Reaktionen (Reiz-Reaktions-Schema) zum Sprechen gebracht wird und auf der anderen Seite sein Verhalten dadurch beeinflussbar ist (vgl. Heimann-Bernoussi 2011, 39). Im behavioristischen Ansatz des Erstsprachenerwerbs spielen also bestimmte Reaktionen in der Umgebung, soziale Anerkennung und Belohnung eine wichtige Rolle (vgl. ebd.).

„Das Kind orientiert sich an vorgegebenen Verhaltensmustern sowie sprachlich an bestimmten Begriffszuweisungen und der Artikulation von Wörtern und reagiert nach einer gewissen Zeit „richtig“. Sprache ist demnach vor allem Nachahmung.“ (Heimann-Bernoussi 2011, 39)

Demnach gilt das sprachliche Verhalten als ein Verhalten, dass durch Imitation sowie durch die Verstärkung anderer Personen erworben wird (vgl. ebd.).

Für den behavioristischen Erstspracherwerb ist noch wichtig zu erwähnen, dass diese Theorie affektive Prozesse im menschlichen Gehirn nicht näher untersucht. Wissenschaftlich ist es eher als Ziel gesetzt worden, Regelmäßigkeiten zwischen der Umgebung und dem Verhalten zu ermitteln (vgl. Pinar 2016, 31). Die menschlichen Prozesse im Gehirn werden durch die BalckBox in der schematischen Darstellung von Edmondson und House wie folgt dargestellt:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

5.2 Nativistische Theorie

„Die Fähigkeit zum Spracherwerb beruht auf einem angeborenen Mechanismus, dem LAD (Language Acquisition Device). Jedes Kind trägt somit genetisch determinierte sprachliche Fähigkeiten in sich.“ (Heimann-Bernoussi 2011, 42)

Diese Theorie basiert auf der Auffassung von Chomsky (1972) und besagt, dass Sprache zum größten Teil biologisch bestimmt und angeboren ist bzw. dass die Aneignung von Sprache genetisch vorbestimmt ist (vgl. Pinar 2016, 32). Im Gegensatz zum behavioristischen Ansatz, welcher auf Verhaltensmuster basiert, orientiert sich die nativistische Theorie an der biologischen Ebene des Erstspracherwerbs. Daher spielt das Lernen in seiner Theorie eine unwichtige Rolle.

Zudem spielt die Universalgrammatik der LAD eine wichtige Rolle, welche besagt, dass alle Sprachen Gemeinsamkeiten haben und somit jede Sprache der Welt erworben werden kann, da sie den Erwerb jeder beliebigen Sprache auch zulässt (ebd.).

Hinzukommt, dass Kinder in ihrer kognitiven Fähigkeit so ausgebildet sind, dass sie den Spracherwerb irgendeiner Sprache zulassen, da sie genetisch vorprogrammiert sind. Um diese Theorie zu verdeutlichen, lehnt sich Chomsky an den schnellen Zweitspracherwerb von Einwanderungskindern an, die nach seiner Meinung mühelos eine weitere Sprache erlernen. Die Rolle des Inputs spielt nur nebensächlich eine Rolle und ist nicht entscheidend für den Erwerb (vgl. Heimann-Bernoussi 2011, 43).

5.3 Die kognitivistische Theorie

Wie der Begriff schon andeutet, wird in dieser Theorie die Sprachentwicklung als ein Teil der allgemeinen kognitiven Entwicklung betrachtet. Diese Aussage geht auf den Entwicklungspsychologen Piaget zurück, der die Hypothese aufstellte, dass Sprache sehr eng mit der kognitiven Entwicklung einhergeht (vgl. Günther, Günther 2007, 90). Entgegen der behavioristischen und der nativistischen Theorie des Spracherwerbs lehnt die kognitive Theorie jegliche angeborenen Erwerbsmechanismen oder auch die Orientierung an vorgegebenen Verhaltensmustern ab. Sie geht stark davon aus, dass der Lernende durch die ständige kognitive Auseinandersetzung mit der Umwelt und den Menschen Sprache erwirbt (vgl. ebd.).

„Wahrnehmung und Bewegung bilden die Basis der sprachlichen Entwicklung.“ (Günther, Günther 2007, 91)

Piaget betont damit die enge Verknüpfung von Sprache und Denken, die als eine sensomotorische Phase der Sprache angesehen wird. Sprache und Denken stehen somit in einer ständigen wechselseitigen Beziehung und beeinflussen sich gegenseitig (ebd.). Mit dem Begriff des Denkens geht auch der Begriff der Intelligenz einher, die darin besteht, Handlungen zu vollziehen und zu koordinieren, die in einer verinnerlichten und überlegenden Form stattfinden (vgl. Klann-Delius 2016, 93). Intelligenzentwicklung wird in vier Stufen differenziert, die nacheinander folgen:

1. Die erste Stufe zeichnet sich durch die sensomotorische Intelligenz aus, die in sechs Stadien untergliedert und durch eine geistige Entwicklung gekennzeichnet ist. Diese vollzieht sich von der Geburt an bis ca. zum 2. Lebensjahr.
2. Anschließend folgt die Stufe des intuitiven Denkens, die ca. vom 2. Lebensjahr bis zum 7. Lebensjahr folgt. Hierbei ist das Kind schon zum Denken fähig, die mentalen Prozesse sind allerdings noch intuitiv.
3. In der dritten Stufe werden die konkreten Operationen ausgeführt (7 bis 12 Jahre). Das heißt, dass das intuitive Denken überwunden worden ist.
4. Die vierte Stufe ist durch die Stufe der formalen abstrakten Operation gekennzeichnet. Das Denken erreicht seinen operativen Höhepunkt und entwickelt sich über die anschaulichen Denkprozesse hinaus.

