Postmoderne und Religion Teil 1


Skript, 2000

13 Seiten


Leseprobe


Postmoderne und Religion 25.1.95

Die Postmoderne zeichnet sich durch eine Atomisierung von Strukturgefügen aus. So in etwa hatte sich Theodor W. Adorno zur Moderne geäußert. Die Moderne war bzw. ist jene Strömung die überkommene Lebensstrukturen auflöst und durch individuell kombinierbare Möglichkeiten ersetzt. Der Moderne haftet eine Art dauerndes Krisengeschehen an, daß von Carl Grünberg in einer 1924 gehaltenen Rede so definiert wurde:

„Sie alle, meine Damen und Herrn, wissen es und jeder von uns verspürt es jeglichen Tag am eigenen Leibe, daß wir in einer Übergangszeit leben

Es gibt Pessimisten, die angesichts des Verblassens und Verschwindens von vielem, woran sie ge- wöhnt sind, was ihnen bequem ist und Vorteil inmitten der Trümmer stehen, welche der Umgestal- tungsprozess zeitigt. Sie sehen in ihnen nicht allein Trümmer ihrer Welt, sondern der Welt überhaupt. Was sie erblicken, scheint ihnen das Absterben nicht von etwas, das mit historischer Bedingtheit entstanden war, sich entfaltet hat, ausgereift ist und nun eben deshalb vergehen muß, sondern Tod und Verderben an sich... In der Tat, ihnen mangelt das Verständnis für das Wesen des Lebens - aber wenn man auf den Grund sieht, auch der Wille zu ihm. Sie können daher keine Lehrer und Wegweiser sein, wie sie doch so gerne möchten

Im Gegensatz zu den Pessimisten gibt es denn auch Optimisten. Sie glauben weder an den Untergang der abendländischen Kultur oder der Kulturwelt überhaupt, noch ängstigen sie sich und Andere vor ihm... Gestützt auf die geschichtliche Erfahrung sehen sie anstelle einer zerfallenden Kulturform eine andere höhergeartete heraufziehen. Sie sind der Zuversicht: Magnus ab integro saeculorum nascitur ordo, Neue Ordnung entringt sich aus der Fülle der Zeiten. Und sie fördern ihrerseits bewußt die Selbstüberwindung des Überlebten um des Werdenden willen und um es zu schnellerem Reifen zu bringen.“ (Carl Grünberg, zitiert nach Rolf Wiggershaus, „Die Frankfurter Schule“, S.36ff).

Eben dieses „verschwinden von Vielem woran wir gewöhnt waren..“ ist am Ausgang des 20. Jahrhunderts nicht besser sondern stärker geworden. Wir mögen das nicht mehr so empfinden, aber der Verlust von sozialen Bindungen, der Abschied von Traditionen ist so weit fortgeschritten, daß er von vielen Zeitgenossen nicht sonderlich bemerkt wird. Man lebt damit, so wie vielleicht auch zur Zeit des verfassten Textes viele Menschen damit lebten und es eben so nahmen wie es war. Der Streit um die Frage nach Moderne und Postmoderne geht ja auch heute mehr durch die Reihen von Intellektuellen und weniger in den Köpfen der Allgemeinheit herum, obwohl es alle betrifft.

Dennoch, wenn wir verstehen wollen warum wir uns mit der Religion so schwer tun, kommen wir an der Postmoderne nicht vorbei. Wir kommen vor allem nicht daran vorbei zur Kenntnis zu nehmen, daß wir weitgehend eine wirkliche Verwurzelung in einem religiösen Grundgefüge des Lebens verlo- ren haben. Religion stellt sich heute als eine Art Bastelset dar, wo sich jeder, auf dem Hintergrund eigener Neigungen und Bedürfnisse eine Religion zwischen indianischen Schwitzhütten und astrolo- gischen Berechnungen zusammenstellen kann. War Religion immer eine kollektive Größe, die den Menschen vorgegeben war, so scheint sich die Sache nun umzukehren. Vor der Religion ist der Mensch, der sich seine Religion schafft.

Dieses Pathos vertraten bereits im 19. Jahrhundert viele Aufklärer und Feinde der Religion, wobei Religion mit dem Christentum identisch gesehen wurde. Aber selbst ein so flammender Gegner des Christentums wie Ludwig Feuerbach wäre nicht auf den Gedanken gekommen Religion als Bastelset für einzelne zu definieren. Zwar sagte er, daß der Mensch sich aus seiner Bedürftigkeit heraus eine religiöse Wirklichkeit schaffe, aber das war eine kollektive Leistung und nicht etwa eine individuelle.

Wenn die Postmoderne irgend etwas in Bezug auf die Religion bewirkt hat, dann die Auflösung von Kollektiven. Religion ist, so wie alle anderen Bereiche des Lebens auch, eine Angelegenheit des ein- zelnen geworden mit der er sich zurechtfinden muß. Zwar gibt es immer noch, fast staunenswerter Weise, eine gewisse Front gegen das Christentum, aber im Prinzip muß jeder für sich selber sehen was ihm religiös liegt oder auch nicht liegt. So wie immer mehr kollektiv tradierte Vorgaben verschwinden, die uns gesagt haben was wann wie zu machen sei, so verschwinden auch religiöse Flankierungen, die uns vorgeben was wir zu glauben haben. Das bringt wie in allen anderen Lebensbereichen auch, eine große Freiheit mit sich, aber auch eine große Last nun selbst sehen und experimentieren zu müssen was denn das Richtige für mich sei oder auch nicht

Diese Situation ist insofern neu als es vor uns noch keine so konsequent säkularisierte Gesellschaft gab. Wir werden uns also an diese Problematik heranarbeiten und versuchen herauszuspüren warum es dem westlich säkularisierten Menschen so schwer fällt so etwas wie Religion überhaupt als eine Vorgegebenheit des Lebens anzunehmen. Wie immer geschieht das nur bruchstückhaft und kann in der Kürze auch kaum anders dargestellt werden. Außerdem spielt mein eigene Haltung eine Rolle, denn ich empfinde mich je länger je mehr, der abendländischen Kultur sehr verbunden und darin ver- wurzelt. Außerdem bin ich Christ und sehe mich auch hier als Teilhaber an einem großen, komplexen Zusammenhang, der weitaus größer ist als ich selbst. Dieses Größere ist eben nur in einem geschicht- lichen, kosmischen und integralen Zusammenhang zu verstehen. Nach dem Verlust von übergreifen- den Zusammenhängen haben wir auch größere Schwierigkeiten in geschichtlichen, kosmischen oder integralen Zusammenhängen zu denken

Bevor allerdings und ihre Bestrebungen verstehen können, die tradierten Strukturen aufzulösen, müssen wir eine kurze Rückschau halten um uns an das Problem aus der Geschichte heraus heranzuarbeiten. Daher werden wir kurz die Individualisierungstendenz der Reformation anschauen und möglicherweise hier schon Spuren entdecken, die uns dazu verhelfen die konkreten Erscheinungen in der Zeit zu verstehen. Der Verlust der großen Zusammenhänge ist ja nicht erst seit gestern zu beklagen, sondern hat tiefe geschichtliche Wurzeln.

Der Ausbruch aus den Zusammenhängen

Als Galilei verkündete, daß nicht die Sonne sich um die Erde drehe sondern umgekehrt, die Erde um die Sonne, da sagte er nichts was nicht vor ihm auch schon Johann Kepler gesagt hätte. Aber Galilei war in der Lage, dank einer technischen Neuerung, die er sich eigens aus Florenz hatte mitbringen lassen, diese Behauptung auch zu beweisen und sie, getragen durch den Buchdruck, in aller Welt kundzutun. Die Vertreter der Inquisition weigerten sich durch das Fernrohr zu schauen um die Fakten selbst in Augenschein zu nehmen. Diese Fakten waren eindeutig: Das Weltbild des Griechen Ptole- mäus, das man bis dorthin für unumstößlich gehalten hatte, brach unter der Last der Fakten zusammen wie ein Kartenhaus.

