Leseprobe
Lassen Sie mich von hinten beginnen. Am 17. März 1883 wurde Karl Marx in Anwesenheit von elf Personen, darunter Friedrich Engels und Wilhelm Liebknecht, auf dem Highgate Friedhof in London beerdigt. In seiner Rede sagte Engels die bereits eingetroffenen Worte: „Sein Name wird durch die Jahrhunderte fortwirken und so auch sein Werk“. 1. Engels betonte, dass man zu kurz greife, wenn man in Marx nur einen Wissenschaftler, und sei es auch den Begründer des wissenschaftlichen Sozialismus, sehe . Marx war vor allem Revolutionär. So oder so mitzuwirken am Sturz der kapitalistischen Gesellschaft, das war das Hauptanliegen, die Hauptberufung von Karl Marx.
Dass er dazu einen wissenschaftlich präzisen Begriff von Politik und einen ebenso präzisen Begriff einer proletarischen Revolution benötigte, versteht sich von selbst. Marx gewann rudimentär beides schon recht früh, im Alter von 26 Jahren. Wir wissen, dass sich Marx während seines ersten Aufenthaltes in Paris 1843/44 theoretisch intensiv mit Rousseau und der großen bürgerlichen Revolution von 1789 auseinandergesetzt hat. Marx konnte französisch im Original lesen und schreiben. Die Exzerpte von Marx aus dem ‘Gesellschaftsvertrag‘ Rousseaus liegen vor: MEGA IV/2,291ff. Den ersten zentralen Niederschlag dieses theoretischen Ringens finden wir in einer bereits im Herbst 1843 verfassten Schrift ‘Zur Judenfrage‘. Marx war überzeugt, dass die französische Revolution von 1789 zwar das klassische Beispiel einer politischen Revolution abgebe, aber eben nur einer politischen. „Die politische Emanzipation ist allerdings ein großer Fortschritt, sie ist zwar nicht die letzte Form der menschlichen Emanzipation überhaupt, aber sie ist die letzte Form der menschlichen Emanzipation innerhalb der bisherigen Weltordnung.“ 2. Zwar galt die Axt in der französischen Revolution als Symbol für die Guillotine, die ‘Sichel der Gleichheit‘ genannt wurde, aber diese Axt blieb doch recht stumpf und konnte das verknotete humanistische Anliegen der schuftenden Menschheit nicht bis zum Ende durchhauen. Diese Revolution konnte ihr Versprechen eines freien, gleichen und brüderlichen Zusammenlebens der Menschen historisch nicht einlösen, was sich spätestens mit dem Machtantritt Napoleons am 9. November 1799 zeigte, der dann ja auch als erster Konsul in einer Proklamation die Revolution am 15. Dezember für beendet erklärte, also die Revolution kalendermäßig auf ein Jahrzehnt einrahmte. „Citoyens, die Revolution ist fest den Prinzipien verbunden, von denen sie ihren Ausgang genommen hat. Sie ist beendet“. Wie brüderlich es in der Folge der bürgerlichen Revolution von 1789 zuging, zeigte sich am 7. September 1812 am Abend nach der Landschlacht von Borodino 120 Kilometer westlich vor Moskau: insgesamt 100 000 Tote an einem Tag. Für Napoleon war diese die schrecklichste seiner Schlachten. Die große französische Revolution war ganz offensichtlich in eine Sackgasse geraten und beim Rückzug der großen Armee aus Moskau vollzog sich im Schneetreiben zwischen der Beresina und dem Njemen die Schicksalswende Europas.
Obwohl die bürgerliche politische Revolution nicht die Durchschlagskraft hatte, ihre im ersten Überschwang selbst gesteckten Ziele zu erreichen, war sie trotz alledem eine Revolution in aufsteigender Linie. Ohne diese wäre sie nicht als klassische in die Geschichtsbücher eingegangen. Wir können in ihr eine zunehmende Radikalisierung verfolgen, Zunächst treten gemäßigte Konstitutionelle nach vorn (Mirabeau – konstitutionelle Monarchie), dann die halbherzigen Girondisten (Brissot – liberale Republik), die sich gegen den Vollzug der Todesstrafe für den König aussprechen, diese Gemäßigten werden durch den ‘Berg‘ verdrängt (Robespierre – Republik mit Fixierung der Preise für Grundnahrungsmittel, das sogenannte ‘Maximum‘), der die Todesstrafe für Louis XVI. mit dem Satz begründete: `Da ich Mitleid mit den Unterdrückten habe, kann ich kein Mitleid für die Unterdrücker haben‘. Wir können verfolgen, wie die Gemäßigten von den Nachfolgenden auf die Guillotine geschickt werden. Frankreich als das klassische Land der bürgerlichen Revolution, gibt aber auch das Gegenbeispiel ab, das einer Revolution in absteigender Linie, dafür steht die 48er Revolution. Gleich am Anfang tritt das Proletariat auf, es wird vom Kleinbürgertum verraten. Das Kleinbürgertun interstützt die Großbourgeoisie gegen das rote Gespenst und wird fallengelassen, sobald die Großbourgeoisie glaubt, auf festen Füßen zu stehen, es geht aber weiter in der rückgängigen Bewegung. Die Royalisten wittern Morgenluft, werden aber von den Stiefeln einer Militärdiktatur Napoleons III. als letztes Wort der Bourgeoisherrschaft unterjocht. Niemand hatte am Anfang der Revolution an diese Frucht gedacht.
