Gliederung:
1. Relevanz der Fragestellung
2. Welterkenntnis bei Hildegard von Bingen
2.1. Hildegard als Visionärin
2.2. Scivias
2.3. Liber Vitae Meritorum
2.4. Liber Divinorum Operum
3. Schlussbetrachtungen
4. Bibliographie
1. Relevanz der Fragestellung
In dieser Arbeit soll es um Welterkenntnis gehen. Doch was verbirgt sich überhaupt hinter diesem Thema? Um über einen Sachverhalt sinnvoll sprechen zu können, ist es wichtig die Begrifflichkeiten zu verstehen. Darum ist es als Ausgangspunkt der Betrachtung des Werkes Hildegard von Bingens notwendig, zu klären, was die Schlüsselbegriffe Erkenntnis und Welt beinhalten sollen. Entsprechend des Philosophielexikons der abendländischen Philosophie soll hier 'Erkenntnis' einer Sache bedeuten, dass 1. ein Anschauung wahr ist, 2. eine Person vom Wahrheitsgehalt ihrer Anschauung überzeugt, und sie 3. "gute, ausreichende oder zwingende Gründe für ihre Überzeugung hat".1 Für den Begriff 'Welt' zeigen sich schon mehrere Lesarten. Am verständlichsten in Hinblick auf das Werk Hildegards ist sicherlich die Abgrenzung von Welt, als das Irdische und Materielle.2
Hildegards Beschäftigung mit dem Thema der Welterkenntnis steht in einer langen ideengeschichtlichen Tradition. Das Wort 'Philosophie' kann man ersetzen durch 'Weltbild', wo schon semantisch auf die enge Verbindung von Welt und Erkennen hingedeutet wird. Schon die ersten Philosophen stellten sich die Frage, was die sie umgebende Welt eigendlich ausmache. Die Vorsokratiker debattierten eine "rationale Einheit und Ordnung"3, die die ständig bewegte Welt beherrscht und ihr zugrundeliegt, Goethes Faust wollte "erkennen was die Welt im Innersten zusammenhält"4, Sartre und Camus thematisieren das Absurde als Verhältnis zwischen Welt und Mensch. Die Frage nach der Grundordnung der Welt mag man rein materialistisch oder mit Blick auf ein höheres Wesen beantworten, gleich wie, sie ist ein wesentlicher Schritt in der Frage nach dem Wesen des Menschen. Denn nur, wenn man die Welt um sich herum versucht zu begreifen, hat man überhaupt eine Chance sich selbst, da man nicht unwesentlich Teil dieser Welt ist, zu verstehen.
2. Welterkenntnis bei Hildegard von Bingen
2. 1. Hildegard als Visionärin
Wesentlich für ein Verständnis des Werkes Hildegards, ist die Tatsache, dass ihre Erkenntnisse zu einem wesentlichen Teil auf Visionen basieren. Sie war seit ihrer Kindheit der festen Überzeugung Gott persönlich gäbe ihr Bilder ein und späche zu ihr: "Die Kraft und das Mysterium verborgener, wunderbarer Gesichte erfuhr ich geheimnisvoll in meinem Inneren seit meinem fünften Lebensjahr, so wie ich sie auch heute noch erfahre".5 Hildegard distanziert sich in ihrem Wirken aufgrund der visionären Gabe eindeutig von den diskursiven und abstrakt begrifflichen Überlegungen der Gelehrten an den Artistenfakultäten und Domschulen ihrer Zeit. Stattdessen ze igt sich das Erkennen der Prophetin stark intuitiv und von konkreter Bildhaftigkeit. Es fußt auf Religion, nicht Universitätsphilosophie. Der Kernpunkt jeder Religion, die "Vermittlung von Transzendenz in Immanenz",6 zeigt sich bei Hildegard ganz unmittelbar: als Vision, also einer Selbstvermittlung Gottes zur Seherin. Ihr Verhältnis zu Gott ist dabei nicht das von Dialogpartnern, die Verbindung ist vielmehr die persönliche Erfahrung mit "jenem Gott, der die ganze Welt und den ganzen Menschen geschaffen hat".7 Alles Wirken Hildegards ist ausgerichtet auf den Allmächtigen, nur über ihn, über den Glauben, kann "das geheimnisvoll geistige Wesen des Menschen und des Kosmos offenbar"8 werden. Darum ist Welterkenntnis für Hildegard nur denkbar über den Bezug zum Schöpfer. Sie steht damit in der christlichen Tradition des früheren Mittelalters, wo Augustinus erstmals erklärte: "Ich glaube, um zu verstehen".9 Das Wissen, welches Gott Hildegard in den Schauungen eingibt, muss kraft dieser höchsten Autorität unzweifelhaft die Wahrheit sein, zumindest aus ihrer Perspektive. Aus dem vielfältigen Nachlass Hildegards sollen deshalb zum Thema der Welterkenntnis ihre visionären Schriften intensiver durchleuchtet werden. Dazu betrachte ich Passagen aus dem "Scivias", dem "Liber Vitae Meritorum" und "das grandioseste Werk der Heiligen",10 das "Liber Divinorium Operum", ebenfalls anhand von Textstellen.