Ptolemei hatte sich die Erde als Mitte des Universums vorgestellt, die umgeben war von verschiede- nen Hüllen, sogenannten Sphären, an denen wiederum die Fixsterne befestigt waren. Da sich diese Sphären in Bewegung befanden und einen harmonischen Klang erzeugten, glaubte man, wenn man Glück hatte, diese „Sphärenmusik“ hören zu können. An dem Weltbild des Ptolemei hing nicht weni- ger als eine ganze kosmische Ordnung! Der Mensch war über diese Ordnungsgefüge eingebunden in ein großes Ganzes, das wiederum in sich harmonisch war und auch dem Menschen eine Stellung zu- schrieb in diesem Zusammenhang. Der Mensch war eingebunden in diese kosmische Ordnung und darin auch gehalten.

Mit der Entdeckung Galileis zerbrach diese kosmische Ordnung, sie zerfiel und hinterließ einen riesi- gen Scherbenhaufen. Die Kirche, die Galilei per Inquisition das Schweigen abnötigte, reagierte wie erstarrt auf diesen Schock. Sie weigerte sich die Fakten zur Kenntnis zu nehmen und auch Luther hielt Galilei für indiskutabel. Rene Descartes, der in etwa zur gleichen Zeit durch mathematische Berech- nungen zu dem gleichen Schluss gekommen war, behielt seine Erkenntnisse vorerst für sich und ver- öffentlichte sie nicht.

Aber die Zeit war reif für diese Erkenntnis und sie war nicht mehr aufzuhalten. Nur, durch die starre Haltung der Kirche fand der Aufbruch bzw. die Auflösung der kosmischen Ordnung, an der Kirche vorbei statt. Mit einem allmählichen Verschwinden brach die kosmische Ordnung und der Mensch stürzte ins Leere. Der Raum war unendlich groß, die Erde ein Planet unter Planeten, der durch den leeren Raum stürzte ohne ein Oben und ein Unten zu kennen. Berthold Brecht hat dieses Zerbrechen einer kosmischen Ordnung, die von den Kirchen verwaltet wurde, sehr gut herausgearbeitet in seinem Theaterstück „Das Leben des Galilei“.

Und da die Kirche sich weitgehend verweigerte, zog die Naturwissenschaft, die noch jung war, aus der Kirche aus. Nicht schlagartig und abrupt, aber langsam und stetig verselbständigte sich die junge Forschung. Als Darwin schließlich sein Hauptwerk über „Die Entstehung der Arten“ veröffentlichte, da war es in der anglikanischen Kirche wie eine Dolchstoß. Man war bis zu dieser Zeit davon ausge- gangen, daß Gott die Welt so, wie wir sie vorfinden, geschaffen habe. Die Kirche in England hatte der empirischen Wucht der Darwinschen Erkenntnis nichts entgegenzuhalten. Vincent Cronin („Die Säu- len des Himmels“) beschreibt diesen Prozess als einen sehr drastischen und einschneiden Vorgang in der abendländischen Geschichte. Darwin selbst bekam äußerste Mühe die Lehre der Kirche und seine empirischen Fakten unter einen Hut zu bekommen. Schließlich wandte er sich von der christlichen Lehre ab und wurde Agnostiker. Und so wie Darwin erging es vielen Intellektuellen und geistig wa- chen Menschen. Das Zerbrechen kosmischer Ordnungsgefüge ging also konsequent weiter.

Als im 18. und 19. Jahrhundert die Naturwissenschaft immense Fortschritte machte, zog sich die Kir- che immer mehr aus dieser Domäne zurück. Mehr noch, die Naturwissenschaften, die sich mit der materialistischen Philosophie verknüpfte, wurde als scharfe Waffe gegen das Christentum eingesetzt. Die Naturwissenschaft hebelte das kosmische Weltbild aus und erklärte kurzerhand, die Welt sei eine gigantische Maschine, deren Funktionen man noch nicht vollständig erkannt hätte, die aber bald schon komplett erforscht sein würde. Das Christentum geriet allmählich in eine weltanschauliche Defensive und hatte Mühe mitzuhalten. Die Naturwissenschaften gelangten immer mehr in die Rolle weltan- schaulicher Vorreiter. Nicht mehr die tradierte Lehre der Kirche war maßgebend, wenn es um die Frage nach der Natur und dem Kosmos ging bzw. um die integralen Zusammenhänge, sondern die Wissenschaft.

Und die wiederum, von ihren beträchtlichen Erfolgen im 19. Jahrhundert ganz eingenommen, war auch davon überzeugt, daß sie immer mehr erklären und beherrschen könne. Aber da sie, von Des- cartes herkommend, nicht an einer kosmischen Vision des Ganzen interessiert war, sondern an den Funktionen und der Beherrschbarkeit dieser Funktionen, konnte sie auch nur Zulieferer der Techno- kraten werden, die ihrerseits die Wissenschaft in funktionierende Technik umwandelten, nicht aber in eine kosmische Ordnung. Die Naturwissenschaft war und ist von ihrer Intention her nicht auf eine kosmische Ordnung bedacht, sondern auf die Erforschung des Faktischen. Das Universum, daß zur Maschine wird, ist zerlegbar, auseinander zunehmen und ohne letztes Geheimnis im Sinne der Religi- on.

Der Soziologe Max Weber prägte den Begriff der „Entzauberung der Welt“. Die Welt war nicht länger ein Mysterium sondern erforschbare und beherrschbare Realität. Das was Geheimnis hatte, verschwand aus der Welt und blieb auch weitgehend verschwunden bis heute. Die Kirchen, weder die katholische noch die evangelische Kirche, konnten eine integrierende Vision nicht erbringen um dem Menschen in dieser neuen Ordnung der Welt einen Platz zuzuweisen. Aus dem Kosmos wurde eine gigantische Maschine und aus dem Mysterium wurden lauter Banalitäten.

Damit war, in der knapper Skizze beschrieben, die kosmische Vision, das kosmische Ordnungsgefüge auseinandergehebelt worden. Dieses Gefüge der Ordnung hatte aber noch einen weiteren Drall bekommen, der erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts voll zur Entfaltung kommen sollte. Die Rede ist von der Verlagerung des Schwerpunktes der Wirklichkeit von der Welt der Dinge in das Subjekt des Menschen. Anhand der Reformation, die nur auf diesem Kulturgeschichtlichen Hintergrund zu erklären ist, möchte ich kurz skizzieren was ich meine.

Der Weg in die Subjekte

Der Theologe Paul Schütz kritisiert die reformatorische Erkenntnis dahingehend, daß nicht das Evangelium oder das Reich Gottes deren eigentliche Mitte sei, sonder das Subjekt des Glaubenden. Nach Luther ging alles um den rechten Glauben, der sich auszurichten hatte an der Schrift, an der Gnade und an sich selbst, also am Glauben („Sola fidei, Sola scriptura, Sola gratia“). Im lutherischen Katechismus geht es darum, daß das glaubende Subjekt auch das richtige glaubt. Und so wird die Frage danach, wie ich einen gnädigen Gott bekomme, zum Dreh- und Angelpunkt reformatorischer Erkenntnis. Nicht das Evangelium, nicht das Reich Gottes oder irgend eine externe Größe setzt sich durch, sondern der Glaube, den das Subjekt vom Geist empfängt.

