Die hybride Nymphe. Zur Umsetzung der melusinischen Naturdämonie in der Undinenfigur des 19. Jahrhunderts


Hausarbeit (Hauptseminar), 2020

15 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe

Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Die Fluidität der Wasserfrau: ein motivgeschichtlicher Überblick

3. Die Zähmung der Wasserfrau: zur Reduktion der Naturdämonie

4. Die Hybridisierung der Wasserfrau: zur Umsetzung der Naturdämonie

5. Abschlussreflexion

6. Literaturverzeichnis

1. Einleitung

Undines Ersteindruck trügt. Ihr Erscheinungsbild in den einführenden Szenen von Friedrich de la Motte Fouqués Erzählung Undine (1807) ist allem Anschein nach ein Menschenliches: als „wunderschönes Blondchen“ (Fouqué S. 11)1 tritt sie durch die Tür der Fischerhütte und so erstmals dem Ritter Huldbrand entgegen, der entsprechend keinen Anlass hat, ihre wahre Natur zu hinterfragen. Auch im Verhalten erweckt Undine an diesem Punkt eher noch den Eindruck eines aufbrausenden, rebellischen und „ungezähmten“ Naturkindes - kongruent zur ungezähmten Natur der Seezunge, auf der sie von den Fischern großgezogen worden ist, ergo im Rahmen des Erwartbaren -, weniger den eines Wassergeistes. Prinzipiell ist ihre Naturdämonie für die Augen der Menschen unsichtbar. Wenn sie die Wahrheit über Undine erfahren, dann nur unter der Bedingung von Undines Einwilligung. Im Fall vom Ritter Huldbrand muss diesem sogar erst ausdrücklich gesagt werden, was er sieht, damit er es auch sehen kann: „Du aber siehst jetzt wirklich eine Undine, lieber Freund. “ (Fouqué S. 47).

Auch Melusines Äußeres bietet zunächst kein Indiz für ihre Naturdämonie. Zu Beginn von Thüring von Ringoltingens Roman Melusine (1456/1467) wird sie von Reymund, dem jüngsten Sohn des Grafen von Forst, als „Edle schone Jungfrauwe“ (Thüring S. 11)2 adligen Geschlechts gedeutet. Nicht nur hegt Reymund keinen Zweifel an diesem Ersteindruck, ebenjener ist wie eine Beiläufig- bzw. Selbstverständlichkeit in die Passage zu Reymunds Ritt zum Durstbrunnen integriert:

Bey demselbigen Brunnen stunden drey gar sch eine Jungfrauwen Hochgeboren unnd Adelicher gestalt (Thüring S. 11)

Zumal ist es anschließend Reymund, dessen behauptete Herkunft von Melusine angezweifelt wird (vgl. Thüring S. 11f.). Die Figurenkonstellation vom echten Menschen und dem Phantom eines solchen ist hier ironisch umgekehrt.

Was diese zwei Szenen zusätzlich vereint, ist ein verdeckter Hinweis auf die wahre Natur der jeweiligen Frauenfiguren, der dem jeweiligen Mann entgeht und vielmehr an den metatextuell informierten Leser gerichtet zu sein scheint: Reymund - vor Kummer unsicher, ob er tot oder noch am Leben ist - weiß beim Anblick von Melusine nicht, „ ob das ein Gespenst oder Frauw was “ (Thüring S. 11), was mit der späteren Behauptung seines Bruders korreliert, Melusine „sey ein Gespenst“ (Thüring S. 70), und Huldbrand vernimmt unmittelbar vor Undines Erscheinen „ein Plätschern am niedrigen Fensterlein [...], als sprütze jemand Wasser dagegen.“ (Fouqué S. 10), was auf ihre Abstammung vom „der Wassergeister ausgebreitetes Geschlecht“ (Fouqué S. 46) hindeutet.