2. 2. Scivias
Im Jahre 1141 begann Hildegard mit der Niederschrift ihres großen visionären Werkes "Scivias" [Wisse die Wege]. Dem voraus ging die direkte Berufung Hildegards in einer Vision das Wort Gottes nicht nur selbst aufzunehmen, sondern das, was sie sieht und hört aufzuschreiben und weiterzutragen: "Ich will, dass du redest, obgleich du Asche bist".11 In den nun folgenden zehn Jahren vervollständigt sie eine Darstellung des Wirkens Gottes in der Welt, von Anbeginn der Zeit, als Gottes Schöpfung in vollkommener Ordnung war, über den Sündenfall der sie in Unordnung brachte, bis zum erlösenden jüngsten Tag, der eine neue Weltordnung bringt. Gegliedert ist "Scivias" in drei Teile, ein Hinweis auf die Dreifaltigkeit Gottes. Die zentrale Fragestellung Hildegards ist das Rätsel der göttlichen Weltschöpfung. In den Visionen sieht sie, wie eng doch die irdische Welt mit ihrem Schöpfer verbunden ist. Alles um uns herum Erfahrbare weist ihr symbolisch und in Bildern verschlüsselt auf Gott hin. Das Irdische gibt einen kleinen Ausblick auf die transzendierende Dreifaltigkeit. Dabei ist es wichtig festzuhalten, dass Gott trotz seiner Ähnlichkeit mit seiner Schöpfung unbedingt eine selbständige Entität bleibt und nicht in der Welt aufgeht, wie es die Sicht des Pantheismus wäre. Gott kann "durch den Spiegel des Glaubens"12 als Abglanz in der Welt geschaut werden, Er selbst bleibt dabei einer vollkommenen Erkenntnis durch den Menschen verborgen, seine unfassbare Größe unerreichbar: "Die heilige Gottheit kann keiner je begreifen oder auch nur berühren mit seinem Verstand, so hoch er ihn auch emporrecken mag. Gott ist höher als alles".13 Doch auch wenn eine absolute Erkenntnis der Welt und ihrer göttlichen Ordnung unmöglich ist, geht Hildegard doch davon aus, dass man sich als Mensch die Frage der Welterkenntnis stellen kann und auch muss. Ihr Ziel ist die größtmögliche Annäherung an ein Verständnis, welches erst außerhalb dieser Welt durch Gott Vollständigkeit erhalten wird. Die Prophetin richtet ihren erkenntnissuchenden Blick stets sowohl auf die Details der einzelnen Dinge in der Welt, als auch auf das Große und Allgemeine im Kosmos. Sie muss sich nicht entscheiden die Welt nur induktiv oder deduktiv zu betrachten, im Gegenteil. Hildegard erkennt auch in den Details, die eine Handlung, einen Menschen oder ein Objekt ausmachen, noch Spuren des Göttlichen. Und gleichzeitig sieht sie selbst in ihren umfassenden Visionen des Weltganzen noch, welche Rolle die einzelnen winzigen Elemente spielen, die jedes für sich, aber auch gleichzeitig in ihrer Einheit Göttliches erkennen lassen. Ihre Erfahrung war anders als unsere heutige noch offen dafür, in der Welt mehr zu sehen als eine Summe materieller Objekte, mit denen der Mensch sowieso nichts zu tun hat. Im Gegenteil, Hildegard zeigt eine bemerkenswerte Offenheit für das Transzendente, sowohl in sich selbst, als sie Gottes Organon ist, als auch in der sie umgebenden Welt.