Nach erheblichen Unruhen der Bauern, die auch angeregt durch den Kampf Luthers, zum Aufstand gegen die Fürsten riefen, hatte Luther größte Mühe sich nicht mit in diese politischen Wirren ziehen zu lassen. Er sagte sich öffentlich von den „Rotten der Bauern“ los und nach der blutigen Nieder- schlagung des Bauernaufstandes konstruierte er die „Zwei-Reiche-Lehre“. Die Lehre von den zwei Reichen besagt in Kurzform, daß sich die weltlichen Herrn um die politischen Belange zu kümmern haben, aber die Kirche um das Reich Gottes, daß eben kein dieser Welt ist, wie Jesus gegenüber Pila- tus geäußert hatte.

Damit zog sich, jedenfalls langfristig, die Kirche auch aus den politischen Fragestellungen zurück und es blieb nach dem Verlust von Politik und Natur nur noch die Seele übrig. Und als sich zum Ende des 19. Jahrhunderts der Arzt Sigmund Freud in die Domäne der Seele einmischte, da verlor die Kirche auch diese Ressource. Ihr bleib lediglich ein Heil, das keinen Landeplatz mehr fand in dieser Welt und ganz fromme Menschen reduzierten den Akt des Heils im Menschen noch einmal auf den Geist (so der Chinese Watchman Nee, „Der geistliche Christ“ Bd. 1).

Die flüchtige Skizze verdeutlicht das worum es geht; das Subjekt wird regelrecht herausgeschält aus seinen Zusammenhängen und wird solange seziert, bis es nackt und bloß als verlorenes Einzelwesen in einer Welt umherirrte, in der es sich, wie Martin Heidegger sagte, als „Geworfenes“ vorfindet. Die Lebenszusammenhänge, in denen das Subjekt so fest eingebunden war, daß es ihm lange Zeit nicht eingefallen wäre nach sich selbst zu fragen, verschwanden mehr und mehr und die Last die Welt in Zusammenhängen zu deuten, fiel dem Subjekt zu. Nicht mehr die Welt fand sich als gegeben vor, sondern das Subjekt hatte zu sagen und zu entscheiden, wie es die Welt sehen will. Die großen Vorgaben zerbrachen und lösten sich auf in lauter unzusammenhängende Teile.

Schritt für Schritt, aber darin durchaus konsequent verlor sich so etwas wie ein kosmischer Zusammenhang in den Subjekten, die nun ihre Zusammenhänge selbst herzustellen hatten. Der Historiker Theodore Roszak arbeitet in seinem Buch „Ökopsychologie“ sehr gut heraus, daß jede Psychologie oder Therapie eines kosmischen Zusammenhanges bedarf und auch immer in solchen Zusammenhängen verstanden worden sei. Das man seit der Psychoanalyse die Seele als isoliertes Einzelnes untersucht und zergliedert um Störungen als individuelle, innerpsychologischen Defekt zu handhaben, der unabhängig vom Rest der Welt, allein im Subjekt gelöst werden kann, daß ist neu. Das Subjekt befindet sich in keiner Zusammenhängen mehr, in denen es sich zu verstehen wüsste

Das Subjekt ist eine Art Mikrokosmos der keine zusammenhängen Größen mehr vorfindet und daher diese Zusammenhänge selber erzeugen muß. In allen Kulturen steht dieser Mikrokosmos des Subjekts in einem sinnvollen Kontext eines größeren kosmischen Gefüges, das immer auch religiös mitgeprägt ist oder ganz von der jeweiligen Religion dominiert wird. Diese Zusammenhänge sind im Abendland weitgehend aufgezehrt ohne das eine verbindliche kosmische Ordnung an die Stelle der alten Vorstellung getreten wäre, die weitgehend von christlichem Gedankengut dominiert war.

Der Mensch war, wenn man so will, aus einem weltanschaulichen geschlossenen Gehäuse ins Offene getreten und erlebte nun in der Folge dieser Entwicklungen die Welt als eine gigantische Baustelle. Nichts, so schien es, war in irgendeiner Weise fertig vorhanden, alles musste erst hergestellt werden.

Das ist auf der einen Seite ein Verlust und zugleich ein Gewinn der aber an das Risiko eines mögli- chen Scheiterns gebunden ist. Die alte kosmische Ordnung war zerbrochen, man wollte, zumindest von Seiten der linken Intellektuellen her, auch dieses Gehäuse, daß auf purem Idealismus aufbaute, auch nicht mehr zurückhaben. Im Gegenteil, daß Heil lag fern, in einer unbekannten Zukunft, wartete auf eine neue Ordnung von Welt und Natur, die man sich erst experimentell erschließen musste.

Um die Jahrhundertwende war dieses Bewusstsein, insbesondere unter Linksintellektuellen und unter künstlerischen Avantgardisten, sehr verbreitet. Die alte Ordnung, daß alte Gehäuse war zerschlagen und man wartete voller Hoffnung auf ein neues, eine neue kosmische Ordnung, die sich auf dem mar- xistischen Messianismus gründete. In der Lektüre von Rolf Wiggershaus über „Die Frankfurter Schu- le“, ist etwas zu spüren von dieser Bewegtheit, die an religiöse Motive heranreicht ohne sich explizit religiös zu nennen. Der Abbruch des alten Ordnungsgefüges wurde nicht mit Trauer, sonder eher mit Hoffnung zur Kenntnis genommen. Und diese Hoffnung, daß aus den Trümmern etwas Neues entste- he, trieb viele Intellektuelle und Künstler dazu diese alte Ordnung noch radikaler in Frage zu stellen, sie zu demontieren. Denn erst aus den Trümmern, erst hinter den Ruinen konnte die neue Ordnung sichtbar werden.

Diese Hoffnung bekam durch den Terror der Nazis und der Diktatur der sowjetischen Partei einen heftigen Dämpfer und so war es nach dem 2. Weltkrieg schwer so etwas wie eine Utopie, eine kühne Hoffnung auf ein neues weltanschauliches Gehäuse aufzustellen. Der materielle Aufschwung tat das seine und man begnügte sich damit, wenn man nur materiell gut versorgt war, es dann genug sein zu lassen.

Die Kriegsgeneration war äußerst ernüchtert was die Wirklichkeit und was die großen utopischen Weltentwürfe betraf. Erst die Kinder der Kriegsgeneration forderten diese Hoffnung auf etwas, daß über den eigenen Tellerrand materialistischer Versorgung hinausging. Die 68er Generation hoffte darauf, einen großen utopischen Entwurf landen zu können, leistete aber zugleich der Auflösung von tradierten Zusammenhängen Vorschub, indem sie die kleinbürgerlichen Werte der Kriegsgeneration als eine Art Vorgartenideologie anprangerte. Auf jeden Fall wurde sich diese Generation ihrer Hei- matlosigkeit bewußt und entdeckte das fehlende Gehäuse und die damit verbundene unbehauste Exis- tenz des Subjektes.

Von Heidegger ging der Impuls aus, das Leben als unbehaustes Existieren zu verstehen sei. Sah Marx die Entfremdung als Folge der kapitalistischen Entwicklung, so müssen wir rückblickend sagen, daß die Wurzeln geschichtlich tiefer liegen. Die Entfremdung des Subjektes von der Welt der Objekte war Ergebnis einer langen kulturellen Entwicklung. Die unbehauste Existenz der Subjekte, die sich fremd fühlten in ihrer Welt, war nicht Folge kapitalistischer Wirtschaftsorganisation, sondern Ausdruck des Verlustes von großen, übergreifenden, also kosmischen Sinnzusammenhängen.

