Kinder mit Asperger-Syndrom im inklusiven Unterricht der Grundschule. Chancen und Herausforderungen


Masterarbeit, 2020

97 Seiten, Note: 1,3

Anonym


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Abkürzungsverzeichnis

1. Einleitung

2. Inklusion
2.1 Die Integrationsbewegung - ein historischer Rückblick
2.2 Verschiedenheit und Gleichberechtigung in der Pädagogik der Vielfalt
2.3 Entwicklung inklusiver Prozesse im internationalen Kontext
2.4 Irritationen um das Verständnis von Inklusion
2.5 Inklusive Schulentwicklung unter Berücksichtigung der Situation in Deutschland

3. Autismus und das Asperger-Syndrom
3.1 Zuordnung des Asperger-Syndroms in der ICD-10
3.2 Historischer Abriss
3.3 Medizinische Klassifikation von Autismus
3.3.1 Erscheinungsformen nach der ICD-10
3.3.2 Autismus-Spektrum-Störungen der DSM-5
3.4 Prävalenz
3.5 Kritische Betrachtung einer Kategorisierung anhand bestehender Klassifikationssysteme

4. Inklusive Beschulung von Kindern mit Asperger-Syndrom
4.1 Besonderheiten von SchülerInnen mit Asperger-Syndrom
4.1.1 Soziales und emotionales Verhalten
4.1.2 Sprachliche Ausdrucksweisen und Kommunikation
4.1.3 Wahrnehmung
4.1.4 Lernverhalten und Denkweisen
4.1.5 Motorik
4.1.6 Routinen und Interessen
4.1.7 Autistische Verhaltensweisen unter dem Aspekt der sozialen Umwelt
4.2 Chancen einer frühen Förderung in der inklusiven Grundschule
4.2.1 Teilhabe entwickeln durch eine inklusive Pädagogik
4.2.2 Die Rolle und Haltung der Lehrkraft
4.2.3 Die Relevanz stabiler Peer-Beziehungen

5. Erfolgreiche Gestaltung der inklusiven Schule
5.1 Schulorganisatorische Rahmenbedingungen
5.2 Kontextbedingungen aus der Perspektive TEACCH
5.2.1 Strukturierung
5.2.2 Visualisierung
5.2.3 Routinen
5.2.4 TEACCH als Best-Practice-Konzept?
5.3 Ermöglichung von Teilhabe im Unterricht
5.3.1 Förderung sozialer Kompetenzen
5.3.2 Bildungsräume der Anerkennung schaffen
5.4 Erweiterte Unterstützungsplanung

6. Fazit

7. Abbildungsverzeichnis

8. Tabellenverzeichnis

9. Literaturverzeichnis

Vorwort

Bereits vor dem tatsächlichen Beginn meines pädagogischen Studiums, bei einem viermonatigen Praktikum in einer ersten Klasse, begegnete ich im Schulalltag und bei Gesprächen im Lehrerzimmer nahezu täglich der Frage: Wie komme ich mit der Heterogenität in der Klasse zurecht? Auch während der Praktika im Rahmen des Studiums zog sich die Frage nach dem Umgang mit verhaltensauffälligen SchülerInnen wie ein roter Faden durch die Gespräche mit Mentoren und Mitstudierenden. Hörte man den erfahrenen und schon länger praktizierenden Lehrkräften zu, so schien die Zahl der Kinder, die aus dem gewünschten Rahmen fallen, immer stärker zuzunehmen.

Auch Kinder mit autistischen Verhaltensweisen finden sich - bedingt durch die Einführung der Inklusion - in den allgemeinen Schulen immer häufiger wieder. Durch den Austausch mit einem mir bekannten Elternpaar, dessen autistischer sechsjähriger Sohn in die erste Klasse einer Grundschule ging, konnte ich die Problematik zusätzlich aus Sicht der betroffenen Eltern und nicht zuletzt aus dem Blickwinkel des Kindes miterleben.

Mein Interesse gilt vor allem dem Asperger-Syndrom, das als eine Form von Autismus vergleichsweise unbekannt ist - auch bei vielen Lehrkräften. Begegnen sie entsprechenden Verhaltensauffälligkeiten, so werden hauptsächlich die damit verbundenen Herausforderungen und Belastungen kommuniziert. Meine Ausführungen richten sich deshalb vornehmlich an Lehrerinnen und Lehrer, die ein Kind mit Asperger-Syndrom unterrichten. Ziel soll es sein, einen Überblick über deren Eigenschaften sowie Anregungen im Umgang mit den Entwicklungsbesonderheiten zu schaffen. Dass die Herausforderungen und die damit verbundenen Probleme als Chance verstanden und genutzt werden, den Unterricht durch gezielte Fördermaßnahmen für alle Schülerinnen möglichst optimal umzugestalten - das ist die vorrangige Intention meiner Arbeit.

Juli 2020

Abkürzungsverzeichnis

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

1. Einleitung

Das Asperger-Syndrom - eine Form von Autismus, die in den letzten Jahren zunehmend in das Interesse der Öffentlichkeit gerückt ist. Trotz oder gerade wegen der zunehmend medialen Beachtung findet sich häufig ein verzerrtes Bild oder eine vage Vorstellung, die sich vor allem auf Defizite und Fehlverhalten beschränkt. Daher wird die Umschreibung ,Asperger-Syndrom‘ in der Gesellschaft oft negativ gewertet und nur selten mit Fähigkeiten und Kompetenzen in Verbindung gebracht. Die hohe Belastung und die Einschränkungen, die sich aus dem Gefühl von Isoliertheit und Ablehnung für Betroffene ergeben, werden von Außenstehenden meist gar nicht als solche wahrgenommen.