Möglichkeiten, wie der dreifaltige Gott sich in der irdischen Welt symbolisch wiederspiegelt, sieht Hildegard unter anderem im gesprochenen Wort und einer Flamme. In der Trinitätsvision im zweiten Buch der Scivias schildert sie, wie das Wort durch Schall, Prägung und Hauch ensteht. Dabei, so Hildegard, weist der Schall bildhaft auf den Vater hin, "der mit unsichtbarer Macht alles weithin offenbart",14 in der Prägung erkennt man den aus dem Vater gezeugten Sohn und im Hauch des Wortes den heiligen Geist wieder, der die Menschen durchströmt. Auch Licht, Hauch und feurige Glut, die drei Kräfte der Flamme, spiegeln die "Einheit der Gottheit"15 wieder. Hildegards Symbolsprache sollte hier nicht so verstanden werden, dass das Zeichen der Flamme in der Art einer Allegorie von seinem Wortsinn weg, auf eine andere eigendlich gemeinte Ebene, weist. Vielmehr beinhalten Hildegards Bilder trotz dem sie zeichenhaft sind, immer auch das Gezeigt selbst. Sie sind, wie Führkötter und Sudbrack schreiben, "Realsymbole", d. h. Bild und Gezeigtes stehen in einem "inneren ontologischen Zusammenhang".16 Die Flamme steht also nicht allegorisch für das dreifaltig Göttliche, sie ist vielmehr in ihrem Sein ein Teil der von Gott durchwalteten Welt. Die sichtbare Welt ermöglicht über ihre Symbolhaftigkeit, so sie verstanden wird, das Erkennen der wahren Struktur der Wirklichkeit, wie sie von Gott selbst ausgeht. Die moderne Reduzierung der Welt auf willkürliche mechanistische Abläufe und physikalische Notwendigkeiten liegt Hildegard völlig fremd. Die wahre Wesensart der Dinge besteht in Hildegards Vorstellung, in deren Verbundenheit zum Ganzen, welches Gott ist. Die Wirklichkeit geht über das Sichtbare hinaus, zum Transzendenten. Die Welt, so wie die Seherin sie erkennt, wurde gewollt, hat eine höher liegende Bedeutung. Aus diesem Grunde stehen alle Elemente der Welt miteinander in Abhängigkeit. Auch die Menschen sind ein Teil dieser ge schaffenen Welt und miteinander verbunden. So schreibt Hildegard: "Die Frau ist um des Mannes willen erschaffen und der Mann um der Frau willen".17 Die Ordnung, die Hildegard in der Welt erkennt, ist demnach keine willkürliche Interpretation oder Sinnzuschreibung, sondern deren wahres, gottgewolltes Wesen.