Es galt also gegen die französische Revolution ein neues Konzept zu entwickeln, und das lag in nuce bereits im Herbst 1843 in Form einer menschlichen Revolution beim jungen Marx vor: “Erst wenn der wirklich individuelle Mensch den abstrakten Staatsbürger in sich zurücknimmt und als individueller Mensch in seinem empirischen Leben, in seiner individuellen Arbeit, in seinen individuellen Verhältnissen Gattungswesen geworden ist, erst wenn der Mensch seine ‘forces propres‘ (eigene Kräfte/ H.A.) als gesellschaftliche Kräfte erkannt und organisiert hat und daher die gesellschaftliche Kraft nicht mehr in der Gestalt der politischen Kraft von sich trennt, erst dann ist die menschliche Emanzipation vollbracht“. 3. Das Wort ‘Kommunismus‘ fällt zwar in dieser Schrift im Herbst 1843 noch nicht, stattdessen das Wort ‘Gattungswesen‘, aber man denke sich in dieses Zitat hinein, um dessen kommunistische Anlagen zu eruieren. Wie die drei jungen Theologiestudenten Hegel, Hölderlin und Schelling 1789 im Tübinger Stift über den Staat hinauswollten, man lese hierzu das ‘Älteste Systemfragment des deutschen Idealismus‘, denn er sei ein mechanisches Räderwerk, so erkennt auch der junge Materialist Karl Marx, dass Politik und Staat überhaupt überwunden werden müssen. Bereits im Frühwerk fallen entscheidende Würfel. Hier, in der ‘Judenfrage‘ ist es die Entgegensetzung: Menschliche Emanzipation versus politische. Das war die Fragestellung im Herbst 1843, zum Jahreswechsel 1843/44 findet Marx den Träger dieser menschlichen Emanzipation in einer Klasse, die „kein besonderes Recht in Anspruch nimmt, weil kein besondres Unrecht an ihr begangen wird, sondern das Unrecht schlechthin an ihr verübt wird, welche nicht mehr auf einen historischen Titel, sondern nur noch auf den menschlichen Titel provozieren kann … welche mit einem Wort der völlige Verlust des Menschen ist, also nur durch die völlige Wiedergewinnung des Menschen sich selbst gewinnen kann“. 4. Und endlich: “Die Auflösung der Gesellschaft als ein besonderer Stand ist das Proletariat“. 5. Das Proletariat ist in sich bereits die Aufhebung der Klassengesellschaft und seiner selbst.
Uns liegt jetzt bereits als revolutionäre Aufgabe vor, die Überwindung der bürgerlich politischen Revolution durch die proletarisch menschliche. Und im Juli 1844 wird diese Ausgangskonstellation einer proletarischen Revolution noch vertieft. Knallhart und unverrückbar, unwiderlegbar heißt es: „Die Existenz des Staats und die Existenz der Sklaverei sind unzertrennlich. 6. So formuliert Marx bereits 1844 in der Schrift ‚Kritische Randglossen zu dem Artikel eines Preußen‘ als zentrale Aufgabe der Kommunistinnen und Kommunisten die Überwindung des Staates und diese als Zerstörung des bürgerlichen Staatsapparates. Aber nicht nur aus diesem Grund ist diese Frühschrift aufschlussreich, sondern auch deshalb, weil Marx in ihr die Thematik einer sozialen Revolution aufwirft. Die proletarisch-menschliche Revolution ist selbstredend eine soziale. “Eine soziale Revolution befindet sich deswegen auf dem Standpunkt des Ganzen, ... weil sie eine Protestation des Menschen gegen das entmenschte Leben ist … “7. Und wir hatten 1789 gesehen, dass eine politische Revolution die Gittergefängnisse der Ungleichheit und Unmenschlichkeit nicht sprengt. So steht der bürgerlichen patriarchalischen teilweisen politischen Revolution 8., so Marx über die bürgerliche Revolution, die die Frauen übersah, und so auch Engels über 1789 9., ein weiteres Element entgegen, somit eine proletarische, humanistische und soziale Revolution, auf der Basis der Gleichberechtigung der Geschlechter, aber allen Schwergewichten der Emanzipation ist zunächst ein politischer Zusatz noch eigen, als ein Element noch des Alten im Neuen, so wie ja auch das bürgerliche Recht noch ein Bestandteil der ersten Phase des Kommunismus bleibt, was Marx in der Kritik des Gothaer Programms entwickeln wird. Waren in der französischen Revolution die Gewichte eindeutig verteilt, die Ablösung des Feudalismus durch den Kapitalismus im Vollzug einer bürgerlich politischen Revolution, die in Form einer Mobilisierung der Bauernmassen durch die französische Bourgeoisie nicht ohne sozialen Unterton bleiben konnte. Den größten sozialen Gehalt wies die Verfassung vom Mai 1793 auf. Die Bauern wurden aus fronpflichtigen Leibeigenen Parzellenbauern mit eigenem Grund und Boden, mit ein Grund für die überraschenden Siege Napoleons, der qualitativ ein fortgeschritteneres ‘Bauernmaterial‘ zur Verfügung hatte, das für sein Haus und Hof kämpfte und mit dem er Europa und das östliche Nordafrika ausplündern konnte, Marx spricht von einer Bourgeoisorgie, so waren 1781 in der Pariser Commune und 1917 in der russischen Revolution die Gewichte schon anders verteilt, es waren primär soziale Revolutionen, die Oktoberrevolution begann gleich mit der Deklaration der Rechte des werktätigen und ausgebeuteten Volkes.