Was es bedeutet, schon in der Kindheit mit Vorurteilen aufzuwachsen, wissen die wenigsten. Gerade die Schulzeit erleben viele Kinder mit Asperger-Syndrom als besondere Herausforderung. Der schulische Alltag, der einen wesentlichen Teil ihrer Zeit in Anspruch nimmt, ist nicht selten mit einem hohen Leidensdruck, durchgängigem Unwohlsein und Angst verbunden. Da sie ihre Umgebung grundsätzlich auf eine Art und Weise wahrnehmen, die für nicht-autistische Kinder fremd ist, treffen im Unterricht verschiedene Welten aufeinander. Ihr Verhalten wird oft missverstanden, wodurch sie schnell in eine Außenseiterrolle geraten. Dabei sind sie gerade in diesem schwierigen Lebensabschnitt einer doppelten Belastung ausgesetzt: Neben dem fachlichen Lernstoff müssen sie vor allem auch die Anforderungen des Sozialverhaltens bewältigen. Blickkontakt, ein angemessener Tonfall bei Unterhaltungen und weitere als wichtig erachtete Kommunikations- und Verhaltensregeln, die sich die meisten Kinder ohne zusätzliche Mühe bereits im Vorschulalter angeeignet haben, sind für die betreffenden Jungen und Mädchen oftmals unüberwindbare Hindernisse. Ihre Wege, mit diesen Schwierigkeiten umzugehen, wirken auf andere irritierend: Sie reagieren nicht auf eine Aufforderung, lachen in unpassenden Situationen oder neigen zu Wutanfällen und Aggressionen. Gerade mit der leichteren Form von Autismus - dem Asperger-Syndrom - bleiben die Auffälligkeiten bei vielen betroffenen Kindern dennoch lange Zeit unerkannt und werden erst in der späteren Schulzeit wahrgenommen. Infolgedessen wird die Diagnosestellung längst nicht bei allen Betroffenen mit einem sonderpädagogischen Förderbedarf ausgewiesen.

Aber nicht nur für die Kinder mit Asperger-Syndrom, auch für die Lehrkräfte wird die tägliche Konfrontation mit ungewohnten Verhaltensweisen schnell zur Herausforderung. Auf die Begleitung von SchülerInnen mit Autismus fühlen sie sich meist unzureichend vorbereitet. Da deren Verhalten trotz alledem als störend erlebt wird, werden sie im Unterricht nicht selten isolierend in einer Sitzecke beschäftigt oder auf eine Förderschule verwiesen. Mit zunehmenden anderen Auffälligkeitsformen und der wachsenden Heterogenität im Klassenzimmer sind Lehrerinnen zusätzlich mit Entwicklungsbedürfnissen konfrontiert, die sie berücksichtigen und ihr unterrichtliches Handeln darauf abstimmen müssen.

Die Frage nach dem Umgang mit verschiedensten Lernvoraussetzungen stellt sich nicht erst mit der Entwicklung des Inklusionskonzepts. Seit dem Inkrafttreten der UNBehindertenrechtskonvention im Jahr 2009 haben SchülerInnen mit sonderpädagogischem Förderbedarf das Recht, sowohl Schularten, die auf Sonderpädagogik ausgerichtet sind, als auch den Unterricht an allgemeinbildenden Schulen in Anspruch zu nehmen. Die damit einhergehende Verpflichtung stellt Schulen dennoch vor eine bedeutende Aufgabe: Heterogenität soll, so die häufig zu hörende Forderung, als Normalfall anerkannt und als Potential für die Bildungsprozesse aller genutzt werden. Es ist offensichtlich, dass dadurch besonders hohe Anforderungen an das Lehrerhandeln gestellt werden. Jedoch scheint sich gerade für Kinder, die aufgrund ihres Verhaltens „aus dem Rahmen fallen“, die Chance zu ergeben, durch angemessene Förderung ihre (oft unerkannten) Fähigkeiten weiterentwickeln zu können. Denn jedes Kind mit seinen Besonderheiten hat das Recht auf eine optimale Förderung. Das verlangt von den LehrerInnen möglichst umfassende Kenntnisse und die entsprechende Ausrichtung ihres Unterrichts.

Nicht zuletzt deshalb widmet sich die vorliegende Arbeit vorrangig der Frage, wie Rahmenbedingungen und Förderangebote in einer inklusiven Grundschule zu gestalten sind, damit Kinder mit Asperger-Syndrom davon profitieren können. Hierfür ist es wichtig zu wissen, wie sich Autismus auf das Lernen, das soziale Verständnis und die Selbstständigkeit auswirkt. Auf der Grundlage einer Auseinandersetzung mit einschlägiger Literatur soll daher Einblick in die Komplexität des Phänomens gegeben und Voraussetzungen aufgezeigt werden, die für die Teilhabe des Einzelnen am Lernprozess unverzichtbar sind.

Um den Inklusionsgedanken für eine lern- und entwicklungsförderliche Bildungsarbeit mit Asperger-AutistInnen nutzen zu können, soll zu Beginn der Frage nachgegangen werden, welche generellen gesellschaftlichen und bildungspolitischen Orientierungen damit einhergehen. Hierzu sind die Grundsätze der UN-Behindertenrechtskonvention und relevante Konzepte in den Blick zu nehmen, die Aufschluss über einen angemessenen Umgang mit Verschiedenheit geben. Davon ausgehend können Überlegungen dazu angestellt werden, wie inklusive Schulkontexte ausgestaltet werden müssen, damit alle Kinder und Jugendliche die Möglichkeit haben, sich weiterzuentwickeln.

Was das für das pädagogische Handeln bedeutet, soll im Weiteren am Beispiel des Asperger- Syndroms deutlich werden. Dafür werden in Kapitel 3 zunächst das gegenwärtige Verständnis von Autismus aus klinischer Sicht, Möglichkeiten der Abgrenzung zu anderen Formen sowie vorliegende Zahlen zur Häufigkeit in den Blick genommen. Im anschließenden Kapitel liegt der Fokus auf den Besonderheiten des Lern-, Denk- und Sozialverhaltens von Kindern mit Asperger- Syndrom. Dadurch soll das Verständnis von Autismus erweitert und für eine pädagogische Unterstützung brauchbar gemacht werden. Erst auf dieser Grundlage lassen sich die Chancen aufzeigen, die sich aus einer Akzeptanz durch LehrerInnen und MitschülerInnen sowie einer frühen Förderung im inklusiven Unterricht der Grundschule ergeben. Mit den gewonnenen Erkenntnissen zu den besonderen Lern- und Entwicklungsbedingungen von Kindern mit Asperger-Syndrom und dem Einfluss des Entwicklungsumfelds werden in einem letzten Schritt konkrete Anregungen für eine erfolgreiche Gestaltung einer inklusiven Lernumgebung gegeben.

2. Inklusion

Das folgende Kapitel befasst sich mit den gesellschaftlichen und politischen Veränderungsprozessen, die zu einer Herausbildung des Inklusionsgedankens führten. Nach einem kurzen Überblick über die geschichtliche Entwicklung von Integrationsbewegungen wird auf das Verhältnis von Verschiedenheit und Gleichberechtigung als Kernelement der Pädagogik der Vielfalt eingegangen. In Verbindung mit dem internationalen Übereinkommen der UNBehindertenrechtskonvention soll daraus ein Verständnis von Inklusion entwickelt werden, das sich für einen angemessenen Umgang mit Heterogenität in Bildungskontexten nutzen lässt.