2.3. Liber Vitae Meritorum
Das zweite Visionswerk Hildegards, das Buch der Lebensverdienste, thematisiert größtenteils ethische Fragen. Jedoch finden sich auch hier Aussagen zur Welterkenntnis. So äußert Hildegard im dritten Buch in der zweiten Schau den Gedanken der 'Viriditas', der Grünheit bzw. Lebensgrüne. Diese Grüne ist jene Kraft die die gesamte Schöpfung durchdringt, sie wachsen und fruchtbar werden lässt. Sicherlich spiegelt sich in diesem Begriff Hildegards die grüne rheinische Umgebung wieder, welche sie zeitlebens intensiv studierte. Viriditas beschränkt sich allerdings nicht auf eine Bezeichnung rein biologischer Vorgänge in der Natur, sie ist auch jene Lebenskraft, die im Sittlichen und Religiösen ständig erneuernd wirkt: "Ich aber bin die milde Luft aller keimenden Grüne. Blumen und Früchte jeglicher Tugend lasse ich sprossen..."18. Im Ausdruck 'jeglicher Tugend' macht Hildegrad deutlich, dass sich Welt nicht nur auf Naturvorgänge beschränken lässt, sondern mit einer geistigen, qualitativen Ebene, wie sie z.B. in der Religion zum Ausdruck kommt, verbunden ist. Auch im 'Liber Divinorum Operum' greift Hildegard den Gedanken der Lebensgrüne wieder auf: "Aus lichtem Grün sind Himmel und Erde erschaffen und alle Schönheit der Welt".19 Hier zeigt die Seherin deutlich ihre Wertschätzung der diesseitigen Welt. Nicht nur das jenseitige himmliche Reich trägt Herrlichkeit in sich, sondern schon diese endliche Welt wird von Gottes Schönheit durchdrungen. Sie sieht in der Viriditas einen Ausdruck des Heiligen Geistes: "Der Geist geht aus, grünt und bringt Frucht. Das ist das Leben".20
Wenn der Mensch sich nun gegen diese Ordnung wendet, die Viriditas stört, dann wiedersetzt er sich ganz klar dem Schöpfer. Hildegard beschreibt im Liber Vitae Meritorum eindeutig, welche Folgen solch ein Frevel hat: "Ach es welkt die grünende Lebenskraft durch den gottlosen Irrwahn der verblendeten Menschen."21 Sie spricht mit Umweltzerstörung ein Thema an, welches gerade heutzutage wieder von großer Aktualität ist. Und sie warnt: "Der Mensch ist ein Rebell...Darum wendet sich die Natur gegen ihn".22 Mit diesem Gedanken zeigt Hildegard, wie der Schöpfer Verantwortungslosigkeit gegenüber der natürlichen, religiösen und sittlichen Lebenskraft mit Naturkatastrophen straft. Diese Vorstellung erinnert an die Beschreibung der Sintflut: "Der Herr sah, dass auf der Erde die Schlechtigkeit zunahm...Da sprach Gott zu Noach: Ich sehe, das Ende aller Wesen aus Fleisch ist da; denn durch sie ist die Erde voller Gewalttat. Nun will ich sie zugleich mit der Erde verderben".23 Deshalb fordert Hildegard, dass der Mensch seine umfassende Verantwortung vor der Weltordnung erkennt und sich ihr stellt, denn sein Dasein darin ist nicht sinnlos und zufällig, sondern gewollt und mit dem Plan Gottes verknüpft. Es ist wichtig zu bemerken, dass sich Hildegard in ihrer tiefgreifenden christlichen Spiritualität eben gerade nicht vom Diesseits abwendet, gleichwohl diese Welt unvollkommen und unerlöst ist. Sondern sie zeigt, dass gerade über die Gotteserfahrung, die Orientierung am Transzendenten, die menschliche Verantwortung für diese endliche Welt noch zunimmt. Sie verlangt, dass alle Menschen ständig für das Gute und das Leben kämpfen und sich nicht in die "...blöde Ausrede: Wir kommen doch nicht mehr an gegen diese Welt!"24 flüchten.
2.4. Liber Divinorium Operum
Im 'Buch der göttlichen Werke' führt Hildegard den Gedanken der Verbundenheit von 'Welt und Mensch'25 ausführlich weiter. Sie beginnt dabei mit Reflexionen zum Johannes- Evangelium: " Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und das Wort war Gott...In ihm war das Leben und das Leben war das Licht der Menschen".26 Dieses Wort, welches am Anfang stand, ist der zentrale Ausgangspunkt der kosmischen Ordnung. Es enthält die zielgerichtete Entwicklung in Natur, Geschichte und Menschheit, welche alle im gemeinsamen Akt der Schöpfung verbunden sind. Die bewegenden Kräfte dieser Entwicklung sind der göttliche Plan und die menschliche Freiheit.
Nur indem Mensch und Welt der gleichen göttlichen Ordnung unterliegen, ist es diesem Geschöpf überhaupt vorstellbar, den Abglanz des Schöpfers in seinem Werk zu erkennen.
