Emile Durkheims soziologische Theorien


Skript, 2000

5 Seiten


Leseprobe


Emile Durkheim (1858-1917)

1. Die Frage nach den sozialen Bindungen

Durkheim interessiert sich dafür, welche Bindungen die Menschen untereinander haben, d.h. durch welche Bindungen die Gesellschaft zusammengehalten wird.

Diese Frage nach dem Zusammenhalt der Gesellschaft ist aber auch die Frage, wie soziale Ordnung zustande kommt.

Ausgangspunkt seiner Überlegungen ist die Frage nach den Beziehungen zwischen Individuum, Gesellschaft und Moral.

Durkheim kritisiert dabei Versuche, die Gesellschaft über individuelles Nutzenstreben zu erklären wie z.B. die Nationalökonomie (Adam Smith, [Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten] Politische Ökonomie), denn er betrachtet die Gesellschaft als eine Realität an sich und nicht als Produkt individueller Handlungen. Die Gesellschaft wird als eigene Realität bezeichnet, weil sie auf sozialen Tatsachen beruht wie z.B. Werte und Normen. Diese sozialen Tatsachen werden vom Menschen geschaffen und nehmen mit der Zeit einen dinghaften Charakter an, das bedeutet, sie stehen außerhalb des Einflussbereichs des Individuums. Die sozialen Tatsachen üben in der Gesellschaft eine Funktion aus. Unter Funktion versteht Durkheim den Beitrag eines einzelnen Teils zum Erhalt und zur Ordnung des Ganzen. Denn soziale Tatsachen üben einen Zwang auf das Individuum aus, indem abweichendes Verhalten sanktioniert wird, sie dienen dem Erhalt der Ordnung der Gesellschaft. Somit ist der Mensch Schöpfer von sozialer Ordnung.

Die Werte und Normen, die soziale Tatsachen darstellen, ergeben insgesamt die Moral. Moral stellt den Gegenpol zum Individuellen dar. Durkheim spricht in diesem Zusammenhang vom Dualismus der menschlichen Natur: Einerseits hat der Mensch egoistische Bedürfnisse, andererseits strebt er nach moralischem Handeln.

Moral bezieht sich also auf die Gesellschaft, das Kollektiv und ist als System von Verhaltensregeln anzusehen. Moralisches Handeln liegt also dann vor, wenn man diesen Regeln entsprechend handelt.

Diese Regeln - die Moral - entspringen einem sogenannten „ Kollektivbewusstsein “.

Dieses Kollektivbewusstsein ist auf der einen Seite im individuellen Bewusstsein enthalten, geht aber auf der anderen Seite darüber hinaus: Das Kollektivbewusstsein wird als Autorität, Zwang empfunden, weil ihr Inhalt soziale Tatsachen darstellt. Durch die gemeinsamen Regeln bedeutet das Kollektivbewusstsein auch ein Aufeinander-Bezogen- Sein.

Das Kollektivbewusstsein erzeugt eine „ Solidarität “, die als das Zusammenwirken individueller Psychen zu verstehen ist. Die Solidarität ist das Bindemittel, ohne das es keine gesellschaftliche Ordnung gibt. Deshalb wird bei Durkheim Gesellschaft mit Solidarität und Moral gleichgesetzt. Form und Wirkung der Solidarität sind von der Struktur der Gesellschaft bestimmt.

1. Von der mechanischen zur organischen Solidarität

Durkheim stellt fest, dass in der Geschichte der Menschheit unterschiedliche Gesellschaftsformen aufgetreten sind, die in Struktur und Moralsystem verschieden waren. Aufgabe der Soziologie ist die Untersuchung der Moralsysteme über einen Umweg, nämlich abweichendes Verhalten.

1.1 Die segmentäre Gesellschaft - mechanische Solidarität

Zunächst leben Menschen in Horden und Clans. Die Menschen selbst sind sich relativ ähnlich und üben ä hnliche Funktionen aus. D.h. die Arbeitsteilung ist kaum ausgeprägt und es besteht ein geringes Maßan funktionaler Differenzierung.

Die Bevölkerungszahl ist relativ niedrig, die sozialen Bindungen schwach.

In der segmentären Gesellschaft herrscht die mechanische Solidarität vor. Sie beruht auf der Ä hnlichkeit der Mitglieder und dem gemeinsamen Glauben an bestimmte Ideen und Ideale. Man kann also sagen, das Kollektivbewusstsein ist dominant.

Die Solidarität wird als mechanisch bezeichnet, weil sie als eine Kraft auf die Gesellschaft einwirkt, die die Ordnung erhält. So ist in diesen Gesellschaften auch das restriktive Recht (zurücknehmendes Recht, s.u.) vorzufinden, das auf Sanktionierung von abweichendem Verhalten abzielt.

2.2 Dichte und Volumen

Nun nimmt aber mit der Zeit die Größe der Gesellschaft, das soziale Volumen, zu. Daneben steigt aber auch die soziale Dichte, die Durkheim in materielle und moralische unterscheidet. Materielle Dichte beschreibt die physische, räumliche Nähe, während die moralische Dichte die sozialen Beziehungen und Kontakte beschreibt.