Die Ähnlichkeit in den Inszenierungen der Erstauftritte von Melusine und Undine mag zur Annahme einer engen Verwandtschaft der zwei Figuren zueinander verleiten. Demnach müssten weitere inhaltliche und motivische Parallelen feststellbar sein. Zunächst sind sowohl Thürings Melusine als auch Fouqués Undine der Wasserfrauenliteratur zuzuordnen. Sie gehören dabei zu den Reproduktionen des Mythos, die das Motiv der sog. Mahrtenehe d.h. der Liebestragödie von Wasserfrau und Menschenmann bespielen:

[...] die Erzählforschung spricht von der ,Mahrtenehe‘, der Verbindung eines Menschen mit einem andersweltlichen Liebespartner, der höchstes Glück gibt, aber den Menschen überfordert, die Begegnung endet mit seinem Tode. Doch auch für das Jenseitswesen bedeutet das Scheitern das Ende aller Sehnsüchte und Hoffnungen.3

In der Umsetzung dieses Motivs sind weitere Ähnlichkeiten zwischen Thürings Melusine und Fouqués Undine erkennbar, bspw. sind beide Frauenfiguren der Sphäre des Wassers zugeordnet.4 5 Auch im temporären, scheinbaren Gelingen und letztendlichen Scheitern der Vermählung ähneln sich die Texte: sowohl Melusine als auch Undine gehen die Ehe ein, bevor diese im weiteren Verlauf ihrer Geschichten zerbricht.

Der Versuch des Verhinderns dessen wird „als Aufgabenstellung an den menschlichen Partner gefaßt“5, und hierin liegt ein Unterscheidungsmerkmal der zwei Texte: während die melusinische Variante den Erfolg der Mahrtenehe an die Einhaltung eines Tabus bindet - im Fall vom Reymund das samstägliche Entsagen -, ist in der undinischen Variante „die Treue nicht in einer spezifischen Tabuwahrung konkretisiert, sondern sie erscheint als schwierige Aufgabe“6, die oft durch eine menschliche Nebenbuhlerin erschwert wird.6 7 Dahingehend seien Undine und Melusine als gegensätzliche Umsetzungen des Mahrtenehenstoffs zu verstehen.8 9 Auf diesem Verständnis aufbauend, wird im Folgenden der Grad der Verwandtschaft der zwei Figuren zueinander einer näheren Betrachtung unterzogen. Hierbei nimmt der Aspekt der Naturdämonie (v.a. deren regressivem Wandel) eine Schlüsselrolle ein. Zunächst folgt an dieser Stelle ein motivgeschichtlicher Überblick, welcher das Argument für die Fluidität des Mythos im Allgemeinen und die Regression der Naturdämonie im Besonderen bildet. Im Anschluss wird ebenjene Regression u.a. anhand des Beispiels der undinischen Wasserfrauen in Fouqués Undine und ferner Hans Christian Andersens Die Kleine Meerjungfrau im Vergleich zu Thürings Melusine untersucht.

Kern der Untersuchung bildet die Frage der Verortung der Undinenfigur innerhalb des Entdämonisierungsprozesses. Wohnt ihr die melusinische Naturdämonie noch inne, oder stellt sie einen davon losgelösten Neuentwurf der Wasserfrau dar?

2. Die Fluidität der Wasserfrau: ein motivgeschichtlicher Überblick

Die Motivgeschichte der Wasserfrau (ein Sammelbegriff, der zahlreiche Unterarten umfasst) ist bis auf die griechische Antike und deren „Schreckensgestalten wie Skylla, die Sphinx, Circe oder die Sirenen“9 zurückzuführen. Die Weiblichkeit ebenjener Gestalten bildet den Kern des Motivs bzw. den Schlüssel zu den Vorstellungen, die sie verkörpern:

Die Frau stünde somit für alles, wovor der Mann Angst hat, aber gleichzeitig auch für alles, was er begehrt. In der Frau schwankt der Mann zwischen Angst und Begehren, zwischen dem Wunsch, sie hörig zu machen und der Furcht vor ihrer geheimnisvollen Macht. Sie stellt alle Werte und Gegenwerte dar, sie ist Engel und gleichzeitig Dämon, verkörpert alle moralischen Werte und deren Gegenteil.10