"Sein Werk (des Sohnes Gottes, der das Leben der Schöpfung ausmacht) ist in die Gestalt des Menschen eingezeichnet...Mit Hilfe des Sehvermögens nämlich erkennt und unterscheidet der Mensch alles...alle Klänge des Ruhmes über die verborgenen Geheimnisse. Ja aus sich selbst heraus kommt hier der Mensch zu einem Verständnis des Ganzen".27 Er beinhaltet also die einzigartige Gabe sowohl der weltlichen, als auch der göttlichen Erkenntnis, "Der durch die Seele göttliche und durch die Erde irdische Mensch ist also das volle Werk Gottes; darum weiss er auch um das Irdische und im Spiegel des Glaubens erkennt er das Himmliche"28 und "...der Mensch ist auch der Werkmann Gottes, er muß...in allem die heilige Dreifaltigkeit offenbaren: er, den Gott zu seinem Bild und Gleichnis schuf".29
Hildegard zeigt hier ein einzigartiges Dreiecksverhältnis von Natur, Mensch und Gott. Die Natur ist vom Göttlichen durchdrungen, durch das Wort Gottes, welcher aus seinem Wesen heraus diese Welt formte. Der Mensch ist Bestandteil dieser Welt. Er erkennt in ihr sowohl sich selbst, als auch den Schöpfer wieder. Diese Erkenntnis ist dem Menschen nicht nur als bloße Möglichkeit gegeben. Hildegard zeigt deutlich, dass genau in diesem Erkennen die spezifisch menschliche Bestimmung liegt. Er muss als Werkmann das Verborgene offenbaren, denn er ist nach dem Ebenbild des Schöpfer geschaffen. Hierdurch ist er von allen lebenden Wesen am ehesten in der Lage, die Bedeutung des Wort Gottes als Prinzip der Schöpfung zu begreifen, wenn auch nicht vollständig. Desweiteren ist er das einzige irdische Wesen, welchem schon im Diesseits, über den Glauben, eine konkrete Gewissheit des Göttlichen gewährt wird. Wirkliche Erkenntnis setzt sich für Hildegard also zusammen aus: dem Erkennen Gottes selbst, was im Glauben und der visionären Begegnung geschieht, zweitens aus der Erkenntnis des Wortes, wie es in der Heiligen Schrift zu finden ist, und drittens der Erkenntnis der Welt, welche ebenfalls den Abdruck des Göttlichen in sich trägt.
Es ist entscheidend, dass der Mensch von Gott diese Gabe des Erkennens und Urteilens verliehen bekommen hat, denn aus diesen Merkmalen resultiert dessen Freiheit. Zwar entspringt aus der Existenz des Mensche n eine mit dessen Erkenntnisfähigkeit verbundene Verantwortung gegenüber dieser Welt, aber aufgrund eben dieser Fähigkeit ist es ihm auch möglich auf die gottgeschaffene Ordnung rückzuwirken. Der Mensch hat die Anlage diese Verantwortung zu verneinen. Mit dem Sündenfall (und jeder darauffolgenden Sünde) stellt er sich gegen die göttliche Weltordnung; er verursacht, dass die Welt von der Constitutio in die Destitutio gerät. Er ist das Wesen, welches sich entscheiden kann, ob es die von Gott gegebenen Kräfte für oder gegen die Weltordnung einsetzt. Somit nimmt der Mensch die zentrale Stellung in der Welt ein: "Er [Gott] hat den Menschen in dieser (Welt) mit all diesen Dingen umgeben...mit grösster Stärke allseits durchströmt".30 Um die ursprüngliche Einheit wieder herzustellen liegt es an der Menschheit sich für das Werk Gottes zu entscheiden, "ihm in allen Dingen beistehen und an seinen Werken teilnehmen".31 Es ist bezeichnend, dass Gott den Weg zur Wiederherstellung der göttlichen Weltordnung mittels einem Menschen aufzeigte. Durch die Menschwerdung Gottes in Jesus Christus, "dem radikalen Eindringen des Göttlichen in das Zentrum der menschlichen Erfahrung"32 zeigt gerade das Wesen, welches die Entfremdung des Menschen aus der ursprünglichen Einheit verursacht hatte, den Weg, welcher die ursprüngliche Einheit wiederzubringen vermag.