Das Subjekt fand keine solchen Zusammenhängen mehr vor und wurde sogar als töricht abgetan, wenn es danach fragte. So jedenfalls der spätere Tenor des Existentialismus französischer Prägung. Das Leben ist zufällig und dadurch sinnlos! Welchen Sinn soll der Zufall auch schon hergeben, frag- ten konsequent Sarte und Camus. Die heroische Leistung, die sie dem Subjekt abverlangten war, daß es trotz der Absurdität dem Leben etwas wie Sinn abzuringen hatte. Für Camus ging dieser Heroismus soweit, daß er dem griechischen Anti-Helden Sisyphos zum Vorbild moderner Existenz erhob. Sisy- phos, der sich gegen die Götter erhoben hatte, musste zur Strafe einen großen Stein einen Berg hoch- rollen. Oben angekommen, rollte der Stein wieder runter und die Arbeit begann von vorn mit glei- chem Ergebnis und so weiter.

Das Problem der Religion in der Auflösung großer Zusammenhänge Wir sind also soweit säkularisiert und entmythologisiert, daß wir nicht unbedingt wissen oder spüren was religiöse Erfahrung eigentlich ist. Die ganze Frage nach der religiösen Erfahrung wird uns gar zum einzigen Fragezeichen und es passt in diese Landschaft wenn Karl Barth, einer der größten Theo- logen dieses Jahrhunderts und vor ihm Bonhoeffer, eine strikte Trennung von Christentum und Religion diagnostizieren konnten. Nach Barth ist das Christentum keine Religion, während Bonhoeffer aus pragmatisch-theologischen Gründen dafür einstand und sagte: Wir gehen einer vollkommen religionslosen Zeit entgegen und müssen uns daher theologisch umbesinnen

Der aufgewühlte Frage nach dem Wesen der Religion entspricht die Resonanzlosigkeit des Religiösen beim säkularisierten Menschen. Die unmittelbare Erfahrung von Religion ist uns fremd geworden, wir haben weder Bezug zu einer eigenen religiösen Tradition noch unmittelbaren Zugang von ihrem We- sen her. Wenn daher Menschen nach Religion fragen, finden sie vorerst nur eine mehr oder weniger große Verwirrung vor. Nichts desto trotz fragen Menschen vermehrt nach Religion und das mag viele Gründe haben.

Nach Aussage des erklärten Atheisten Günther Anders („Die Antiquiertheit des Menschen“) ist die Bedrohung durch die selbstgeschaffenen Vernichtungsmittel so groß, daß dieses Bedrohungspotential selbst schon eine Art negative Religion darstellt. Denn es geht um eine umfassende Vernichtung des Lebens und wo wir mit solchen letzten Fragen zu tun bekommen, so Anders, betreten wir den Boden der Religion.

Bevor wir allerdings die Situation des religiösen Marktes verstehen können, müssen wir noch einmal ausholen und skizzieren was Postmoderne meint. Ich verweise dazu auf mein Papier zur Bastelbiographie, in dem ich, unter Punkt 3, diese Frage schon einmal angerissen habe.

Die Diskussion um die Moderne und Postmoderne

Seit ca. 2 Jahrzehnten kursiert der Begriff der Postmoderne durch die Landschaft von Künstlern, Lite- raten und Philosophen. Die Postmoderne, so können wir vermuten, hebt da an, wo die Moderne mit ihrem Anspruch, daß Leben auf der Grundlage von Vernunft und einer neuen, vernünftigen Ordnung zu planen und klären. Aber diese Eindeutigkeit täuscht, wenn wir von der Postmoderne reden, wissen wir oft nicht was damit genau gemeint ist. Der Begriff ist so schillernd wie die Wirklichkeit die er beschreibt. Die Postmoderne, so könnte man sagen, ist die radikale Bejahung des Pluralismus und dem Verzicht auf jegliche übergreifende Welterklärung. Die Postmoderne macht ernst mit der Absage an jegliche übergreifende Ordnung. Die Subjekte müssen selber sehen wie sie klarkommen, bzw. sie haben auch die Freiheit selbst zu entscheiden was Sinn haben soll und was nicht.

Wir wollen aber versuchen näher zu bestimmen, was da gemeint ist und worin das Anliegen der Moderne zu sehen ist. Dazu Panajotis Kondylis:

„Bekanntlich wird der Terminus „Moderne“ in doppeltem Sinne verwendet. Einerseits bezeichnet er eine bestimmte Phase oder Richtung der Literatur- und Kunstgeschichte, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts anhob und in den ersten drei oder vier Jahrzehnten des 20. bei aller inneren Vielfalt festere Umrisse annahm; andererseits bedeutet er ebensoviel wie „Neuzeit“ oder „Aufklärung“, und zwar in ihrer Abgrenzung gegen das theologische Welt- und Menschenbild sowie in ihrem Anspruch auf autonome Gestaltung des menschlichen Zusammenlebens auf der Grundlage immanenter, aber nicht beliebiger Kriterien und Werte, die sich durch Vernunft ermitteln lassen. Eine entsprechend doppelte Bedeutung musste dem Begriff der „Postmoderne“ zuteil werden ...kurz darauf wurde als Postmoderne jene Epoche apostrophiert, die auf die Moderne im Sinne der Neuzeit bzw. der Aufklärung folge und in der Erkenntnis gründe, das Projekt der Moderne sei gescheitert und zur Vermeidung der Universalismen und Totalitarismen der Vernunft wäre am besten der - heute endlich gangbare, ja allein offene - Weg des freien Spiels der geistigen Kräfte und der vielen Macht- und Meinungszentren einer pluralistischen Gesellschaft einzuschlagen.“ (Panajotis Kondylis, „Der Niedergang der bürgerlichen Denk- und Lebensform“, S.9).

Die Moderne war zweifellos eine mehr oder weniger gezielte Demontage der bürgerlichen Werte. Aber es ging um mehr als um diese Demontage. Wie weiter oben bereits angerissen, ging es darum durch die Aufhebung der bürgerlichen Denk- und Lebensformen eine neue Wirklichkeit zu konstruie- ren, die radikaler als bis dorthin auf der Vernunft basierte. Die Vernunft des Menschen, so glaubte man, wenn auch gewiss nicht so explizit, werde schließlich eine Konstante evolutionärer Entwick- lung. Bisher kann man nicht unbedingt behaupten die Evolution habe sich vernünftig verhalten, aber es lag eine stille Hoffnung im Aufbruch der Moderne, etwas neuen schaffen zu können, eine neue Kultur, die eben nicht mehr auf der Vernunft denn auf fragwürdigen Traditionen gründen sollte.

Das Aufkommen der Psychoanalyse war die eine Kränkung dieser Hoffnung. Sagte doch Freud, daß der Mensch nicht Herr im eigenen Haus sein könne, da er gänzlich unvernünftigen Triebimpulsen ausgesetzt sei. Aber die Kränkung wurde rasch kompensiert, da man in der Psychoanalyse auch das Heilmittel zu entdecken glaubte, mit dem man dem Feind, also dem Es und seinen Trieben, entgegen- wirken könne.

Die Frankfurter Schule, die sich in den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts zusammenfand, nämlich als Mitarbeiter am Frankfurter Institut für Sozialforschung, baute gerade auf der Verknüpfung von Sozio- logie, politischer Kritik und Psychoanalyse ihre, zum Teil sehr scharfsichtige Kritik an der kapitalisti- schen Wirtschaft und deren Kultureinfluss auf. Am 22. Juni 1924 wurde das Institut eröffnet und es sollte gerade in der Nachkriegszeit für Unruhe sorgen. Vorerst aber war man der Meinung, es ließe sich mit den Mitteln der Vernunft eine bessere Gesellschaft bauen. Das war nicht nur das Anliegen der Frankfurter Schule, sondern auch der Moderne insgesamt als deren Ausdruck die Frankfurter Schule in der Gründerzeit verstanden werden kann. Später machte sich auch hier Zweifel breit an einem solchen Projekt.

