Die sowjetische Osteuropapolitik. Moskaus Abwehr von der Breschnew-Doktrin


Hausarbeit (Hauptseminar), 2018

21 Seiten, Note: 2,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung

2 Schicksalsjahr 1968 – Die Breschnew-Doktrin und der Prager Frühling

3 Glasnost und Perestroika: Jahre der Transformation

4 Auswirkungen des „Neuen Denkens“ in der Außenpolitik am Beispiel Polen

5 Gorbatschows Rolle beim Umbruch in Osteuropa – ein Fazit

6 Bibliografie

1 Einleitung

In der folgenden Einleitung werden die thematischen Schwerpunkte, mit denen sich die Arbeit auseinandersetzt, genannt und begründet. Darüber hinaus werden Fragestellungen aufgeworfen und der Aufbau der Arbeit skizziert, sowie der Forschungsstand erläutert.

Am 11. März 1985 wurde Michail Sergejewitsch Gorbatschow durch ein außerordentliches Plenum des Zentralkomitees der KPdSU zum neuen Generalsekretär gewählt. Nur einen Tag zuvor verstarb sein schwerkranker Vorgänger Konstantin Tschernenko. Mit seinen 54 Jahren deutlich jünger als die übrigen Mitglieder des Politbüros, erfreute sich Gorbatschow bei seinem Amtsantritt bester Gesundheit. Aufgrund dieser und weiterer Tatsachen verband man mit dem im Nordkaukasus geborenen Politiker die Hoffnung auf Reformen, was für die innere und äußere Darstellung der Partei nur förderlich sein konnte. Darüber hinaus gab es keine Gründe an seinen politischen Ansichten und an seiner Ergebenheit gegenüber der Partei und der Sache des Marxismus-Leninismus zu zweifeln, da er ihr schließlich seine politische Karriere zu verdanken hatte.1 In seiner Antrittsrede nach der Wahl zum Parteichef kündigte Gorbatschow an, den Kurs seiner Vorgänger fortzusetzen, was Kontinuität und Wandel zugleich versprach.2

Wie genau dieser Kurs aussehen sollte und wodurch sich die Politik Moskaus während der Amtszeit des letzten Generalsekretärs der KPdSU auszeichnete, ist einer der Hauptbestandteile der vorliegenden Abhandlung. Besonderes Augenmerk liegt dabei auf die sowjetische Osteuropa-Politik. Wie genau der Systemwandel in der Sowjetunion in den Jahren von Perestroika und Glasnost ausgesehen hat, wird hierbei anhand der Abkehr der von Leonid Breschnew verkündeten Breschnew-Doktrin skizziert. Dazu wird im zweiten Gliederungspunkt der Arbeit zunächst erläutert, was die besagte Doktrin beinhaltete und welche Auswirkungen diese auf das Verhältnis der Sowjetunion zu den anderen Staaten des Ostblocks hatte. Dazu werden die Ereignisse des Prager Frühlings 1968 näher untersucht. Anschließend werden die entscheidenden Phasen der Osteuropapolitik zwischen 1985 und 1989 bis hin zur Verkündung der Sinatra-Doktrin analysiert. Danach wird anhand des konkreten Beispiels Polen untersucht, welche praktischen Auswirkungen das Ende der Breschnew-Doktrin tatsächlich hatte. Im Schlussteil werden dann zunächst die wesentlichsten Erkenntnisse der Arbeit zusammengefasst. Anschließend geht es darum, die in der Einleitung aufgeworfenen Fragen zu beantworten. Diese Fragen sind wie folgt formuliert: Welche Haltung hatte Gorbatschow gegenüber der Breschnew-Doktrin und welche Bedeutung hatte das „Neue Denken“ in der Osteuropapolitik in Hinblick auf den späteren Zerfall der Sowjetunion?