Doch es findet sich neben Hildegards Darstellung der Welt als Dreiecksverhältnis noch ein weiterer Aspekt der Welterkenntnis im Buch der göttlichen Werke. Dazu wird der Prophetin in der zweiten Vision des ersten Buches ein Bild des Kosmos als ein Weltenrad gezeigt: "Die Gottheit ist nämlich im Vorauswissen und in ihren Werken gleichsam wie ein Rad".33 Das Rad symbolisiert Gott, wie Er die Welt umschließt, in deren Mittelpunkt die Menschheit steht. Der Mensch hat dank seiner zentralen Stellung, die einzigartige Möglichkeit über den Glauben, der die "Wissenschaft der wahren Liebe"34 ist, einen Blick auf dieses Weltenrad zu richten. Dieser Ausblick des begrenzten Menschen auf die Schöpfung wirkt "für die menschliche Natur erstaunlich" .35 Denn das Rad als vollständig symetrische Figur spiegelt die unfassbare Vollkommenheit und Einheit des Schöpfers wieder. So, wie die Kreisform des Rades alle denkbaren geometrischen Formen beinhaltet, gibt es gleichsam in der Welt nichts, was nicht von Gott umfasst würde. Während in Hildegards Vision im Mittelpunkt des Weltenrades die Menschen auf der Erde stehen, so vereinigen sich um sie herum verschiedene ineinandergeflochtene Kreise, ähnlich der Sphären des ptolemäischen Weltbildes. Diese Kreise symbolisieren die verschiedenen Elemente, wie die des 'reinen Äthers', der 'lichtvollen Luft', der Erde, des Wassers und des Feuers.36 Sie sind die Kräfte welche in ihrer harmonischen Anordnung und in ihrem rechten Maß, der Welt als geordnetes Ganzes Stabilität verleihen.
Jedoch zeichnet sich Hildegards Bild des Weltenrades nicht nur durch seine Geordnetheit und hierarchischen Aufbau aus, es beinhaltet auch ständige Bewegung. In der Form des Rades wird auch die Abfolge der Zeit dargestellt. Die Gottheit selbst kann zwar "von niemandem [vollständig] umfasst werden, weil sie zeitlos ist".37 Der Mensch jedoch lebt in einer "unaufhörlich sich drehend[en]"38 Welt. Immer wieder erlebt er das Entstehen, Wachsen und Vergehen alles Lebenden. Hildgards Symbold des drehenden Rades darf hier jedoch nicht mit dem sich zyklischen Geschichtsbild fernöstlicher Religionen verwechselt werden, sondern vielmehr dahin, dass das Weltenrad sich linear, aber wie in einer Kreisbahn, auf den Punkt hin bewegt, an dem die Welt dorthin zurückkehren wird, wo sie begonnen hat, zu Gott dem Anfang und unwiderruflichen Ende alles Existierenden. Die Welt ist wie Gott ein in sich geschlossenes, vollständiges Ganzes.
3. Schlussbetrachtungen
Das wesentliche Merkmal Hildegards Weltbild ist wohl, das In-Beziehung-Setzen. Während heutzutage immer stärker die Trennung des Einzelnen vom Allgemeinen, des Subjektiven vom Objektiven propagiert wird, zeigt Hildegard eine sinnvolle verbindende Ordnung in der Welt auf. Der Mensch erkennt sie ihn umgebende Welt nicht nur, er verhält sich zur Welt, und diese wiederum steht in einem Verhältnis zu ihm. Keines der von Gott geschaffenen Elemente steht für sich allein, sondern sie sind alle miteinander vereinigt. Auch darin zeigt sich die Reichhaltigkeit die Hildegards Philosophie so faszinierend macht. Sie demonstriert, wie die Dreifaltigkeit Gottes die Ordnung der Welt ausmacht. Während das Wort des Vaters das Weltganze konstituiert, durchströmt der Heilige Geist diese Welt und erfüllt sie mit einer sich fortwährend wiederbelebenden Lebensgrüne. Der Sohn wiederum symbolisiert die zentrale Stellung des Menschen in diesem Gefüge, er verbindet die Gläubigen und weist den Weg, wie diese Gottes Plan erfüllen und die Weltordnung in ihren harmonischen Zustand zurückführen können. Hildegard vereint natürliche, seelisch geistige und göttliche Kräfte zu einem Panorama, welches sich von Gott, zum Menschen und der Welt hin zur Erkenntnis dieser kosmologischen Ordnung erstreckt. Somit erschafft sie ein packendes Weltbild von wahrhaft kosmischen Dimensionen.