Die Surrealisten gingen sogar soweit, mit dem Unbewussten zu spielen, in der Hoffnung dort auf et- was Ursprüngliches zu treffen, daß nicht durch kulturelle Entwicklung oder Verformung geprägt war. In den Bildern vieler Surrealisten fühlt man sich an Träume erinnert, in denen es ähnliche Landschaf- ten gibt. Dahinter aber stand die Hoffnung auf etwas Wesentliches, dem Menschen von seinem Ur- sprung her Anhaftendes zu finden. Die Kunst griff hier, wie es Kunst von ihrem Wesen her auch muß, in den Fragekreis der Religion ein. Und zwar im Sinne einer Rückfrage was der Mensch vor seiner kulturellen Formung sei. Natürlich kann man diese Frage nur behandeln, wenn man spürt, daß wir diesem Ursprung entfremdet sind. Sei es durch Kultur, durch Ideologien oder andere Kräfte, die den Menschen beeinflussen.

Seit ca. 2. Jahrzehnten geistert also nun der Begriff der Postmoderne durch die Landschaft und sorgt für entsprechende Auseinandersetzungen. Postmoderne demontiert die Demontage! Die Postmoderne geht daran sowohl die Utopie der Vernunft in ihre Schranken zu weisen, als auch die Demontage der Wirklichkeit ihrerseits zu demontieren. Was dabei herauskommt, ist eine Mischung zwischen Ernüchterung und Vollrausch, eine seltsame, radikale Pluralisierung von Lebensgefügen in eine kaum mehr absehbare Vielfalt von Möglichkeiten hinein. Nahm die Moderne die Pluralisierung von Lebensformen als Folgeerscheinung hin, so spielt die Postmoderne mit der Vielfalt und betrachtet sie als Chance in der es aber auch leichter zum Absturz ins Ungewisse kommen kann.

Heiner Keupp, Sozialpsychologe an der Universität München, beschreibt seine Erfahrung mit der Postmoderne folgendermaßen:

„Meine Beschäftigung mit postmoderner Kritik erfolgte weniger aus Neigung denn eher aus der Ein- sicht in die Notwendigkeit. Die allseits beschworene und erlebte Krise der Moderne will begriffen werden, und am radikalsten wird diese Moderne aus dem Lager der postmodernen Kritik durchleuch- tet. Meine Neigungen ziehen mich noch immer eher dorthin, wo ich die Chance wittere, etwas darüber herauszufinden, „was die Welt im Innersten zusammenhält“; gleichzeitig sind mir aber die Kosten eines solchen fundamentalistischen Erklärungswunsches zunehmend bewußt geworden. Also begebe ich mich auf den Weg, Diskontinuitäten, Differenzen, Ambivalenzen, Brüche und Verunsicherungen und ihre Potentiale zu erkunden. Selbst wenn sich meine Sehnsüchte noch immer am Einheits- und Ganzheitsdenken festhaken, ist mir bewußt, daß es diesen Weg nicht mehr gibt. Ich will mit diesem Einstiegsbekenntnis deutlich machen, daß für mich das Vertrautwerden mit dem Ideengebäude, das als „Postmoderne“ zusammengefasst wird, zu keiner spontanen Begeisterung geführt hat. Es hat mich mit ihm kein gedankliches Angebot erreicht, das von meinem Lebensgefühl als Aha-Erlebnis beantwortet worden wäre. Ich habe erst einmal weit von mir gewiesen. Es schien mir modischer Schnickschnack, dem ich keine theoretische Ernsthaftigkeit zubilligen wollte. Manches, was unter dem Etikett „postmodern“ daher kommt, kann ich auch heute noch nicht ernst nehmen.

Wenn ich heute mit Kopfnicken und innerer Zustimmung Texte sich postmodern nennender Autoren lese, dann läuft bei mir gleichzeitig ein Erinnerungsfilm mit, in dem meine Skepsis und Ablehnung festgehalten sind, die gar nicht so weit zurückliegen und die bis heute als Widerhaken in meinem Den- ken vorhanden sind. So lese ich in einem gerade erschienenen Text von Wolfgang Welsch: “Wenn die Postmoderne sich gravierend von der Moderne unterscheidet, dann eben dadurch daß sie die Plurali- tät nicht bloß zähneknirschend als ungeliebte, aber unumgängliche Realität hinnimmt, sondern aus Überzeugung zustimmt. Es gilt sich von den alten Obsessionen zu lösen, sie als gefährliche Phantas- men zu durchschauen. Der Einheits- und Ganzheitsdruck, der abendländisches Denken durchzieht, ist eminent; in deutschen Gemütern ist er besonders stark.“ (1990, S.196). Ich kann zustimmend lesen und gleichzeitig nicht vergessen, daß ich das Hochfeiern von Pluralismus immer als liberalistischen Opportunismus empfunden habe, der immer das gerade gut findet, was der Markt angenommen hat und Rendite abwirft. Ist da nicht auch „was dran“? Trotzdem bleibt ein Sachverhalt, an dem wir ein- fach nicht vorbei können: Die gesellschaftlichen Lebensformen sprengen alle traditionellen Formati- onen, und diese „einschneidende Pluralisierung der Gesellschaft betrifft seit langem und betrifft heu- te allgemein auch die Individuen. Identität ist immer weniger monolithisch, sondern nur noch plural möglich. Leben unter heutigen Bedingungen ist Leben im Plural, will sagen: Leben im Übergang zwischen unterschiedlichen Lebensformen“ (ebd., S.171). Und ich will mich damit im weiteren be- schäftigen.“ (Heiner Keupp, „Grundzüge einer reflexiven Sozialpsychologie“ in Heiner Keupp, Hrsg. „Zugänge zum Subjekt“, S.228ff).

Es ist also nicht mehr in unserem Belieben ob wir uns der Postmoderne stellen wollen oder nicht, wir befinden uns immer schon inmitten ihres Kontinuums. Der polnische Philosoph Zygmunt Baumann sieht in der Postmoderne das „Ende der Eindeutigkeit“. Es wird nicht mehr möglich sein eine Wirk- lichkeit aus „einem Guss“ zu präsentieren sondern nur noch Verschiedenheiten, die miteinander kom- binierbar sind. Damit, so Baumann, ist auch ein „Leben aus einem Guss“ nicht mehr möglich. Nur die Vielheit in loser Vernetzung bietet sich als künftiger Gestaltungsraum an. Das hat aber erhebliche Tücken, denn die sozialen Gefüge verändern sich mit bis in die innere Struktur von Institutionen hin- ein, wie ich kürzlich in einem Fachreferat über die Veränderung der stationären Psychiatrie hörte.

Religion, und darum soll es uns hier gehen, war schon immer in kulturelle Kontexte eingebunden und hat im wesentlichen diese Kontexte mitgeprägt. Das kulturelle Kontexte aus „einem Guss“ sein konnten, war mit das Verdienst von Religion. Religion, so möchte ich einmal sagen, ohne deshalb viel von Religionswissenschaften zu verstehen, ist das Kernstück kultureller Identität gewesen (und ist es in vielen Kulturen noch) bis zur Säkularisierung und Entmythologisierung der Neuzeit. Lassen wir folgenden Text von Axel Honneth einmal unter diesem Aspekt auf uns wirken.