Dieses Spannungsverhältnis von Furcht und Begierde, in dem sich der Mann (bzw. Mensch) befindet, setzt sich den in Reproduktionen des Mythos aus dem Mittelalter fort, einer „Epoche, in der der Sirenenmythos allgegenwärtig war. “11 Solche Reproduktionen nehmen allerdings vom Weltbild ihrer Zeit geprägten Änderungen am tradierten Stoff vor; v.a. die Gestaltung der Wasserfraufigur wird „mit der Christianisierung zunehmend negativ. “12 Beeinflusst von der klerischen Vorstellung vom „Laster der curiositas“13, wird ihr die Rolle der heidnischen Dämonin zugeteilt, die in ihrem Wesen dem gottesfürchtigen Christen diametral gegenübergestellt ist und ebenjenen mit ihrer „ verführerisch vitalen Macht weiblicher Erotik“14 in Versuchung führt. Ihr Lockruf ins Naturhaft-Aquatische ist auch die Aufforderung, sich dem Glauben ab- und dem Heidnischen hinzuwenden. Damit ist die Begierde, die der Mann für die Wasserfrau empfindet, ein sündhaftes Laster, gegen das es anzukämpfen gilt, die Angst wiederum Ausdruck seiner (christlichen) Ratio. Das sirenische Spannungsverhältnis ist also beibehalten, aber nun klarer moralisiert.

Eine frühe divergierende Umsetzung dieser Vorstellung „unter positivem Vorzeichen“15 bietet Gottfried von Straßburgs Versroman Tristan (1210), in welchem der titelgebende Held seine Geliebte Isolde im Versuch, ihr Erscheinungsbild gerecht in Worte zu fassen, mit den Sirenen vergleicht. Die für den Mythos typische Verknüpfung der „Reinheits-Phantasie der Frau mit der Begehrens-Phantasie des Mannes“16 ist hier erkennbar, wird jedoch zwecks eines Ausdrucks positiv zu wertender Hingezogenheit angewandt anstatt der epochentypischen (bewussten oder unbewussten) Furcht.11 12 13 14 15 16 17

Eine solche Abweichung vom klerischen Verständnis der Wasserfrau - bereits im Mittelalter - stellt die Fluidität des Mythos unter Beweis; er besitzt keine transepochale Einheitlichkeit, sondern wird vielmehr als „Sirenen-Melusinen-Undinen-Ophelia- Mythos [...] in den unterschiedlichsten Erscheinungsformen rezipiert und reproduziert“18 d.h. unterliegt einem ständigen Wandel, gelenkt von epochentypischen und autorspezifischen Welt- und v.a. Weiblichkeitsbildern.

Die Wasserfrau ist weitestgehend eine Tabula Rasa. Jede literarische Überlieferung „schreibt in den Mythos die eigenen Fragen, Antworten, Erwartungen und Ängste, schreibt in ihn ihr eigenes Begehren ein. “19 Entsprechend setzt sich dieser fluide Replikations- und Modifikationsprozess in Thürings Melusine wie als auch Fouqués Undine fort:

Der zunehmende Einfluß des Christentums auf die schriftlichen Ausarbeitungen des Wasserfrauenmotivs führte gegen Ende des Mittelalters zu einer allmählichen Umdeutung des mythischen Gutes. Mit dem Eintritt in die Neuzeit fand eine progressive Entdiabolisierung und Domestizierung der Melusine und überhaupt der Gestalt der Wasserfrau im Kontext der patriarchalen Mythenwelt statt.18 19

Im hier beschriebenen progressiven Wandel sind Melusine und Undine verschieden verortet. Thürings spätmittelalterlicher Roman „lässt sich als eine stark bearbeitende Übersetzung auffassen, wobei [...] die Versversion Couldrettes als unmittelbare Vorlage diente. “21; darauffolgend wirken sich die in Thürings Bearbeitungen enthaltenen neuen Ansätze nachhaltig auf spätere literarische Überlieferungen der Melusinensage aus.20

Fouqués romantische Erzählung markiert wiederum den letzten Meilenstein vor dem in Hans Christian Andersens Märchen Die kleine Meerjungfrau vollzogenen „unüberschreitbaren Höhepunkt im Domestizierungsprozeß der Sirenen und Melusinen“23. Die „konsequente Weiterführung“24 von Fouqués Ansätzen resultiert in der Domestizierung oder „Zähmung“ der Wasserfrau.

[...]