Zum systematischen Vorgehen beim Verfassen der Arbeit ist folgende Anmerkung zu machen. Es geht im Verlauf der Abhandlung nicht um eine lückenlose und vollständige Auflistung aller Stationen der Osteuropapolitik Gorbatschows. Vielmehr sollen die aufgeworfenen Fragen anhand exemplarisch ausgewählter Beispiele beantwortet werden. Die vorliegende Arbeit umfasst einen zeitlich umfangreichen Rahmen. Um die Osteuropapolitik Gorbatschows zu verstehen, ist es unerlässlich, die Entscheidungen seiner Vorgänger auf diesem Gebiet zu beleuchten. Allem voran die Ereignisse des Jahres 1968, sowie die Breschnew-Doktrin selbst, stehen dabei besonders im Fokus der Untersuchungen. Da eine detaillierte Analyse der turbulenten Ereignisse der Jahre 1990/91 bis hin zur offiziellen Auflösung des Warschauer Pakts am 1. Juli 1991 den Rahmen der Abhandlung sprengen würde, sind diese nicht mehr Gegenstand der Arbeit.

In der Forschungsliteratur liegt bei vielen Autoren der Fokus auf der Frage nach der Eigenständigkeit und Souveränität der einzelnen Ostblockstaaten. Ebenfalls ist bei der Aufarbeitung des Warschauer Paktes häufig der Schwerpunkt auf die starke sowjetische Zentralisierung und die militärische Frage gesetzt. Dennoch gibt die Forschung bis heute keine einheitliche Antwort über die inneren Beziehungsgeflechte, die Balance zwischen Politik und Militär sowie über die Reichweite der Entscheidungsbefugnisse der einzelnen Teilnehmerstaaten. Erschwerend hinzukommt, dass die Quellenlage noch immer nicht allumfassend ist, was unter anderem daran liegt, dass die nationalen militärischen Akten in einigen Ostblockstaaten nur schwer zugänglich sind oder nach wie vor unter Verschluss stehen. Das Werk „Rise and Fall of the Brezhnev doctrine“ vom Autor Matthew J. Ouimet stellt, wie der Titel verrät, gezielt die Breschnew-Doktrin in den Mittelpunkt. Im Gegensatz zu vielen anderen Werken gewährt Ouimet tiefe Einblicke in die sowjetischen Entscheidungsprozesse, da sein Buch stark auf russischen beziehungsweise sowjetischen Quellen basiert. Um selbst einen tieferen Eindruck in die sowjetischen Quellen zu erlangen, wurde für die Abhandlung auf das Werk „Masterpieces of History“ von Svetlana Savranskaya zurückgegriffen. Es beinhaltet viele Reden Gorbatschows, unter anderem auch Vor- und Nachbesprechungen von Gipfeltreffen, wodurch ein sensiblerer Einblick in die politische Situation der 1980er Jahre vorgenommen werden kann. Des Weiteren gelten Mark Kramer und Helmut Altrichter als bedeutende Forscher auf dem Gebiet des Kalten Krieges, insbesondere mit dem Fokus auf sowjetische und osteuropäische Geschichte.

2 Schicksalsjahr 1968 – Die Breschnew-Doktrin und der Prager Frühling

1968 war zweifelsohne das Jahr Rebellionen und Revolten und steht auch noch 50 Jahre später symbolisch für die Modernisierungs- und Demokratisierungsprozesse in Ost und West. Sehr im Unterschied zu anderen Aufständen im restlichen Europa hatte die zunehmende Unzufriedenheit in der Tschechoslowakei auch einen handfesten ökonomisch-materiellen Grund. Schon seit Jahren befand sich die Wirtschaft der einstmals blühenden Industrienation in Stagnation. Aus diesem Grund stießen die Ideen zur Reform der ruinösen Planwirtschaft auf eine ungewohnt breite Resonanz.3 Kein Geringerer als die Partei selbst war es, die sich ihres lokalen Diktators Antonin Novotny entledigte und durch den bis dahin kaum in Erscheinung getretenen Alexander Dubcek ersetzte. Der sympathische und aufgeklärte Slowake sollte nicht dem Ruf eines gnadenlosen in Moskau ausgebildeten Politikers gerecht werden, sondern sich vielmehr als Erster Sekretär der KPC zum Protagonisten eines sozialistischen Reformversuchs entwickeln. Mit der Amtsübernahme Dubceks begann eine achtmonatige Periode, die als „Prager Frühling“ in die Geschichte einging und die unter der Losung „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“ eine weitreichende Wiederbelebung des politischen, kulturellen und wirtschaftlichen Lebens in der Tschechoslowakei mit sich brachte.4