„c) Schließlich geht mit der Auflösung des ästhetischen und des normativen Interaktionsmediums der sozialen Lebenswelt auch eine Schwächung der Kommunikationsfähigkeit der Subjekte selbst einher. Zum einen lässt nämlich der Verlust der kulturellen Bindungskräfte, die bislang die Identitäten der sozialen Gruppen expressiv und normativ aufrechterhalten hatten, die Subjekte einander zu atomi- sierten Einzelnen werden; darüber hinaus aber ist mit de biographischen Bedeutungsschwund der industriellen Arbeit auch die Auflösung jenes traditionellen Pfades der individuellen Selbstverwirkli- chung verknüpft, auf dem die Individuen sich im Zuge ihres Arbeitsengagements zugleich auch als produktive Kooperationspartner in einem gesellschaftlich nützlichen Aufgabenfeld wahrzunehmen und wertzuschätzen lernten. Beide Tendenzen zusammengenommen führen zu einem Zustand wach- sender Orientierungslosigkeit, ja Fragmentierung des einzelnen Subjekts; aus den kommunikativen Bindungen traditionsgeschützter Lebensstile herausgelöst, sieht Baudrillard daher heute das verein- zelte, innerlich verflachte Subjekt dem Einfluss der elektronisch fabrizierten Medienwirklichkeit so stark ausgesetzt, daß es allmählich die kognitive Fähigkeit zur Unterscheidung von Realität und Fik- tion zu verlieren beginnt: innerhalb der sozialen Lebenswelt findet ein Prozess der Fiktionalisierung von Wirklichkeit statt, der das atomisierte Individuum zu einem Imitator medial vorgefertigter Exis- tenzstile werden lässt und dementsprechend im großen zu einer artifiziellen Pluralisierung ästhetisch geprägter Lebenswelten führt. Weil der Einzelne den kommunikativen Rückhalt einer gemeinsam ge- teilten kulturellen und narrativen Praxis verloren hat, unterliegt er der Übermacht jener sekundären Bilderflut, die ihn ununterbrochen zur Simulierung fremder Lebensstile anhält; insofern tritt heute an die Stelle innerlich motivierter Selbstverwirklichungsweisen zunehmend das Muster einer medial erzeugten, ästhetisch organisierten Biographie( ).

Die Folge des beschleunigten Zerfalls sozialer Bindungskräfte ist eine Tendenz der motivationalen Entleerung von Subjektivität, in der die elektronische Medienwelt dann mit ihren Simulationsangebo- ten kompensatorisch eingreifen kann. Das Spezifische der postmodernen Sozialtheorien ergibt sich nun überhaupt erst daraus, daß sie dem zeitdiagnostischen Zusammenhang von kultureller Erosion und individuellem Authentizitätsverlust eine Deutung zu geben versuchen, die ihm jeden negativen oder problematischen Charakter nimmt.“(Axel Honeth, zitiert nach Keupp, a.a.o. S.238ff).

Es soll uns nicht weiter um die psychosozialen Folgeerscheinungen gehen, die Honeth hier anspricht, sondern wir wollen zur Kenntnis nehmen, daß sich der Bedeutungsgehalt von Religion nicht durchhalten lässt, wenn sich alles andere rings umher völlig verändert.

Das bringt uns zu der Frage, als was wir Religion verstehen wollen. Ich bin kein Religionswissen- schaftler aber ich wage dennoch eine Definition von Religion. In der bisherigen Form war Religion der Rahmen, der die Individuen bis in die kosmischen Belange hinein umgab, der von den letzten Dingen bis zur Alltagsorientierung eine äußerste Koordination erlaubte. Das ganz Große und das ganz Kleine hatten ihre inneren und äußeren Koordinaten im Gefüge von Religion und die wiederum kam immer als Kulturgut vor. So hatte jede Kultur ihre jeweilige Religion oder Ausprägung von Religion innerhalb ihres kulturellen Gefüges. Wir können also sagen: Religion war immer eingewurzelt in kul- turelle Kontexte, eingebunden in Koordinatensysteme, deren Erzeuger und Erhalter sie selbst war. Selbst da, wo Religion missionarisch wurde, wie z.B. im Christentum oder im Islam, wurzelten sie sich in das jeweilige kulturelle Gefüge ein, in das hinein sie sich ausbreiteten bzw. veränderten Kultur durch ihre Vorgaben. Es hat sich in der Geschichte des Christentums als äußerst problematisch erwie- sen wenn mit der Religion auch eine Kultur mitgeliefert werden soll.

Wie aber sieht die Religion in Anbetracht der Postmoderne aus? Der Theologe Paul Tillich, der eine Theologie der Krise begründete und durch seinen gleichzeitigen Abschluss in der Soziologie auch begründen konnte, sprach von der Religion in der griffigen Formel: Religion ist das, was uns unbe- dingt angeht. Damit begründete Tillich schon die Stoßrichtung einer Definition von Religion, die sich nicht mehr selbstverständlich und voraussetzungslos in einem kulturellen Kontext befindet. Weder das Christentum noch irgendeine andere Religion befinden sich überhaupt noch im Kontext unserer Kultur, die sich in ihrer kontextuellen Gestalt auflöst bzw. in einem rasante Wandel befindet. Es wird schwieriger für Religion sich in Kontexten zu bewegen da kein Kontext mehr fraglos da ist.

Es ist daher nicht verwunderlich, daß wir uns der Religion nähern wie Kinder einem Baukasten, wo erst einmal nur probiert werden muß was wohin passt oder auch nicht. Durch die Auflösung eigener Einbindung in tradierte Bezüge, kommt prinzipiell alles in Frage was nur irgendwie nach Religion riecht. Das wir dabei einem flankierenden Markt begegnen, der Religionsversatzstücke aus verschie- denen Kulturen zusammenfügt, ist nur konsequent. Wenn das ganze Leben uns als Bastelprojekt be- gegnet, wie kann Religion dann eine Ausnahme machen?! Religion ist ein Stück Kultur auch wenn Kultur sich in der Auflösung befindet, dann löst sie sich samt ihren Bedeutungsgehalten mit auf...!

Wir kommen daher auf den religiösen Supermarkt zu sprechen:

Der religiöse Supermarkt

Als in der 80er Jahren die New Age Bewegung in der Breite der Öffentlichkeit die Bühne betrat, da hatte sie eine große Utopie anzubieten. Das Zeitalter der Fische laufe aus und das Zeitalter des Was- sermannes beginnt. Das Musical „Hair“ aus den 60er Jahren, hatte schon den Auftakt gegeben: Licht, Harmonie, Wahrheit, Religion ohne dogmatische Engführung Dabei war die ganze Sache vorerst nur unter einem vergleichsweise kleinen Kreis von Interessierten verhandelt worden. In der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts galt z.B. der Buddhismus als exotisch und nur für einen kleinen Kreis von Interesse. In den 70er und 80er Jahren begann ein sprunghafter Anstieg des Interesses und in der Me- ditationsbewegung bzw. der Nachfrage nach Meditation bekam die ganze Sache einen breiten öffent- lichen Resonanzboden.

In den 70er Jahren hatte bereits die Buchhandlung Hugendubel in München eine ganze Etage der Lite- raturklasse: Meditation, Esoterik, Geheimwissenschaften usw. eingerichtet. Also gab es eine entspre- chende Nachfrage auf dem Markt. Ingrid Riedel gab 1976 das Buch „Der unverbrauchte Gott - Neue der Wege der Religiosität“ heraus, in dem verschiedene Autoren sich einen Überblick zu verschaffen suchten über das neu erwachte Interesse an Religion, vor allem an Religion östlicher Prägung. Namen wie Karlfried Graf Dürckheim hatten eine bewegten Klang. Dürckheim war bemüht buddhistische Meditation mit westlicher Kultur zu verknüpfen, was ihm auch, bei aller angebrachten Kritik, in einer guten Weise gelungen ist (vergl. Manfred Bergler, „Die Anthropologie des Grafen Karlfried von Dürckheim im Rahmen der Rezeptionsgeschichte des Zen-Buddhismus in Deutschland“ unveröffent- lichte Dissertationsarbeit).