Die Zunahme von Dichte und Volumen stellt die Ursache der fortschreitenden Arbeitsteilung dar. Dies erklärt er folgendermaßen:

Diese beiden Faktoren führen dazu, dass die ähnlichen Menschen in eine Konkurrenzsituation geraten, denn Gleichartigkeit ruft nach Charles Darwin Konkurrenz (Survival of the Fittest) hervor. Aufgrund der Konkurrenz werden die Solidarität und die gemeinsamen Vorstellungen, der Zusammenhalt, gefährdet. Die Bedrohung macht eine „ neue “ Solidarität erforderlich. Die Konkurrenz wird durch die Spezialisierung, d.h. die funktionale Differenzierung, überwunden. Auf diese Weise tritt die mechanische Solidarität und das Kollektivbewusstsein mit dem Fortschreiten der funktionalen Differenzierung in den Hintergrund, verschwindet aber nicht völlig.

2.3 Organische Solidarität

Moderne Gesellschaften, oder arbeitsteilige Gesellschaften, zeichnen sich durch eine funktionale Differenzierung aus. Die Mitglieder sind unterschiedlich und üben verschiedene Funktionen aus. Einerseits führt die funktionale Differenzierung zur Individualisierung, andererseits aber auch zu einem stärkeren Zusammenhalt. D.h. die Unterschiedlichkeit wirkt nicht zerstörend, weil die Menschen untereinander (voneinander) abhängig werden.

In diesen Gesellschaften herrscht die organische Solidarität vor - organisch deshalb, weil die einzelnen Teile wie Organe in einem Organismus dem Funktionieren des Ganzen dienen. Die Beziehungen werden durch Vertrag geregelt. Voraussetzung dafür ist aber der Glauben der Menschen an die Gesellschaft, die bei Vertragsbrüchen sanktionierend eingreift. Vorzufinden ist das restriktive, d.h. wiederherstellende Recht, das auf Wiedergutmachung abzielt.

Wichtig ist, dass Durkheim eine stetige Entwicklung von der mechanischen zur organischen Solidarität feststellt, wobei die organische Solidarität durch Arbeitsteilung erklärt wird. Die Arbeitsteilung selbst wird aus sozialen Phänomenen erklärt - Dichte und

Volumen - und wird positiv bewertet. Denn ihre Funktion ist die Herstellung von Ordnung, Harmonie und der „neuen“ Solidarität.

2. Die Selbstmordstudie

Durkheim suchte nach Gründen für den Selbstmord und vor allem auch für Unterschiede in den Selbstmordraten. Dazu untersuchte er verschiedene Fakten über den Selbstmord und zeigte, dass es keinen Zusammenhang zwischen individuellen Zuständen (z.B. Alkoholismus) oder erblichen Faktoren und dem Selbstmord gibt. Danach prüfte er mögliche soziale Ursachen wie z.B. Religionszugehörigkeit, Familienstand und politische Zustände. Dabei fand er einen Zusammenhang zwischen Selbstmordrate und dem Grad der Integration der Individuen in Religionsgemeinschaft, Familie und Staat.

Durkheim unterscheidet zwischen folgenden vier Arten des Selbstmordes:

3.1 Der egoistische Selbstmord

Die Lockerung der sozialen Bindungen und die schwache Integration in die Gruppe führen zur Isolierung des Individuums. In dieser Isolierung ist es nicht mehr stark an die Regeln gebunden und die Chance für den Zweifel am Sinn des Lebens ist größer. Sie stellt die typische Ursache für Selbstmorde in modernen Gesellschaften dar.

3.2 Der altruistische Selbstmord

Hier liegt die Ursache umgekehrt in den überaus starken sozialen Bindungen, d.h. die Mitglieder sind zu stark in die Gemeinschaft eingeschlossen. Dadurch gilt das Leben eines einzelnen Menschen wenig, der Sinn des Lebens wird außerhalb des eigentlichen Lebens gesehen.

3.3 Der fatalistische Selbstmord

Diese Art spielt in modernen Gesellschaften eine untergeordnete Rolle. Ursache ist eine zu starke Reglementierung und soziale Kontrolle.

3.4 Der anomische Selbstmord

Ursache ist die Auflösung der kollektiven Ordnung - die Anomie. Anomie bedeutet das Schwächerwerden der sozialen Schranken und Zwänge, ein Mangel an gesellschaftlichen Regelung und Kontrolle.

Doch ohne Begrenzung fehlt das Gleichgewicht zwischen Bedürfnissen und Bedürfnisbefriedigung, wodurch die Bedürfnisse ins Uferlose steigen und Frustration folgt. Dieser anomische Zustand kann aber durch Einführung neuer moralischer Regeln durch die Gesellschaft behoben werden.

Ende der Leseprobe aus 5 Seiten

Details

Titel
Emile Durkheims soziologische Theorien
Autor
Jahr
2000
Seiten
5
Katalognummer
V99777
ISBN (eBook)
9783638982146
Dateigröße
490 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Sehr gutes Lernscript!
Schlagworte
Emile, Durkheims, Theorien
Arbeit zitieren
B W (Autor:in), 2000, Emile Durkheims soziologische Theorien, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/99777

Kommentare

  • Noch keine Kommentare.
Blick ins Buch
Titel: Emile Durkheims soziologische Theorien



Ihre Arbeit hochladen

Ihre Hausarbeit / Abschlussarbeit:

- Publikation als eBook und Buch
- Hohes Honorar auf die Verkäufe
- Für Sie komplett kostenlos – mit ISBN
- Es dauert nur 5 Minuten
- Jede Arbeit findet Leser

Kostenlos Autor werden