Doch die Reformbewegungen entwickelten sehr schnell ein Eigenleben und gerieten der KPC außer Kontrolle. So behauptete Jurij Andropov, damaliger Leiter des sowjetischen Komitees für Staatssicherheit, bereits im März 1968, dass die Ereignisse in der CSSR sehr an die bürgerlich-demokratische Revolution in Ungarn im Jahr 1957 erinnern. Der amtierende Generalsekretär der KPdSU Leonid Breschnew stimmte der Einschätzung Andropovs zu. Breschnew rief Dubcek im Anschluss an die Unterredung unverzüglich an und unterstrich in diesem Gespräch seine „ernsten Besorgnisse“ über die Lage in der Tschechoslowakei. Darüber hinaus warnte er Dubcek, dass sich die ungarischen Ereignisse von 1956 bald wiederholen könnten. Zur Enttäuschung des Politbüros bewegte der Anruf Dubcek nicht dazu, den Prager Frühling in die Schranken zu weisen. Im Laufe der Zeit entwickelte sich bei den Mitgliedern der KPdSU vor allem folgende Befürchtung: Der Prager Frühling könnte auf andere Gebiete und Satellitenstaaten der Sowjetunion überschwappen. Eine solche Entwicklung könnte wiederum das komplette Schicksal des Sozialismus bestimmen. Das wachsende Unbehagen in Moskau wurde durch die anderen Ostblockstaaten noch verstärkt. Unter anderem war es Walter Ulbricht, der von Breschnew verlangte den „wachsenden feindlichen antisozialistischen Einflüssen“ an ihren Grenzen entgegenzutreten.5

Als im Mittsommer 1968 der Druck auf Leonid Breschnew weiter zunahm, berief dieser eine Reihe von Konferenzen ein. Vor allem die Zusammenkünfte in Warschau und Bratislava erwiesen sich dabei in vielerlei Hinsicht als Wendepunkte. Sowjetische Funktionäre, die zuvor eine zögerliche Haltung eingenommen hatten, begannen nun den Prager Frühling vehement zu verurteilen. Die Konferenzteilnehmer von Warschau sandten auf Geheiß Breschnews einen gemeinsamen Brief an Dubcek, in dem sie ein Ende des Liberalisierungsprozesses in der CSSR forderten. Dieser sogenannte Warschauer Brief, als der er bald bekannt wurde, stellte ein Ultimatum dar, welches bei den Funktionären und in der Öffentlichkeit der Tschechoslowakei Bestürzung hervorrief. In den Beratungen von Warschau zeichnete sich die Möglichkeit einer militärischen Intervention immer deutlicher ab. Der Warschauer Brief vom 15. Juli 1968 wird von vielen Historikern als frühes Zeugnis und eigentlicher Anlass der Breschnew-Doktrin verstanden. In ihm hieß es:

„Es war und ist nicht unsere Absicht, uns in solche Angelegenheiten einzumischen, die ausgesprochen innere Angelegenheiten Ihrer Partei und Ihres Staates sind. Es war und ist nicht unsere Absicht, gegen die Prinzipien der Respektierung der Selbständigkeit und Gleichheit in den Beziehungen zwischen den kommunistischen Parteien und den sozialistischen Ländern zu verstoßen […]. Wir können jedoch nicht damit einverstanden sein, dass feindliche Kräfte Ihr Land vom Weg des Sozialismus stoßen und die Gefahr einer Lostrennung der Tschechoslowakei von der sozialistischen Gemeinschaft heraufbeschwören. Das sind nicht mehr nur Ihre Angelegenheiten.“6

Da weder die persönlichen Gespräche zwischen Breschnew und Dubcek noch die Einladungen zu bilateralen Verhandlungsrunden von Erfolg gekrönt waren, begann am 21. August 1968 die Invasion der CSSR durch die Truppen des Warschauer Pakts. Führende Persönlichkeiten der Tschechoslowakei hätten, so der damals offizielle Wortlaut der UdSSR, die Truppen zu Hilfe gerufen. In Windeseile stand eine halbe Million fremder Soldaten im Land. Was folgte war eine blutige Niederschlagung des Prager Frühlings und Verhaftungen seiner führenden Köpfe. Insgesamt 94 Bürger der Tschechoslowakischen Sozialistischen Republik bezahlten die Intervention der Warschauer Pakttruppen mit ihrem Leben. Dubcek wurde 1969 als erster Sekretär der KPC abgewählt und ein Jahr später aus der Partei ausgeschlossen.7