2.1 Die Integrationsbewegung - ein historischer Rückblick

Teilhabe und soziale Gerechtigkeit sind als wesentliche gesellschaftliche Ziele in der Geschichte tief verwurzelt und geprägt von einem ständigen kulturellen und zeitlichen Wandel. Über die Jahrhunderte hinweg wurden bestimmte Personengruppen wie Frauen oder Menschen in Armut aus der Gesellschaft ausgegrenzt. Fehlende Rechte erschwerten ihnen die Partizipation und Mitbestimmung am öffentlichen Leben. Insbesondere diejenigen mit physischen und psychischen Beeinträchtigungen wurden immer wieder an den Rand der Gesellschaft gedrängt. Lange Zeit galt Behinderung als ein angeborenes Personenmerkmal oder ein subjektives Defizit. Die Betroffenen wurden auf diese Weise automatisch einer Gruppe zugeordnet, die sich durch ihr ,Anderssein‘ von einer gesellschaftlichen Normalitätsvorstellung unterschied (vgl. Biewer et al. 2019, S. 102). Diese Haltung wurde in Deutschland ab den 1970er Jahren stark angezweifelt, als im öffentlichen und politischen Diskurs verstärkt die gleichberechtigte Teilhabe von Menschen mit Behinderungen gefordert wurde (vgl. Tervooren und Pfaff 2018, S. 33). Im Zuge dessen entwickelte sich die Vorstellung, dass nicht die Beeinträchtigung selbst einen Nachteil für den Menschen darstellt, sondern die Barrieren, die von der Gesellschaft errichtet werden und ihn daran hindern, ein selbstbestimmtes Leben zu führen. Anstelle einer Fokussierung auf die Beeinträchtigung oder ,Störung‘ einer einzelnen Person konzentrierte man sich zunehmend auf die sozialen Sachverhalte, die für eine Benachteiligung und Aussonderung ebensolcher Personen verantwortlich sind (vgl. Heimlich 2019, S. 26). Das führte in erster Linie zu einem ausgeprägteren Bewusstsein über eine unzureichend ausgebaute Mobilität, durch welche bestimmten Menschen der Zugang zu Bereichen des öffentlichen Lebens verwehrt blieb.

Vor diesem Hintergrund entwickelten sich zahlreiche Eingliederungsversuche, die vorrangig darauf abzielten, benachteiligten Menschen eine gesellschaftliche Zugehörigkeit zu ermöglichen. Erste Ansätze der Integrationsbewegung orientierten sich bereits an der Gleichbehandlung von Menschen unterschiedlicher sozialer und kultureller Herkünfte (vgl. Deppe-Wolfinger 2004, S. 30). Mit der einsetzenden Arbeitsmigration zu Beginn der 1960er Jahre geriet die Problematik der gesellschaftlichen Marginalisierung ethnischer Minderheiten zunehmend in den Fokus der Öffentlichkeit. Zentrale Anliegen waren, die Rassendiskriminierung zu beseitigen und adäquate Bildungsmöglichkeiten zu schaffen. 1971 forderte die KMK schließlich dazu auf, ausländische Schülerinnen und Schüler in Regelschulen einzugliedern (vgl. Prengel 2019, S. 71).

Ab den 70er Jahren wurde der Integrationsbegriff verstärkt im Zusammenhang mit einer gemeinsamen Erziehung von Schülerinnen mit und ohne physische und psychische Beeinträchtigungen verwendet (vgl. Schuster und Schuster 2013, S. 70). Mit der sich verändernden Sichtweise auf das Phänomen der Behinderung wurde im Zuge dessen Kritik auf das Organisationskonzept der getrennten Schulformen ausgeübt. Insbesondere die Eltern von beeinträchtigten Kindern bemängelten, dass das zu diesem Zeitpunkt dominante Prinzip der Sonderschule zu einer Etikettierung und Ausgrenzung ihrer Kinder führen würde. Es wurden allgemeine Schulen gefordert, die uneingeschränkt jeden Einzelnen als bildungsfähig anerkennen sollten (vgl. Stein 2013, S. 12). Mit der Ablösung des Begriffs der „Sonderschulbedürftigkeit“ wurden 1994 Empfehlungen der KMK herausgegeben, die erstmals öffentlich die Befugnis einer „sonderpädagogischen Förderung“ in allgemeinen Schulen erteilte. Daraufhin entstanden erste Schulen für das gemeinsame Unterrichten von Kindern mit und ohne sonderpädagogischem Förderbedarf (vgl. ebd., S. 13).

Mit der Entwicklung des Integrationsprinzips konnten bereits erste wichtige Schritte eingeleitet werden, um der Zielvorstellung einer Chancengleichheit ein Stück näher zu kommen. In den letzten Jahrzehnten etablierten sich allerdings kritische Positionierungen gegenüber der Umsetzung des Konzepts integrativer Schulen (vgl. Frühauf 2012, S. 19 f.). Demnach war zu beobachten, dass in den neu entstandenen Integrationsklassen eine strikte Trennung zwischen SchülerInnen mit und ohne zugeschriebenem Förderbedarf vorherrschte. Einflussreiche Erziehungswissenschaftler wie Sander, Wocken und Feuser etwa gaben zu bedenken, dass die Eingliederung in den meisten Fällen eher zu einem räumlichen ,Nebeneinander-Lernen‘ anstelle eines gemeinsamen Unterrichts führte (vgl. Sander 2004, S. 15; Feuser 1995, S. 157; Wocken 1998, S. 14). Die zu Integrierenden seien in diesem Prozess schlicht anderen Lerninhalten und einem separaten Curriculum ausgesetzt.

Ähnliches wird von Andreas Hinz zum Ausdruck gebracht, dessen Beiträge einen Anstoß zu inklusiven Denkweisen gaben. Mit ihm lässt sich feststellen, dass die Integrationsbemühungen, die von der KMK ausgingen, zwar einen gemeinsamen Raum zum Lernen in einer gemeinsamen Schule ermöglichten (vgl. Hinz 2002, S. 357). Die Distanz zwischen bestimmten Personengruppen ist dabei aber grundsätzlich geblieben. Durch den Status der ,Integrationskinder‘, die eine Sonderbehandlung benötigen, bekommen benachteiligte Kinder das Gefühl der Andersartigkeit täglich im eigenen Klassenzimmer zu spüren.