Piaget ist der Auffassung, dass Kinder ihre Kommunikationsfähigkeit erst nach der Überwindung des kindlichen Egozentrismus entwickeln. Beim kindlichen Egozentrismus erfolgt keine Bezugnahme auf den Partner. Kinder erwarten häufig keine Antworten und geben oftmals selber auch keine. Sie erlernen erst mit der Zeit die Fähigkeit, Gespräche, Diskussionen o.ä. mit ihrem Kommunikationspartner aufzubauen (vgl. Klann-Delius 2016, 108).

5.4 Die interaktionistische Hypothese Ausgangspunkt dieser Hypothese ist:

„...die Erkenntnis, dass der kindliche Spracherwerb sich in einem vertrauten Kommunikationskontext zwischen Mutter und Kind abspielt. Dabei bildet die vorsprachliche Kommunikation eine wesentliche Grundlage für den Spracherwerb, denn schon in dieser Phase kann das Kind konventionalisierte Interaktionen mit den primären Bezugspersonen führen“ (Heimann-Bernoussi 2011, 44).

Der Erstspracherwerb vollzieht sich demnach durch eine Wechselbeziehung von Kind und Umwelt, und dabei spielt die Interaktion zwischen Mutter und Kind eine wichtige Rolle bzw. wird als Ausgangsunkt der Sprache betrachtet. Als wichtiger Vertreter der Interaktionstischen Hypothese gilt Burner (1987), der der Ansicht ist, dass Kinder bereits im Säuglingsalter durch ihre erste Lautäußerung, Mimik und Gestik schon die ersten Grundlagen der Sprachentwicklung aufbauen und damit schon eine frühe Form der Kommunikation entwickeln (vgl. Günther, Günther 2007, 91). Das Kind lernt somit in einem sozialen und situativen Kontext Sprache zu produzieren und zu verstehen (vgl. ebd.). Daher sollten sich Eltern auf ein kindliches Verständnis der Sprache stützen, um somit sprachliche Äußerungen kindgerecht bzw. so zu gestalten, dass Kinder leichter und schneller verstehen.

Burner ist der Auffassung, dass der Spracherwerb viel weniger mit den angeborenen Fähigkeiten oder mit der Nachahmung zu tun hat.

„Sprache und die Bedeutung von Begriffen werden nicht einfach erworben oder gelernt, sondern regelrecht zwischen den Beteiligten ausgehandelt.“ (Günther, Günther 2007, 92)

Es ist also festzuhalten, dass in der Theorie von Burner Eltern eine wichtige Rolle zugesprochen wird. Sie fungieren als Sprachlehrer oder Sprachlehrerinnen ihres Kindes. Daraus lässt sich auch ableiten, dass der Spracherwerb nicht bei jedem Kind gleich verläuft, da die Kommunikation und die Kultur die Sprache in erheblichem Maße beeinflussen (Heimann-Bernoussi 2011, 45).

Für den doppelten Erstspracherwerb kann diese Theorie in Erwägung gezogen werden. Allerdings können auch andere Ansätze wichtig sein. Es lässt sich im allgemeinem festhalten, dass keiner der bisher genannten Theorien einzig und allein als richtig oder falsch gelten kann. Viele Forscher sehen unterschiedliche Verbindungen zwischen den Theorien und schließen eine Theorie der anderen nicht zwangsläufig aus. Keiner der vorgestellten Annahmen liefern ausreichende Erklärungen, um eine bestimmte Theorie als richtig gelten zu lassen.

[...]


1 Rechte bzw. linke Gehirnhälfte

2 Die Morphosyntax ist der Bereich der Grammatik, der die Morphologie (Formen- oder Flexionslehre) und die Syntax (Satzlehre) in ihren Wechselwirkungen betrachtet

3 orientiert sich am Sprachgebrauch unserer Nachbarsprachen und bezeichnet eine große Gruppe historisch verwandter Sprachen, steht also für eine Sprachfamilie.

4 Da sich meine Arbeit auf Deutschland bezieht und Deutschland ein Einwanderungsland mit einem hohen Anteil von Schülerinnen und Schülern mit türkischem Migrationshintergrund ist, beziehe ich mich auf ein Beispiel im türkischen Sprachgebrauch.

Ende der Leseprobe aus 46 Seiten

Details

Titel
Frühkindliche Mehrsprachigkeit. Doppelter Erstspracherwerb oder früher Zweitspracherwerb?
Hochschule
Universität Duisburg-Essen
Note
2,3
Autor
Jahr
2019
Seiten
46
Katalognummer
V994029
ISBN (eBook)
9783346359322
ISBN (Buch)
9783346359339
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Deutsch als Zweitsprache, DaZ, doppelter Erstspracherwerb, früher Zweitspracherwerb, frühkindliche Mehrsprachigkeit
Arbeit zitieren
Tansu Ören (Autor:in), 2019, Frühkindliche Mehrsprachigkeit. Doppelter Erstspracherwerb oder früher Zweitspracherwerb?, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/994029

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