1 Alle Zitate und Seitenangaben zu Undine aus: Fouqué, Friedrich de la Motte. Undine. Eine Erzählung. Stuttgart 2001.

2 Alle Zitate und Seitenangaben zu Melusine aus: Thüring, von Ringoltingen & Roloff, Hans-Gert (Hrsg.). Melusine. In der Fassung des Buchs der Liebe (1587). Ditzingen 2020.

3 Mertens, Volker. Undine, Melusine, Isolde. Die Frauen aus der Anderswelt. In: Borris, Sabine und Krautscheid, Christiane (Hrsg.). O, sink hernieder, Nacht der Liebe. Tristan und Isolde. Der Mythos von Liebe und Tod. Berlin 1998. S. 87-95. S. 88.

4 vgl. ebd., S. 88.

5 Mertens, Volker. Melusinen, Undinen. Variationen des Mythos' vom 12. bis zum 20. Jahrhundert. In: Janota, Johannes (Hrsg.): Festschrift Walter Haug und Burghart Wachinger. Bd. I. Tübingen, 1992. S. 201-232. S. 202.

6 Mertens 1992, S. 202.

7 vgl. ebd., S. 203.

8 vgl. Mertens 1998, S. 88.

9 Gutiérrez Koester, Isabel. "Ich geh nun unter in dem Reich der Kühle, daraus ich geboren war ...". Zum Motiv der Wasserfrau im 19. Jahrhundert. Berlin 2001. S. 6.

10 ebd., S. 6.

11 Kraß, Andreas. Poetik der Stimme. Der Gesang der Sirenen in Homers „Odyssee", im „Tristan" Gottfrieds von Straßburg und im „Buch der Natur" Konrads von Megenberg, in: Bennewitz, Ingrid (Hrsg.) & Layher, William (Hrsg.). Der âventiuren don. Klang, Hören und Hörgemeinschaften in der deutschen Literatur des Mittelalters. Wiesbaden 2013. S. 31-43. S. 34.

12 Volmari, Beate. Die Melusine und ihre Schwestern in der Kunst. Wasserfrauen im Sog gesellschaftlicher Strömungen. In: Roebling, Irmgard (Hrsg.): Sehnsucht und Sirene. Vierzehn Abhandlungen zu Wasserphantasien. Pfaffenweiler, 1992. S. 329-351. S. 329.

13 Mauser, Wolfram. Diana und Aktäon. Zur Angst-Lust des verbotenen Blicks. In: Roebling, Irmgard (Hrsg.): Sehnsucht und Sirene. Vierzehn Abhandlungen zu Wasserphantasien. Pfaffenweiler, 1992.S. 293-329. S. 298.

14 ebd., S. 294.

15 Kraß 2013, S. 34.

16 Mauser 1992, S. 297.

17 vgl. Kraß 2013, S. 34f.

18 Otto, Beate. Unterwasser-Literatur. Von Wasserfrauen und Wassermännern. Würzburg 2001. S. 17.

19 Stuby, Anna Maria. Vom Kommen und Gehen Undines. Ein feministischer Blick auf die Rezeptionsgeschichte des Wasserfrauenmythos. In: Feministische Studien. 1992. Heft: 1. S. 5-22. S. 5. (Stuby 1992a)

20 Gutiérrez Koester 2001, S. 62.

Ende der Leseprobe aus 15 Seiten

Details

Titel
Die hybride Nymphe. Zur Umsetzung der melusinischen Naturdämonie in der Undinenfigur des 19. Jahrhunderts
Hochschule
Universität Leipzig  (Germanistik)
Veranstaltung
Thüring von Ringoltingen, Melusine
Note
1,3
Autor
Jahr
2020
Seiten
15
Katalognummer
V998726
ISBN (eBook)
9783346370624
ISBN (Buch)
9783346370631
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Undine, Melusine, Die kleine Meerjungfrau, Wasserfrauen, Romantik, Mediävistik, Fouqué, Ringoltingen, Andersen
Arbeit zitieren
André Leroux (Autor:in), 2020, Die hybride Nymphe. Zur Umsetzung der melusinischen Naturdämonie in der Undinenfigur des 19. Jahrhunderts, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/998726

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