Infolgedessen stellt Hinz die allgemeinen institutionellen Rahmenbedingungen infrage. Die Zuordnung eines Kindes mit Behinderung zu einer integrativen Schule erfolge hoch selektiv: je nachdem, ob es als „integrationstauglich“ für den Besuch einer Integrationsklasse gilt (vgl. Hinz 2002, S. 358). Die Grundlage für die Entscheidungen über die Integrierbarkeit bildeten dabei grundsätzlich die Schwächen und vermeintlichen Defizite. Auch Sander bestätigt, dass nicht alle Kinder und Jugendliche Anspruch auf eine Förderung in der allgemeinen Schule hatten. Besonders denjenigen mit einer schweren geistigen Behinderung blieb häufig der Zugang zu einer integrativen Bildung verwehrt (vgl. Sander 2004, S. 16 f.).

Von der sozialen Konstruktion des ,Anders-Seins‘ sind, wie schon angedeutet, nicht nur Menschen mit Behinderungen betroffen. Auch andere Personenkreise werden aufgrund gesellschaftlich vereinheitlichter Normvorstellungen fortwährend ausgegrenzt und benachteiligt. Aus dem bisher Gesagten folgt dementsprechend, dass eine generelle Umorientierung notwendig ist, um eine gleichberechtigte Teilhabe aller Menschen gewährleisten und defizitorientiertes Denken ablösen zu können. Auf diese Aspekte wird im folgenden Abschnitt Bezug genommen.

2.2 Verschiedenheit und Gleichberechtigung in der Pädagogik der Vielfalt

Bei der Weiterentwicklung des Integrationskonzepts wird der „Pädagogik der Vielfalt“ von Annedore Prengel eine besondere Bedeutung zugeschrieben. Bereits 1993 setzte sie sich mit der Problematik einer universellen Gleichheitsideologie auseinander, die trotz bedeutsamer Reformen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts noch immer Stigmatisierungs- und Ausgrenzungsmechanismen in der Gesellschaft zur Folge hatte (vgl. Lee 2010, S. 30). Im Fokus ihrer Überlegungen steht die Annahme einer gleichwertigen menschlichen Heterogenität, die aus der generellen Verschiedenheit aller Individuen hervorgeht. Hierfür nimmt Prengel drei soziale Bewegungen in den Blick, die sich unabhängig voneinander entwickelten: die interkulturelle Pädagogik, die auf eine Abkehr von Ausländerfeindlichkeiten abzielt, die aus der Frauenbewegung heraus entstandene feministische Pädagogik, sowie die integrative Pädagogik, welche die Nichtaussonderung von Menschen mit Behinderungen zum Ziel hat (vgl. Prengel 1993, S. 14). Obwohl die Ansätze in unterschiedlichen gesellschaftlichen Räumen entstanden sind, lassen sich doch Gemeinsamkeiten feststellen. Wie geschichtliche Ereignisse deutlich machen, waren die betroffenen Personengruppen (Frauen, Behinderte, Angehörige unterschiedlicher Kulturen) in der Vergangenheit weltweit massiven Menschenrechtsverletzungen ausgesetzt. Bemühungen um mehr Gleichberechtigung und soziale Teilhabe brachten ab Mitte des 20.

Jahrhunderts zwar vereinzelt Erfolge auf der politischen Ebene, aber die genannten Personenkreise waren nach wie vor Diskriminierungsprozessen ausgesetzt. Das führt Prengel darauf zurück, dass Andersartigkeit seit jeher als negativ bewertet wird und Zugehörigkeit nur dann überhaupt erst möglich ist, wenn sich die benachteiligten Subjekte an die vorgegebenen Strukturen und Normen anpassen (vgl. ebd., S. 15 f.).

Aufgrund dieser Ausgangssituation ergibt sich für Prengel die allgemeine Aufgabe, die benannten Probleme aufzulösen und hierarchische Strukturen, die dafür verantwortlich sind, abzubauen. Mit der Entfaltung einer „Pädagogik der Vielfalt“ beschäftigt sie sich zunächst mit Theorien des gesellschaftlichen Spannungsverhältnisses zwischen Gleichheit und Verschiedenheit. Die Kritik richtet sich in erster Linie dahingehend, dass „die demokratische[n] Traditionen überwiegend mit dem Leitbild eingeschränkter Gleichheit verbunden waren“, wodurch die Rechte und Freiheiten der „in der gesellschaftlichen Hierarchie weit unten angesiedelten Gruppen“ schon immer sehr begrenzt waren (Prengel 2019, S. 40). Davon ausgehend entwickelt Prengel eine Definition von Heterogenität, die den Begriff der „egalitären Differenz“ prägte. Die Aspekte der Egalität und Differenz sind in diesem Verständnis untrennbar miteinander verbunden: „Gleichheit ist ein Verhältnis worin Verschiedenes zueinander steht“ (Prengel 1993, S. 31). Mit dieser Aussage soll deutlich werden, dass sich Gleichheit immer aus der Übereinstimmung unterschiedlicher Elemente ergibt. Folgt man diesem Gedankengang ergibt sich, dass es eine vollkommene Gleichheit nicht geben kann, da die zu vergleichenden Objekte immer auch Eigenschaften haben, in denen sie sich unterscheiden. Eine nach dieser Auffassung absolute Gleichheit wäre Prengel zufolge mit der Identität gleichzusetzen. Aus der Denkweise der egalitären Differenz ergibt sich also, dass sich Gleichheit und Differenz wechselseitig bedingen und sie als wesentliche Elemente zwischenmenschlicher Verhältnisse nicht voneinander wegzudenken sind.

Mit dieser Vorstellung lässt sich eine Perspektive für ein gesellschaftliches Miteinander anlegen, die für alle Menschen bedeutsam ist. Denn ein Zusammenleben ohne Differenz würde, so Prengel, zur Gleichschaltung führen. Ein Zusammenleben ohne Gleichheit wiederum würde eine Hierarchie hervorrufen, die sich durch gegenseitige Ausnutzung und Unterdrückung gestaltet. Prengel stellt daher zu Recht fest, dass die Verschiedenheit, die sich aus unterschiedlichen Lebenserfahrungen und Lebensweisen ergibt, als selbstverständlich zu betrachten und als Reichtum zu nutzen ist, um Ausgrenzungen und Ungerechtigkeit zu vermeiden (vgl. ebd., S. 182).