Im Manifest, geschrieben im Dezember 1947 / Januar 1948, finden wir eine aufschlussreiche Passage über das Verhältnis von Leben und Arbeit: “In der bürgerlichen Gesellschaft ist die lebendige Arbeit nur ein Mittel, die aufgehäufte Arbeit zu vermehren. In der kommunistischen Gesellschaft ist die aufgehäufte Arbeit nur ein Mittel, um den Lebensprozeß der Arbeiter zu erweitern, zu bereichern, zu befördern. In der bürgerlichen herrscht also die Vergangenheit über die Gegenwart, in der kommunistischen die Gegenwart über die Vergangenheit“. 10. Wir können diesen Sachverhalt sowohl in den Schriften von Rousseau als auch in denen von Montesquieu verfolgen, beide bereiten theoretisch die bürgerliche Revolution vor, und beide gehen zurück auf politische Gebilde in der Antike als Ideal, das es heute wieder zu erreichen gilt. Die bürgerliche Theorie kommt ohne die Unterstützung durch die alte Antike nicht aus, nicht in der Theorie und auch nicht in der Praxis. Sowohl die bürgerliche Revolution von 1789 als auch die von 1848 erweckten die Toten der antiken Vergangenheit, ja selbst in der Pariser Commune fand eine Rückbesinnung auf die Hochphase des Jakobinismus von 1793 statt, eine Erinnerung, die Marx der Kritik unterwarf. Im 18. Brumaire des Louis Bonaparte schrieb Marx im Dezember 1851: „Die soziale Revolution kann ihre Poesie nicht aus der Vergangenheit schöpfen, sondern nur aus der Zukunft. Sie kann nicht mit sich selbst beginnen, bevor sie allen Aberglauben an die Vergangenheit abgestreift hat“. 11. Marx hatte den 18. Brumaire im März 1852 beendet. Wir hatten den Faden der Entwicklung der Marx’schen Revolutionskonzeption aufgenommen im Herbst 1843, als einer bürgerlichen Revolution eine menschliche Revolution, noch keine proletarische (!), gegenübergestellt wurde. In weniger als einem Jahrzehnt kommt Marx im März 1852 zu einem vorläufigen Abschluss seines Entwurfs: “Bürgerliche Revolutionen, wie die des achtzehnten Jahrhunderts, stürmen rascher von Erfolg zu Erfolg, ihre dramatischen Effekte überbieten sich, Menschen und Dinge scheinen in Feuerbrillanten gefaßt, die Ekstase ist der Geist jedes Tages; aber sie sind kurzlebig, bald haben sie ihren Höhepunkt erreicht, und ein langer Katzenjammer erfaßt die Gesellschaft, ehe sie die Resultate ihrer Drang- und Sturmperiode nüchtern sich aneignen lernt. Proletarische Revolutionen dagegen, wie die des neunzehnten Jahrhunderts, kritisieren beständig sich selbst, unterbrechen sich fortwährend in ihrem eigenen Lauf, kommen auf das scheinbar Vollbrachte zurück, um es wieder von neuem anzufangen, verhöhnen grausam-gründlich die Halbheiten, Schwächen und Erbärmlichkeiten ihrer ersten Versuche, scheinen ihren Gegner nur niederzuwerfen, damit er neue Kräfte aus der Erde sauge und sich riesenhafter ihnen gegenüber wieder aufrichte, schrecken stets von neuem zurück vor der unbestimmten Ungeheuerlichkeit ihrer eigenen Zwecke, bis die Situation geschaffen ist, die jede Umkehr unmöglich macht …“ 12. Fassen wir also zusammen: Der Entwicklungsweg beginnt mit der menschlichen Revolution, diese ist eine genuin proletarische, eine soziale, auf der Basis der Gleichberechtigung der Geschlechter, die Gegenwart herrscht mehr und mehr über die Vergangenheit, ohne Totenbeschwörung, in aufsteigender Linie, mit Selbstkritik, sie als permanente schreckt vor sich selbst zurück … bis zum letzten Gefecht. Bürgerliche Revolutionen sind kurzlebig, es genügen einige Blick auf die Reden und Schriften von Robespierre und St. Just, insbesondere in dessen Buch ‘L’Esprit de la Revolution‘ (1791), um festzustellen, dass die führenden Jakobiner in Kürze das ‘Reich der Vernunft‘ und die Vollendung unvollkommener Geschichte kommen sahen.
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