Um den Einmarsch nachträglich zu rechtfertigen, formulierte der sowjetische Staats- und Parteichef am 12. November 1968 die nach ihm benannte Breschnew-Doktrin. Nach ihr konnte die Sowjetunion jederzeit mit militärischer Gewalt in die Entwicklung eines kommunistisch beherrschten Staates eingreifen für den Fall, dass das System in diesem Land bedroht war. Damit war zum einen die staatliche Souveränität der „sozialistischen Brüderländer“ beschränkt und zum anderen die bedingungslose Loyalität gegenüber der sowjetischen Führung zementiert worden. Letztendlich war durch die Einführung der Breschnew-Doktrin nicht nur für die Tschechoslowakei der Idee von der Reformierbarkeit des Sozialismus gescheitert, sondern auch in anderen sozialistischen Ländern setzte ein Prozess der Desillusionierung ein. Generell bedeutete das gewaltsame Ende des Prager Frühlings und die im Nachgang verabschiedete Breschnew-Doktrin für die meisten Kritiker die Unreformierbarkeit kommunistischer Regime. Auch wenn die sowjetischen Führer jener Zeit, aber auch die der Post-Breschnew-Ära, beharrlich die Existenz einer solchen Doktrin leugneten, so dürften sie sich in den Folgejahren in ihren Handlungen bestätigt gefühlt haben. Während der Amtszeit Breschnews kam es mit Ausnahme der polnischen Streikbewegung zu Beginn der 80er Jahre zu keinen schwerwiegenderen Revolten in den Ostblockstaaten.8 Ein Umdenken in der Osteuropapolitik sollte erst 17 Jahre nach dem Prager Frühling mit dem Amtsantritt Gorbatschows erfolgen. Wie genau sich dessen Politik gestaltete und welche Position er gegenüber der Breschnew-Doktrin einnahm, wird Gegenstand der folgenden Kapitel sein.

3 Glasnost und Perestroika: Jahre der Transformation

3.1. Konturen der Osteuropapolitik Gorbatschows

Bereits unmittelbar vor Beginn seiner Amtszeit löste Michail Sergejewitsch Gorbatschow eine immense Faszination auf die die sowjetische und internationale Öffentlichkeit aus. Obgleich er doch zu keinem Zeitpunkt seiner politischen Karriere außerhalb des Apparats der kommunistischen Partei gearbeitet hatte, so hob sich der im Nordkaukasus geborene Gorbatschow durch seine Jugendlichkeit und einer gewissen Spur von Weltoffenheit von seinen Vorgängern ab. Mit Anfang 50 ins Amt gekommen war er Teil einer Generation, die durch den 2. Weltkrieg und den Spätstalinismus geprägt war. Auch seine Familie blieb von den Schrecken des stalinistischen Terrors und des Krieges nicht verschont. Sein Großvater wurde 1937 als „Volksfeind“ verhaftet und der Vater diente als sowjetischer Soldat an der Front. Die Erfahrungen dieser Jahre, sowie die Dogmen des Stalinismus sollten Gorbatschows Politik prägen.9

Zu Beginn seiner Amtszeit 1985 gewann die Herrschaft des letzten Generalsekretärs zunächst ideologisch an Profil. Es begann der Aufbruch, welcher unter den Begriffen Glasnost und Perestroika in die Geschichtsbücher eingehen sollte. Nur eine Öffnung der sowjetischen Gesellschaft (Glasnost) sowie eine radikale Umgestaltung (Perestroika) der seit den zwanziger Jahren gewachsenen Strukturen schien Gorbatschow noch geeignet, um den gordischen Knoten von Zentralismus und Misswirtschaft zu durchschlagen. Die Fehler und Versäumnisse lastete er allerdings nicht dem Sozialismus, sondern seiner "Deformation" in der Post-Lenin-Ära an. Gorbatschow war allerdings nicht mit dem Ziel angetreten, den Sozialismus abzuschaffen, sondern um ihn wiederzubeleben und zu einem leistungsfähigen System umzugestalten. Er verstand sich selber als ein radikaler Reformator, der zu den Ursprüngen der Revolution von 1917 zurückkehren wollte. Sein Buch "Perestroika", das 1987 erschien, trug daher nicht umsonst im Untertitel der deutschen Ausgabe den Zusatz "Die zweite russische Revolution".10