Auf diese Vorüberlegungen stützt die Autorin ihre Sichtweisen zur Verwirklichung einer egalitären Differenz auf der Bildungsebene. Im Vordergrund steht dabei der Auftrag, eine Teilhabe zu ermöglichen, die keine Anpassung des Einzelnen erfordert, sondern jeden von Beginn an als vollwertiges, gleichberechtigtes Mitglied der Gemeinschaft sieht (vgl. ebd., S. 185). Aus der Perspektive der Pädagogik der Vielfalt ist nicht danach zu fragen, wie Differenzen überwunden werden können, damit eine universelle Gleichheit hergestellt werden kann. Transferiert man den Aspekt der egalitären Differenz auf den pädagogischen Kontext ergibt sich vielmehr, dass die Unterschiede und die Gleichheit der lernenden Subjekte gleichermaßen bedeutsam werden (vgl. Lee 2010, S. 30 f.). Deren Wünsche, Bedürfnisse und Einzigartigkeit sind also anzuerkennen und in einem gemeinsamen Rahmen zusammenzuführen. Für einen Umgang mit interkultureller Heterogenität fordert Prengel dementsprechend, SchülerInnen in gemeinsamen Spiel-, Lern- und Arbeitssituationen zum Erfahrungsaustausch zu ermutigen, um gemeinsam Verbindungswege zwischen den Kulturen herausstellen zu können (vgl. Prengel 1993, S. 93). Gleiches ergibt sich für die Konzeptionen der feministischen und integrativen Pädagogik. Bildungsprozesse sind somit nach dem Prinzip eines offenen Unterrichts zu gestalten, der Freiräume für die Entwicklungsverläufe und Lernausgangslagen lässt und einer bestmöglichen Entfaltung der unterschiedlichen Fähigkeiten Rechnung trägt (vgl. ebd., S. 192).

Neben der Pädagogik der Vielfalt wurden ab Mitte der 1990er Jahre weitere, erstaunlich ähnliche Konzepte in Richtung universeller Pluralität und Heterogenität bekannt. Übereinstimmungen finden sich vor allem in der Auffassung, dass eine Distanzierung von Defizitvorstellungen notwendig ist, um ein gerechtes Leben in der modernen Gesellschaft zu ermöglichen (vgl. Tervooren und Pfaff 2018, S. 35; Lutz und Wenning 2001, S. 18). Allmählich setzte sich so die Perspektive durch, dass eine Orientierung an der Vielfalt, die durch den gesellschaftlichen Wandel gestiegen und unumgänglich ist, notwendig für eine verstärkte Gleichberechtigung ist. In Verbindung mit der lauter werdenden Kritik an der Praxis der Integration dominierten somit um die Jahrtausendwende Forderungen zu einer Weiterentwicklung bisheriger Integrationsmodelle.

2.3 Entwicklung inklusiver Prozesse im internationalen Kontext

Erste Annäherungen an das Konzept der Inklusion gab es bereits 1990 in der Jomtien-Konferenz in Thailand, die mit dem Grundsatz „Bildung für Alle“ weltweit Aufsehen erregte (vgl. Chabbott 2014, S. 9). Der Kerngedanke bestand darin, globale Rahmenbedingungen für eine Ablösung von Ungleichheiten und Benachteiligungen in Bildungsprozessen zu schaffen, indem alle Menschen auf rechtlicher Basis einen Zugang zu einer Grundbildung erhalten sollten (vgl. Saalfrank und Zierer 2017, S. 31).

Vier Jahre später fand im Zuge der UNESCO-Konferenz ein gemeinsamer Austausch über Bildungsteilhabe in der spanischen Stadt Salamanca statt. In der Weltdeklaration zur „Pädagogik für besondere Bedürfnisse: Zugang und Qualität“ findet sich zum einen die Aufforderung zu einer gleichberechtigten Beschulung von Menschen mit Behinderungen (vgl. Biewer et al. 2019, S. 22). Die Länder einigten sich darauf, dass die betreffenden Kinder und Jugendliche in derjenigen Schule unterrichtet werden sollen, die der Wohnortnähe und dem Alter entspricht. Zum anderen wurde in der Salamanca-Konferenz ein allgemeiner Handlungsrahmen entwickelt, mit dem allen Lernenden der Zugang zum Regelschulsystem gewährleistet werden sollte. Terminologisch in Form von „Inclusive Education“ (integrative bzw. inklusive Bildung) wurde gefordert, dass „Schulen alle Kinder, unabhängig von ihren physischen, intellektuellen, sozialen, emotionalen, sprachlichen oder anderen Fähigkeiten aufnehmen sollen. Das soll behinderte und begabte Kinder einschlie[ß]en, Stra[ß]en - ebenso wie arbeitende Kinder, Kinder von entlegenen oder nomadischen Völkern, von sprachlichen, kulturellen oder ethnischen Minoritäten sowie Kinder von anderweitig benachteiligten Randgruppen oder -gebieten“ (Deutsche UNESCO-Kommission 1994, Einleitung Nr. 3). Mit dem Grundgedanken, dass jedes Kind einmalige Eigenschaften, Interessen und Begabungen hat, wird der Blick auf eine kindzentrierte Pädagogik gerichtet. Bei Schulsystemen und Lernprogrammen soll also angestrebt werden, die Bildungsarbeit nach den individuellen Bedingungen und Potentialen auszurichten und Unterschiedlichkeit als Normalfall anzuerkennen (Deutsche UNESCO-Kommission 1994, Einleitung Nr. 4). Damit schaffte die Salamanca-Erklärung bereits die Grundlage für die internationale Entwicklung inklusiver Leitlinien.

Spätestens mit dem Inkrafttreten der UN-Behindertenrechtskonvention (kurz: UN-BRK) im Jahr 2009 gewann der Inklusionsgedanke als menschenrechtliches Prinzip zunehmend an Bedeutung. In dem „Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen“ verpflichten sich Deutschland und über 70 weitere Vertragsstaaten zu dem Grundsatz „Inclusion in society“ (Einbeziehung in die Gesellschaft) (United Nations 2006, Article 3), sodass alle Menschen mit Behinderungen ihre Rechte vollständig und gleichberechtigt mit anderen ausüben können. Zentrales Anliegen ist also, die allgemein gültigen Menschenrechte zu bekräftigen und hervorzuheben, dass diese auch für jene mit einer Behinderung gelten (vgl. Deutsches Institut für Menschenrechte 2006, Präambel). Mit Aichele lässt sich betonen, dass die Beschlüsse der Konvention jedoch nicht (wie oft angenommen) als , Spezialrechte ‘ für Menschen mit physischen und psychischen Beeinträchtigungen zu verstehen sind. Vielmehr dienen sie der rechtlichen Absicherung gleicher Zugangsrechte, da gerade die betreffende Personengruppe stetigen Unrechtserfahrungen ausgesetzt ist (vgl. Aichele 2010, S. 12). Dass in der deutschen Fassung der UN-BRK der Begriff „Inclusion“ mit „Einbeziehung“ oder „Integration“ übersetzt wird, soll an dieser Stelle nicht weiter aufhalten und stattdessen ein geschärfter Blick auf die inhaltlichen Forderungen gelegt werden, um zu verstehen, was im Sinne der Konvention gemeint ist.