Überall erwachte das Interesse für östliche Religion und entsprechend tat sich ein Markt auf der die Suchenden mit entsprechenden Angeboten bediente. Anfang der 80er Jahre, die Bewegung um Baghwan Shree Rashnesch schlug hohe Wellen, besuchte ich mit einem Freund zusammen eine Teestube der Baghwanjünger in Köln. Wir hatten dort Gelegenheit mit einem Mann über das Für und Wider von östlicher Meditation zu reden. Während des Gesprächs bemerkte ich aber bald, daß der Mann kaum einen Kulturbegriff hatte. Meine Argumentation ging dahin, die östliche Meditation bzw. deren Übernahme in westliche Kulturzusammenhänge als Unding zu verstehen. Ich konnte mich dabei auf C.G. Jung berufen, der als Asienkenner noch behauptete, es sei geradezu lächerlich wenn ein Europäer glaube er könne Yoga betreiben, daß sei unmöglich.

Der Yoga, so Jungs Argumentation, ist viel zu tief mit der asiatischen Kultur verknüpft, er hat das Bewusstsein der Asiaten tief geprägt bzw. ist Ausdruck ihrer Bewusstseinsstruktur, so daß es für einen Europäer, der eine ganz andere Bewusstseinsstruktur hat, nicht möglich ist Yoga zu betreiben. Was für uns Europäer dabei rauskommt ist eine verwestlichte Form die mit dem Yoga nicht mehr viel zu tun hat, wie er in Indien praktiziert wird.

Mein Gesprächspartner reagierte auf diese Argumentation mit völligem Unverständnis und konnte den Begriff der Kultur in Verbindung mit Religion nicht zuordnen bzw. wollte es möglicherweise gar nicht erst. Die Wirkungen der Meditation sprachen für sich, was bedurfte es da der Theorie oder gar einer kulturkritischen Anfrage von irgendeiner Seite. Mir war das damals verständlich, denn ich hatte ähnliche Versuche hinter mir und zugleich machte es mich zornig, weil jede Form argumentativer Vernunft scheitern musste an der Überzeugung dieser Menschen, die eben nicht erst so weit gehen mussten sich eine kulturelle Rechtfertigung zurechtzulegen.

1982 kam von Marilyn Ferguson „Die sanfte Verschwörung“ auf den Büchermarkt, faszinierend zu lesen, mit einem guten Schuss Utopie versehen und voller Optimismus verkündigte sie die bevorste- hende „Persönlich und Gesellschaftliche Transformation im Zeitalter der Wassermanns“. Zu dieser Zeit war die New Age Bewegung noch weitgehend von dieser Utopie getragen. Auch kritische Stim- men kamen nicht umhin die kulturkritischen Aspekte der Vordenker zu respektieren. Der Weg ins neue Zeitalter schien getragen von einer Verabschiedung aus dem Paradigma des wissenschaftlich- technischen Denkens und dessen Vorgaben, die seit Descartes kulturbeherrschend sind.

Diese Utopie, die verknüpft wurde mit manschen Neuerungen und Umdenkprozessen in den Natur- wissenschaften, zog an. Sie hatte durchaus etwas faszinierendes, nicht zuletzt weil sie einen Nerv traf. Die Kritik an der kartesianischen Trennung von Geist und Materie war zeitgeschichtlich dran und nicht nur in den Kreisen der New Age Utopien diskutiert. Die Aussicht auf einen neuen Anfang war verlockend und fand eine erstaunlich breite öffentliche Resonanz. In den Buchhandlungen wurden Regalecken eingerichtet zum Thema, die Einrichtungen der Erwachsenenbildung machten Angebote in Meditation, Yoga, alternativen Heilmethoden, Tai Chi usw. Wer heute das Programm einer x- beliebigen Bildungseinrichtung aufschlägt, wird sich mit Angeboten in Bachblüten-Therapie, Aroma- therapie, Tai Chi, Bauchtanz, Derwisch-Tänze, Yoga usw. selbst einen Reim machen müssen.

Und, da die Religion keinen kulturellen Zusammenhang mehr besitzt, wird sie in die Zusammenhänge des Marktes integriert. Religion wird zur weltanschaulichen Ware, mit der man auch noch gutes Geld verdienen kann wie die Zeitschrift „Materialdienst“ in ihrer Ausgabe vom Januar diesen Jahres zeigte. Da werden für viel Geld Ausflüge an die Kultstätten de Germanen angeboten oder auf Lanzerote in einer Pyramide („Etora-Zentrum“) in Luxusappartements in esoterische Lebensgeheimnisse einge- führt. Eduard Gugenberger, der Verfasser des Artikels spricht vom Ausverkauf im New Age Super- markt. („Mystic Journeys“: Spiritueller Ausverkauf im New Age-Supermarkt“, in „Materialdienst“ 1/95, S.11ff).

Die Utopie, so scheint es, ist verflogen und geblieben ist der Markt verschiedenster kultureller und religiöser Versatzstücke. So kann man sich relativ mühelos in einem Wochenend-Schnellkurs in die Geheimnisse des Schamanentums einweisen lassen. Man nimmt an indianischen Ritualen teil, emp- findet die rituelle Reinigung der Schwitzhütten der Hopi-Indianer nach, tanzt wie eine islamischer Derwisch oder meditiert einer erwarteten Erleuchtung entgegen. Wer es etwas exklusiver will, der kann nach Lanzerote in eine eigens dafür gebaute Pyramide gehen um sich dort in luxuriöser Umge- bung in diverse esoterische Spielarten einweisen zu lassen. Die Kosten für die Teilnahme an den lau- fenden Veranstaltungen zahlt man selbstverständlich extra. Aber auch eine Nacht im Freien an einem alten germanischen Kultplatz ist geboten. Gebucht wird im Paket: Busfahrt, Unterkunft, Unterwei- sung, Verpflegung usw. alles ist genau geplant und konstruiert und alles gibt es gegen entsprechende Bezahlung. Nicht zuletzt die Frage nach dem Geld hat bisher die New Age Angebote zu einem Markt für Mittel- und Oberschichtangehörige gemacht. Die Firma „Mystic-Journeys“ bietet bundesweit sol- che Reisen an und verdient nicht schlecht dabei, denn die Preise lassen sich durchaus sehen.

In seinem lesenswerten Buch („New Age & Co - Einkauf im spirituellen Supermarkt“) beschreibt der Journalist Lukas Lessing seine Odyssee durch die Angebotspalette des religiösen Supermarktes. Les- sing hat verschiedene Angebote ausprobiert und in journalistischer Manier verarbeitet. Auch wenn eine weitgehende Analyse der Situation fehlt, kann man doch davon ausgehen, daß seine Erlebnisse typisch sind. Vom Freizeitschamanen bis zu Managementtrainings wird alles durchprobiert.