Gorbatschow war damit ein Vertreter des damals in der Sowjetunion weit verbreiteten Bewusstseins, dass es so wie bisher nicht weitergehen konnte. Die Periode der sowjetischen Geschichte von 1929 bis Anfang der achtziger Jahre wurde nun als "Deformation des Sozialismus" bezeichnet. Der Breschnew-Ära seit Oktober 1964 verpasste er darüber hinaus statt der Bezeichnung "entwickelter Sozialismus" das Etikett "Zeit der Stagnation". Grundlage dieser Einstellung war die Einsicht, dass das bisherige sowjetische Regierungssystem auf vielfältige Weise versagt hatte. Vor allem bemängelte Gorbatschow die mangelnde Effizienz des zentralistischen Wirtschaftssystems, welches die Sowjetunion nach Gorbatschows Einschätzung vom „progressivsten Land der Geschichte“ zu einem Land der Dritten Welt herunterstufte. Ebenso kritisierte er den kostspieligen militärischen Expansionismus seit Mitte der 70er Jahre, welcher von der sowjetischen Wirtschaft immer schwieriger zu verkraften war. Darüber hinaus sollten seine Reformen die Gesundheits-, Bildungs- und Sozialpolitik des Landes betreffen. Letztendlich basierten Glasnost und Perestroika jedoch nicht auf einem festen Konzept, sondern waren tagespolitisch bestimmte Improvisationen, deren Entwicklung maßgeblich von der Person Gorbatschows und seinen wechselnden Beratern abhing. Ihre gemeinsame Grundlage war die Analyse der bestehenden Missstände, ihr Ziel die Stärkung des Sozialismus. Über den Weg dorthin wurde jedoch heftig gestritten.11

Auch wenn sich die Reformideen rund um Glasnost und Perestroika vor allem auf die desolate Wirtschaftspolitik der Sowjetunion bezogen, so wurden die osteuropäischen Länder, die zwischen 1939 und 1948 durch Stalins Machtpolitik unter sowjetische Einflussnahme geraten waren, von den Reformmaßnahmen keineswegs ausgespart. Zwar bildete Osteuropa einen wichtigen Eckpfeiler der sowjetischen Einflusssphäre, so dass eine Zunahme von Unabhängigkeitsbestrebungen, wie in den sechziger Jahren, das Risiko einer Auflösung des gesamten Sowjetblocks in sich barg. Aber Gorbatschow ließ nach anfänglicher Unsicherheit bald keinen Zweifel mehr daran, dass das "Neue Denken" in der Sowjetunion auch für die Beziehungen zwischen der UdSSR und ihren osteuropäischen Verbündeten gelten sollte.12

Dennoch muss an dieser Stelle der Arbeit erwähnt werden, dass vor allem in den ersten zwei Jahren nach Gorbatschows Amtsantritt wenig daraufhin wies, dass sich das Verhältnis zu den osteuropäischen Verbündeten grundsätzlich wandeln könnte. Die Konturen der sowjetischen Osteuropapolitik blieben noch vage und widersprüchlich. Bekenntnisse zu größerer nationaler Eigenständigkeit wechselten mit Forderungen nach Aufrechterhaltung der Einheit, wobei der Akzent zumeist auf der politischen, wirtschaftlichen und militärischen Integration als Mittel zur Stärkung der sozialistischen Gemeinschaft lag. So wurde beispielsweise kurz nach seiner Amtsübernahme der Warschauer Vertrag, das 1955 geschaffene Instrument zur militärischen und politischen Bindung der sozialistischen Staatengemeinschaft an die Sowjetunion, um weitere 20 Jahre verlängert.13

Seit 1987 machte die Gorbatschow-Führung jedoch mehr und mehr deutlich, dass sie dazu bereit war, den Partei- und Staatsführungen der „Bruderländer“ bei der Lösung innerer wirtschaftlicher und politischer Schwierigkeiten freie Hand zu lassen, wobei die sowjetische Führung ihren eigenen Kurs grundsätzlich auch den Verbündeten als Vorbild nahelegte. Folge dieser Politik war die Spaltung des „sozialistischen Lagers“. Während die reformwilligen kommunistischen Führungen Polens und Ungarns Anlehnung an Gorbatschow suchten, fühlten sich die konservativen orthodoxen Partei- und Staatsführungen in der DDR, CSSR, in Bulgarien und Rumänien von Glasnost und Perestroika bedroht und verbanden sich zu einer Ablehnungsfront.14