Nun ist in Artikel 2 von einem „universellen Design“ die Rede. Konkret meint dies „ein Design von Produkten, Umfeldern, Programmen und Dienstleistungen in der Weise, dass sie von allen Menschen möglichst weitgehend ohne eine Anpassung oder ein spezielles Design genutzt werden können“. Diesem Anspruch liegt also die Idee zugrunde, die alltäglichen Produkte und Umgebungen - sei es im Bereich Wohnen, Bildung, Arbeit oder Gesundheit - so zu gestalten, dass sie für alle Menschen zugänglich werden (vgl. Bernasconi 2017a, S. 39). Hier spiegelt sich der zuvor angelegte Grundsatz, die Verschiedenheit von Menschen als Normalzustand in den Vordergrund zu rücken, wider. An dem konkreten Beispiel der Produktgestaltung wird nun deutlich, dass es nicht darum geht, Lebensräume so zu organisieren, dass Menschen mit Behinderung mithilfe bestimmter Sonderlösungen auch teilhaben können. „Volle und wirksame Teilhabe“ (Deutsches Institut für Menschenrechte 2006, Artikel 3) meint vielmehr, gesellschaftliche Bereiche so zu öffnen, dass möglichst jeder Einzelne einen Zugang findet und Menschen mit Behinderungen in der generell üblichen Weise teilhaben können (vgl. Bernasconi 2017a, S. 40).

Mit diesem Prinzip richtet sich der Auftrag zur Einbeziehung explizit an alle Staaten und geht mit der rechtlichen Verankerung als wichtiger Meilenstein in die Geschichte ein. Entgegen des ursprünglichen Integrationskonzepts, das an die Güte und Solidarität appellierte, sind die Forderungen der UN-Konvention zur Inklusion nicht nur ethisch begründet, sondern ein geltendes Recht (vgl. Gebauer 2017, S. 53 f.).

2.4 Irritationen um das Verständnis von Inklusion

So vielversprechend das sich schrittweise durchsetzende Konzept der Inklusion auch klingen mag, führt es dennoch seit seiner Einführung zu Irritationen und kontroversen Diskussionen. Noch immer herrscht Unklarheit darüber, was der Inklusionsbegriff genau beinhaltet. Da keine allgemeingültige Definition vorliegt, wird die Bezeichnung auf politischer, rechtlicher und gesellschaftlicher Ebene äußerst unterschiedlich gebraucht. Die Meinungen unterscheiden sich etwa darin, Inklusion entweder als eine Weiterentwicklung der Integration zu verstehen, beide Begriffe synonym zu verwenden oder Inklusion als grundlegende Neuorientierung zu interpretieren (vgl. Frühauf 2012, S. 11 ff.). Die Frage, welcher Begriff sich nun für ein Streben nach Gleichberechtigung eher eignet, erscheint für die Praxis weniger relevant. Anstelle einer umfassenden Auseinandersetzung mit Unterschieden und Gemeinsamkeiten der Konzepte ist der Blick doch vielmehr darauf zu richten, welche grundlegende Orientierung für eine Umsetzung der Forderungen der Salamanca-Erklärung und der UN-BRK infrage kommt.

Für die Beantwortung der Frage erscheint es sinnvoll, ein vertretbares Konzept von Hinz in den Blick zu nehmen. Die gegenwärtige, sehr unterschiedliche Praxis inklusiver Bemühungen ist ihm zufolge auf zwei grundsätzlich verschiedene Auffassungen von Integration zurückzuführen (vgl. Hinz 2018, S. 69). Bei einem sonderpädagogischen Zugang wird Integration als eine von vielen Beschulungsvarianten der Sonderpädagogik verstanden (vgl. Hinz 2004, S. 46). Die Zuschreibung , Sonderpädagogischer Förderbedarf‘ ist also damit erweitert worden, dass zwischen dem Besuch einer Förderschule oder einer Integrationsklasse gewählt werden kann. Problematisch sieht Hinz, dass es bei dieser Auffassung von Integration lediglich um eine räumliche Verlagerung der sonderpädagogischen Disziplinen in die allgemeine Schule geht, ohne dass dabei Veränderungen an den dort vorherrschenden Strukturen vorgenommen werden (vgl. Hinz 2002, S. 355). Im Gegensatz dazu reicht ein integrationspädagogischer Zugang über die Idee eines gemeinsamen Unterrichts von Kindern und Jugendlichen mit und ohne Behinderung hinaus. Integration wird dann nicht einfach als veränderte Weiterführung der Sonderpädagogik aufgefasst, sondern als eine konsequent gedachte Einheit in Form einer allgemeinen Schulpädagogik. Diese bezieht die verschiedensten Disziplinen der Sonderpädagogik, die interkulturelle Pädagogik, die Sozialpädagogik, Bildungswissenschaften und Fachdidaktiken mit ein (vgl. Hinz 2004, S. 58).

Bei der Gegenüberstellung der beiden Sichtweisen auf Integration geht es Hinz vor allem darum zu zeigen, dass sich je nach Theorie völlig neue Blickwinkel auf das Prinzip der Inklusion öffnen. Er selbst sieht nur den integrationspädagogischen Zugang dem inklusiven Fokus entsprechend. Dieser sei auch in Visionen bedeutsamer VertreterInnen der Integrationspädagogik (z.B. Feuser, Preuss-Lausitz, Reiser) zu finden, die bereits vor den inklusiven Bestrebungen in Deutschland entsprechende Entwürfe geliefert hätten (vgl. Hinz 2004, S. 53 ff.). Folgt man Hinz, lässt sich der Inklusionsgedanke also nicht als Gegenmodell des Integrationsprinzips verstehen. Mit dem neuen Begriff ergibt sich vielmehr die Chance einer generellen Umorientierung von einem sonderpädagogischen hin zu einem integrationspädagogischen Ansatz. Von einer Integrationspädagogik kann somit gefordert werden, dass die pädagogischen Entscheidungen nicht ausschließlich von diversen Behinderungsarten abhängig gemacht werden, sondern die Gesamtheit der Lernenden in den Fokus rückt (vgl. ebd., S. 58). Für ein angemessenes Eingehen auf Heterogenität bezeichnet Hinz die Anerkennung zwischen gleichberechtigten Verschiedenen im Sinne einer egalitären Differenz (s. Kapitel 2.2) als wegweisend. Dabei geht er jedoch noch einen Schritt weiter als Prengel. Anstelle eines Zwei-Gruppen-Denkens in Frauen und Männer, Menschen mit und ohne Behinderung, Einheimische und MigrantInnen fordert er nachdrücklich die Berücksichtigung aller Aspekte von Heterogenität. Die sich daraus ergebende De- Kategorisierung sei unverzichtbar, um Verschiedenheit als Normalität in den Vordergrund zu rücken (vgl. Hinz 2018, S. 70).