4. Bibliographie
Bingen, Hildegard von (1989): Das Buch der göttlichen Werke - Liber Divinorum Operum, übers. von P. Paul Suso Holdener, Ro nchin: Hovine.
Bingen, Hildegard von (1997): Im Feuer der Taube - Die Briefe, 1. vollst. Ausg., übers. von Walburga Storch, Augsburg: Pattloch.
Eliass, Claudia (1995): Die Frau ist die Quelle der Weisheit: Weibliches Selbstverständnis in der Frauenmystik des 12. und 13. Jahrhunderts, Pfaffenweiler: Centaurus.
Führkötter, Adelgundis / Sudbrack, Josef (1984): Hildegard von Bingen, In: Ruhbach, Gerhard / Sudbrack, Josef [Hg.]: Große Mystiker - Leben und Wirken, München: Beck.
Goethe , Johann Wolfgang v. (1992): Faust-Dichtungen, Stuttgart: Reclam.
Hügli, Anton / Lübcke, Poul [Hg.] (2000): Philosophielexikon, Personen und Begriffe der abendländischen Philosophie von der Antike bis zur Gegenwart, 3. Aufl., Reinbek: Rowohlt.
Jung, Carl Gustaf (1960): Gesammlte Werke, Bd. 6, Zürich / Stuttgart: Rascher.
Katholische Bibelanstalt GmbH (1980) Die Bibel - Altes und Neues Testament, Einheitsübersetzung, Freiburg i. B.: Herder.
Kranz, Gisbert (1998): Biographien Bd. 1 - Zwölf Frauen, St. Ottilien: Eos.
Mann, Ulrich (1990): Einführung in die Religionsphilosophie, Darmstadt: Wiss. Buchgesellschaft.
Tarnas, Richard (1999): Idee und Leidenschaft - Die Wege des westlichen Denkens, München: dtv.
[...]
1 Hügli / Lübcke 2000, S. 183.
2 Ebenda, siehe S. 666f.
3 Tarnas 1999, S. 26.
4 Goethe 1992, S. 29.
5 Vorrede Scivias, zit. in Führkötter / Sudbrack 1984, S. 130.
6 Mann 1990, S. 77.
7 Heinrich Schipperges, in Eliass 1995, S. 68.
8 Tarnas 1999, S. 141.
9 Ebenda.
10 Führkötter / Sudbrack 1984, S. 128.
11 Scivias III, 1 zit. in Führkötter / Sudbrack 1984, S. 131
12 Bingen 1997, S. 205.
13 Scivias III, 1 , zit in Kranz 1998, S. 29.
14 Scivias II, zit. in Führkötter / Sudbrack 1984, S. 134.
15 Ebenda, S. 135.
16 Führkötter / Sudbrack 1984, S. 134; desweiteren siehe Jung 1960, Stichwort Symbol, S. 515ff.
17 Kranz 1998, S. 30.
18 Führkötter / Sudbrack 1984, S. 136.
19 zit. in Kranz 1998, S. 31.
20 Ebenda.
21 Liber Vitae Meritorum, III, 2, ebenda.
22 Ebenda.
23 Genesis 6,5 und 6,13.
24 Brief an Philipp von Heinsberg, zit. in Kranz 1998, S. 41.
25 So Heinr ich Schipperges Übersetzung des Titels 'Liber Divinorum Operum', auch 'Operatione Dei' genannt.
26 Johannes 1,1 und 1,4.
27 vierte Vision, zit. in Führkötter / Sudbrack 1984, S. 139.
28 Bingen 1989, S. 241.
29 Führkötter / Sudbrack 1984, S. 132.
30 Bingen 1989, S. 61f.
31 Ebenda, S. 62.
32 Tarnas 1999, S. 159.
33 Bingen 1989, S. 62.
34 Ebenda.
35 Ebenda.
36 siehe ebenda, S. 61.
37 Ebenda, S. 62.
38 Ebenda.
- Arbeit zitieren
- Cathleen Bochmann (Autor:in), 2001, Aspekte der Welterkenntnis bei Hildegard von Bingen anhand ausgewählter Textstellen, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/99964
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