So entstanden in der Anfangsphase der Regierungszeit Gorbatschows nach und nach die Umrisse einer neuen sowjetischen Osteuropapolitik, in denen die Abkehr von der Breschnew-Doktrin und die Hinwendung zu einem eher partnerschaftlichen Verhältnis mit Respekt vor nationalen Unterschieden erkennbar wurden. Mehr als vier Jahrzehnte lang war die Zugehörigkeit der osteuropäischen Staaten zum sowjetischen Herrschaftsbereich ein Kernelement der Nachkriegsordnung gewesen, wobei die sowjetische Hegemonie nicht auf der Zustimmung der Bevölkerung in den jeweiligen Ländern, sondern auf der Anwesenheit übermächtiger sowjetischer Streitkräfte beruht hatte. Dabei hatte die Breschnew-Doktrin noch unter Jurij Andropow und Konstantin Tschernenko bis Mitte der achtziger Jahre als Vorwand gedient, um Reformen zu unterdrücken. Dies änderte sich erst unter Gorbatschow. Für den neuen Generalsekretär der KPdSU bestand, auch im Verhältnis zu den osteuropäischen Ländern, eine zwingende Notwendigkeit zu Reformen - vor allem aus wirtschaftlichen Gründen.15

[...]


1 Altrichter, Helmut: Russland 1989. Der Untergang des sowjetischen Imperiums. München 2009. S. 16

2 Ebenda. S. 18

3 Frei, Norbert: 1968: Jugendrevolte und globaler Protest. München 2018. S. 190.

4 Schmid, Markus Herbert: Der Prager Frühling und die 68er. Eichstätt 2008. S. 6.

5 Kramer, Mark: Die Sowjetunion, der Warschauer Pakt und blockinterne Krisen. In: Diedrich, Torsten (Hrsg.): Der Warschauer Pakt: von der Gründung bis zum Zusammenbruch 1955 – 1991. Bonn 2009. S. 276.

6 Möller, Horst; Wirsching, Andreas (Hrsg.):Akten zur Auswärtigen Politik der Bundesrepublik Deutschland 1968. 1. Januar bis 30. Juni, Band I. München 1999. S. 1474.

7 Schmid. S. 35.

8 Kramer. S. 273.

9 Behrends, Jan C.: Michail S. Gorbatschow. In: Sabrow, Martin; Schattenberg, Susanne (Hrsg.): Die letzten Generalsekretäre. Kommunistische Herrschaft im Spätsozialismus. Berlin 2018. S. 250.

10 Altrichter, Helmut: Russland 1989. Der Untergang des sowjetischen Imperiums. München 2009. S. 23.

11 Ebenda. S. 25.

12 Simon, Gerhard; Simon, Nadja: Verfall und Untergang des sowjetischen Imperiums. München 1993. S. 192.

13 Ebenda. S. 193.

14 Ouimet, Matthew J.: The rise and fall of the Brezhnev Doctrine in Soviet foreign policy. London 2003. S. 138.

15 Ouimet. S. 139.

Ende der Leseprobe aus 21 Seiten

Details

Titel
Die sowjetische Osteuropapolitik. Moskaus Abwehr von der Breschnew-Doktrin
Hochschule
Universität Rostock
Note
2,0
Autor
Jahr
2018
Seiten
21
Katalognummer
V994747
ISBN (eBook)
9783346361691
ISBN (Buch)
9783346361707
Sprache
Deutsch
Schlagworte
osteuropapolitik, moskaus, abwehr, breschnew-doktrin
Arbeit zitieren
Philip Sell (Autor:in), 2018, Die sowjetische Osteuropapolitik. Moskaus Abwehr von der Breschnew-Doktrin, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/994747

Kommentare

  • Noch keine Kommentare.
Blick ins Buch
Titel: Die sowjetische Osteuropapolitik. Moskaus Abwehr von der Breschnew-Doktrin



Ihre Arbeit hochladen

Ihre Hausarbeit / Abschlussarbeit:

- Publikation als eBook und Buch
- Hohes Honorar auf die Verkäufe
- Für Sie komplett kostenlos – mit ISBN
- Es dauert nur 5 Minuten
- Jede Arbeit findet Leser

Kostenlos Autor werden