Wirft man einen Blick in die Fachliteratur, findet man darin ähnliche Standpunkte: häufig ist von einem engen und einem weiten Inklusionsverständnis die Rede. Bei einem enggefassten Verständnis liegt der Fokus demnach auf der Eingliederung von Kindern und Jugendlichen mit Behinderungen in die allgemeinen Schulen. Die damit einhergehende Abgrenzung der sonderpädagogischen Förderung von der ,regulären‘ Förderung führt zu einer grundsätzlichen Zweiteilung der Klasse bei pädagogischen Entscheidungen (vgl. Müller 2018, S. 10). Wird Inklusion dagegen in einem weiter gefassten Verständnis diskutiert, wird von einer unteilbaren, heterogenen Gruppe ausgegangen und die Verschiedenheit der Einzelnen als Normalzustand anerkannt (vgl. Biewer et al. 2019, S. 23).

Lang-Wojtasik und König verdeutlichen die globalen Differenzen von engen und weiten Inklusionsverständnissen unter einem allgemeineren Blickwinkel: Ein enggefasstes inklusives Konzept basiere auf einer menschenbezogenen bzw. individuumszentrierten Sichtweise, bei der die Andersartigkeit oder Beeinträchtigung einer Person im Mittelpunkt steht und dessen Eingliederung in ein bestehendes System grundsätzlich als Herausforderung betrachtet wird (vgl. Lang-Wojtasik und König 2018, S. 12). Eine umfassende gesellschaftsbezogene Anwendung des Begriffs wiederum richtet den Blick auf alle Menschen mit ihren unterschiedlichen Merkmalen und Eigenschaften. Im Rückblick auf den Artikel 2 der UN-Konvention zeigt sich, dass gerade dieses gesellschaftsumfassende Prinzip mit der Grundidee einer vollwertigen, gleichberechtigten Teilhabe aller Menschen gefordert wird.

Unter Berücksichtigung der gewonnenen Erkenntnisse lassen somit zwei Faktoren für einen angemessenen Umgang mit Heterogenität in inklusiven Kontexten herausstellen. Führt man den Gedanken der egalitären Differenz fort, ergibt sich zunächst einmal, dass sich Verschiedenheit eben nicht nur auf Behinderung und Nicht-Behinderung oder etwa auf Migranten und Einheimische bezieht, sondern auch auf Ungleichheiten, die zunächst nebensächlich erscheinen. Das kann Personenmerkmale, wie das Alter, das Geschlecht, die Hautfarbe oder individuelle Erfahrungen miteinschließen, ebenso wie sozialräumlich orientierte Merkmale wie Sprache, kulturelle oder religiöse Orientierungen sowie politische Prozesse. Versucht man sich an einer Aufzählung möglicher Differenzlinien, wird deutlich, dass die unendliche Vielfalt eine gerechte Einteilung in ,Normalität‘ und ,Abweichung‘ unmöglich macht (vgl. Köpfer und Nitschmann 2017, S. 31).

Mit Blick auf die UN-BRK ist an dieser Stelle jedoch als zweiter Faktor hervorzuheben, dass die Forderung der Nichtkategorisierung, wie sie von Hinz postuliert wird, allein nicht ausreicht, um eine gleichwertige Einbeziehung zu ermöglichen (vgl. Lee 2010, S. 189). Aus den Grundsätzen des Vertragstexts geht unmissverständlich hervor, dass doch „besondere Maßnahmen“ für ein möglichst hohes Maß an gesellschaftlicher Teilhabe erforderlich sind und die Hervorhebung einer bestimmten Personengruppe - in dem Fall also Menschen mit Behinderungen - nicht grundsätzlich negativ zu bewerten ist (vgl. Deutsches Institut für Menschenrechte 2006, Artikel 5). Betont wird stattdessen die Notwendigkeit eines umfassenden Verständnisses von Behinderung, das trotz der Unterstreichung der Rechte für Menschen mit langfristigen körperlichen, seelischen oder geistigen Beeinträchtigungen deren Vielfalt nicht unberücksichtigt lässt. Dem Übereinkommen der Vereinten Nationen liegt damit ein menschenrechtliches Prinzip zugrunde, bei dem Heterogenität, Behinderung oder anderweitige Formen ungleicher Teilhabe nicht auf individuelle ,Störungen‘ reduzierbar sind, sondern einen normalen Teil der oben beschriebenen menschlichen Vielfalt abbilden (vgl. Heimlich 2019, S. 25; Biewer et al. 2019, S. 110). Damit einher geht die Auffassung, dass in erster Linie einstellungs- und umweltbedingte Aspekte für etwaige Einschränkungen in der gesellschaftlichen Teilhabe verantwortlich sind. Mit den Forderungen zur Inklusion sind also vor allem die sozialen Systeme zu untersuchen sind, welche die Entwicklung und Fähigkeiten Einzelner einengen (vgl. Deutsches Institut für Menschenrechte 2006, Präambel).

Auf dieser Grundlage soll nun in der vorliegenden Arbeit eine menschenrechtliche Perspektive zum Tragen kommen, die von gegenwärtigen verkürzenden Deutungsversuchen von Inklusion klar abgegrenzt werden kann. Der umfassende Blick auf gesellschaftliche Differenzverhältnisse spielt in Verbindung mit der internationalen Forderung, ein universelles Design in allen Bereichen menschlichen Zusammenlebens zu errichten, für den nachfolgenden Aspekt der Bildung eine zentrale Rolle: auch für die Schule und den Unterricht braucht es grundlegende Formen, die allen Mitgliedern einen gleichberechtigten Zugang ermöglichen.

2.5 Inklusive Schulentwicklung unter Berücksichtigung der Situation in Deutschland

In Artikel 24 der UN-BRK verpflichten sich die Vertragsstaaten, ein „integratives Bildungssystem auf allen Ebenen und lebenslanges Lernen zu verwirklichen“. Hierfür gilt es sicherzustellen, dass Menschen nicht ihrer Behinderung wegen vom Recht auf Bildung oder von einem allgemeinen Schulsystem ausgeschlossen werden. Stattdessen sollen sie als selbstverständlich dazugehörend und gleichberechtigt mit allen Kindern und Jugendlichen in der Grundschule und weiterführenden Schule ihrer Wohnortnähe unterrichtet werden (vgl. Deutsches Institut für Menschenrechte, Artikel 24 Abschnitt 2). Die Konvention fordert von Schulen darüber hinaus, lebenspraktische Fertigkeiten zu vermitteln, damit allen Schülerinnen und Schülern die Partizipation als vollwertige Mitglieder der Gesellschaft gewährleistet ist. Das schließt mit ein, die Entscheidungen bei Lernprozessen an den Bedürfnissen und Voraussetzungen der Heranwachsenden auszurichten, um ihre geistigen, körperlichen und sozialen Fähigkeiten weiterentwickeln zu können (vgl. Deutsches Institut für Menschenrechte 2006, Artikel 24 Abschnitt 1). Wenngleich der Umgang mit Heterogenität und individuelles Lernen schon seit längerem zentrale Anliegen der Bildungsforschung sind, stellen diese Erwartungen viele Schulen vor neue Aufgaben, die nicht von heute auf morgen erfüllt werden können.