Lessing bestätigt dabei mit seinen Erlebnissen das, was der Soziologe Ulrich Beck in einem Interview mit der Zeitschrift „Psychologie Heute“ äußerte. Beck meint nämlich, daß zwar viel über Natur und Ökologie geredet werde, daß aber der Naturbegriff vollkommen leer sei („Psychologie Heute“ 10/94). Wir haben keinen wirklichen Zugang zur Natur bzw. zu dem was sich außerhalb unserer Lebenswelten vollzieht. Und so kommt es zu komödiantischen Szenen wie folgender:

„Karin, Gerhard, Heidi, Hanni, Fredl und Lukas, also ich,. alle um die dreißig Jahre alt, fast alle aus Wien, wollen die Grundlagen der indianisch-schamanistischen Denkstruktur kennenlernen. Sie wollen lernen, einen alchimistisch korrekten Zeremonialrahmen zu schaffen, sie wollen die befreiende Kraft ganzheitlichen Denkens genießen und sich auf einer Trommelreise einen Tierverbündeten zulegen

Abends reist die Gruppe liegenderweise in die Welt der Tiere, jeder sucht sich eines als Verbündeten. Günther (der Gruppenleiter P.M.) hat freilich schon längst eines für sich gefunden, einen praktischen Aasgeier, den er immer wieder gut gebrauchen kann - zum Beispiel dann, wenn er mit seinem japani- schen Kleinwagen wieder einmal in einem Stau steht: “Dann gehe ich in meine Aasgeierhaftigkeit hinein und bewahre absolute Ruhe. Aber wenn die nächste Abzweigung nach rechts frei ist, zack, schon stoße ich hinein und komme auch gut voran“, sagt der eher sperlingshaft wirkende Günther. „Richtige Schamanen shapeshiften freilich in solchen Momenten, das heißt, sie gehen wirklich in die Form ihres Tieres.“ Was nicht automatisch heißen muß, daß richtige Schamanen ihre Zeit in japanischen Kleinwagen in ordinären Autobahnstaus verbringen

Der Action-Höhepunkt des Seminars sind der Bau und die anschließende zeremonielle Benutzung der Schwitzhütte. Halt, auch der Bau läuft schon nach zeremoniellen Gesichtspunkten ab: Niemand soll einfach irgendeinen der in dieser Gegend zahlreich herumliegenden Steine wegschleppen, keiner einen der zahlreichen Bäumchen, Sträucher oder Äste ausreißen. Günther schlägt einen passenden Dialog vor: „Hey Stein, möchtest du mitkommen, wir wollen eine Schwitzhütte bauen, um ausbalan- cierte Menschen zu werden?!“ Dann werde man auch fühlen, wie sich der Stein fühle, ob er Lust ha- be, gerade jetzt mitzukommen, oder ob er nicht doch lieber ein paar Jährchen am Waldrand liegen bleiben wolle. „Seid`s Indianer“, sagt Günther, „Bewegt euch vorsichtig in der Natur. Hinterlasst keine Spuren. Und bedankt euch immer bei ihr, wenn ihr was wegnehmt. Lasst für jeden Stein als Dankeschön ein paar Krümel Tabak dort.“

Mit de Steinen klappt das ganz gut, die meisten lassen sich widerspruchslos in Heidis VW-Bus hieven, mit dem sie dann ganz komfortabel quer über die Wiese bis hinunter zum Schwitzhüttenplatz am Bach gebracht werden. Das hinterlässt zwar Spuren in der Wiese, aber es war auch eher von der Vermeidung menschlicher Spuren die Rede, nicht von Busspuren “ Lukas Lessing, New Age & Co - Einkauf im spirituellen Supermarkt“ S. 193ff)

Der Markt der weltanschaulichen Angebote ist unübersehbar groß, und nicht immer ist es ungefähr- lich sich auf diverse Therapien oder Exkursionen nach Innen einzulassen. Mitunter, das belegen etli- che Untersuchungen, führt der Wochenendausflug ins Unbewusste auch in die Psychose oder eine andere längerfristige Störung statt zur Quelle der Kraft. In der unübersichtlichen Landschaft des New Age hat sich ein völlig autonomer Therapiemarkt entwickelt, der mit großen Versprechen und unzu- länglich ausgebildeten „Therapeuten“ nicht nur viel Geld verdient sondern auch manche latente psy- chische Krankheit zum Ausbruch bringen kann ohne das sich auch jemand finden würde, der solche Dynamiken der Psyche aufzufangen wüsste. Nicht selten werden Menschen allein gelassen mit den Folgeerscheinungen.

Der Berufsverband der Psychologen in Deutschland warnt daher vor solchen Angeboten und fordert zur Prüfung auf. Aber wer ist dazu schon in der Lage, zumal ohne Orientierung? Das Projekt Bastelre- ligion ist ein Ausdruck unserer kulturellen und psychischen Grundvoraussetzungen und daher nur konsequent.

„Jeder versucht auf seine Weise, seine alltagsweltlich und biographisch vielfach gebrochene, zer- schnittene Identität „unter einen Hut“ zu bekommen. Kriegsfolgen in den Familien, Entväterlichung vieler Familien in verschiedenen Varianten, Entwurzelung, Migration und Reassimilation haben im Verlauf der letzten 50 Jahre ein Übriges dazu beigetragen, daß - trotz ökonomisch und strukturell ähnlicher Grundbedingungen - eine verstehende Psychologie die Bewältigungsmuster und Lebens- entwürfe der konkreten Individuen jedes Mal neu zu erkunden hat. Sie sind objektiv entstandardisiert. Psychotechniken sind heutzutage nützlich und eine Verständigungshilfe, wenn sie sich auf die konkre- te Vermittlung von Lebensgeschichte und Gesellschaftsgeschichte einlassen. Im raschen Bezug auf die spirituellen Dimensionen werden beide Seiten nicht ernst genommen und kommen nicht zueinander. Es erfolgt eine scheinhafte Gemeinschaftsbildung (...) Das New Age Bewusstsein trägt der modernen „Patchwork-Identität“ in gewisser Weise Rechnung. Jeder kann sich aus der großen sinngebenden Gemischtwarenhandlung seine Privatreligion, so wie es zu seiner derzeitigen Identitätsfacetten und persönlichen Bewältigungsmustern passt, in einem Do-it-yourself-Verfahren zurechtbasteln. Es sieht so aus, als ob, wie schon zu den Zeiten der protestantischen Ethik, auch die neuen Wirtschafts- und Karierre-Individuen eine Motivation brauchen, die sich nicht auf das schnöde Geld-Machen bezieht. Ein höherer Sinn wird gesucht, und schon gibt es Leute, die erklären, daß spiritueller Fortschritt auch am wirtschaftlichen Erfolg zu erkennen ist. Jedenfalls ist beides gut vereinbar. Härte und Indi- viduation im Alltagsdschungel, Meditation, Erleuchtung und kosmische Symbiose in der Freizeit, in der verlängerten Mittagspause oder in Spezialseminaren für das gehobene Personal.“ (Klaus Ottomeyer, in Keupp, a.a.o. S.265ff).

Der religiöse Markt bzw. die Religion, die Weltanschauung als Ware macht es uns schwer überhaupt einen Zugang zu finden zum Wesen von Religion. Aber der Markt ist auch Ausdruck unserer Befind- lichkeit, es gäbe ihn nicht, wäre nicht ein Bedarf da. Und so gibt es, so widersinnig das klingt, die Religion als Kaufobjekt, als Bastelset oder auch als Wochenendtrip. Diese Form von Bastelreligion ist aber, wenn sie außer dem Namen irgend etwas mit Religion zu hat, nur eine Verlustmeldung des Reli- giösen. Uns an Beck anhängend können wir sagen: Der Religionsbegriff (in dieser Szene) ist leer, vollkommen leer.

Peter Münch

Ende der Leseprobe aus 13 Seiten

Details

Titel
Postmoderne und Religion Teil 1
Autor
Jahr
2000
Seiten
13
Katalognummer
V99413
ISBN (eBook)
9783638978576
Dateigröße
388 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Postmoderne, Religion, Soziologie
Arbeit zitieren
Peter Münch (Autor:in), 2000, Postmoderne und Religion Teil 1, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/99413

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