Die Verwirklichung des Anspruchs auf Inklusion scheint insbesondere unter den gegebenen Bedingungen des deutschen Schulsystems eine Herausforderung zu sein. Für das in Gruppen gegliederte Erziehungs- und Bildungskonzept steht Deutschland auf internationaler Ebene schon viele Jahre in Kritik. Bemängelt wird vor allem die frühe Einteilung von SchülerInnen für eine Zuweisung an weiterführende Schulformen. Bernasconi und Böing geben zu bedenken, dass bei diesem Vorgehen schulischer Erfolg bzw. Misserfolg von einer gedachten Norm abhängig gemacht wird (vgl. Bernasconi und Böing 2017, S. 37). Nichterreichte Lernstände oder etwaige Lernschwierigkeiten würden mit dem für das Kind beschämenden und bloßstellenden Sitzenbleiben oder dem Verweis auf eine niedrigere Schulart oder eine Sondereinrichtung gelöst (vgl. Thies 2010, S. 162). Bei Hochbegabungen würde nicht selten eine frühe Einschulung oder das Überspringen von Schulklassen bewerkstelligt. Auf diese Weise sollen weitestgehend homogene Lerngruppen geschaffen werden mit dem Ziel, einen ähnlichen Entwicklungs- und Leistungsstand innerhalb einer Gruppe hervorzubringen (vgl. Heyer 2010, S. 124). Vor allem Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund oder niedrigem sozio-ökonomischen Status, welche die standardisierten Lernvoraussetzungen nicht erfüllen können, würden, so die oft geäußerte Kritik, in diesem Prozess der Kategorisierung benachteiligt.

Häufig wird dabei mit den Ergebnissen und Auswertungen der internationalen Vergleichsstudie PISA argumentiert. Diese geben zu erkennen, dass Deutschland „eine stärkere Konzentration leistungsschwacher und leistungsstarker Schüler an bestimmten Schulen [aufweist], als dies im OECD-Durchschnitt der Fall ist“ (Mostafa und Schwabe 2019, S. 6). Das bedeutet nicht, dass das deutsche Schulsystem grundsätzlich negativ zu sehen ist. In der überwiegenden Kritik wird meist übersehen, dass die Leistungen deutscher SchülerInnen in den Bereichen Mathematik, Lesekompetenz und Naturwissenschaften über dem Durchschnitt der an der PISA-Studie teilnehmenden Länder liegen (vgl. ebd., S. 1). Doch gerade für die Umsetzung des Artikels 24 der UN-BRK scheinen die bildungspolitischen Voraussetzungen in Deutschland unzureichend zu sein.

Betrachtet man die gegenwärtige Situation, zeigt sich, dass besonders in Bremen oder Berlin bereits sichtbare Schritte eingeleitet wurden, um dem vielseits kritisierten Schulsystem durch einen allmählichen Abbau von Förderschulstandorten entgegenzuwirken (vgl. Hennemann et al. 2015, S. 136). Auch kann rückblickend festgestellt werden, dass vor allem Grundschulen seit langem bemüht sind, Formen differenzierter Arbeit umzusetzen und die individuellen Lernentwicklungen gezielt zu unterstützen. Heimlich betont beispielsweise, dass „zahlreiche reformpädagogische Unterrichtsmethoden wie Freiarbeit, Wochenplanunterricht, Stationenlernen und Gesprächskreise bereits einen festen Platz im Unterricht der Primarstufe“ haben (Heimlich 2019, S. 80). Dennoch wird von vielen Inklusionsbefürwortern gleichermaßen zum Ausdruck gebracht, dass mit der Dreigliedrigkeit des Sekundarschulsystems (bereits in der Grundschule) vereinzelte Schülerinnen, welche die jeweiligen Erwartungen nicht erfüllen können, am Rande zurückgelassen werden (vgl. z.B. Gebauer 2017, S. 56; Deppe-Wolfinger 2004, S. 29 f.). Das bezieht sich nicht nur auf sozial Benachteiligte, sondern auch auf diejenigen mit Lern- oder Verhaltensschwierigkeiten, die häufig als störend erlebt werden. Problematisch sieht der Reformpädagoge Feuser vor allem, dass das Sonderschulwesen als oft ausgeblendeter Bereich im Bildungsprozess in erster Linie als Alternativlösung für diejenigen gesehen wird, die im Unterricht der sogenannten Regelschule nicht mithalten können (vgl. Feuser 1995, S. 156).

Bezieht man die öffentliche Kritik an der bezeichneten ,Homogenisierung‘ deutscher Bildungsprozesse mit ein, so kann man davon ausgehen, dass wir von einem inklusiven Schulsystem noch weit entfernt sind. Auf der schulpraktischen Ebene selbst stößt man auf eine Vielzahl an Modellen, Konzepten und Maßnahmen, unter welchen sich nur wenig spezifische Zugänge zu einer inklusiven Didaktik finden. Insbesondere ist zu beobachten, dass sich die Praxis vieler Schulen nach dem enggefassten Inklusionsprinzip gestaltet. Sander und Frühauf beschreiben, dass der Unterricht häufig so gehandhabt wird, wie es auch ohne Inklusion üblich wäre: Das Kind mit sonderpädagogischem Förderbedarf würde isoliert von der übrigen Lerngruppe betrachtet und ausgehend von den Lehrplänen der jeweiligen Sonderschulform nach Mitteln und Wegen für eine Unterstützung gesucht (vgl. Sander 2004, S. 15; Frühauf 2012, S. 19). Dass Teilhabe in einem solchen Unterricht kaum möglich ist, wird spätestens bei der Beschulung solcher deutlich, für die das dafür notwendige Sich-Einlassen auf andere Menschen und die Orientierung in einer derartigen Umgebung alles andere als selbstverständlich ist. Gerade Kinder mit Asperger-Syndrom, deren kognitiver Stil sich nachweislich von dem nicht-autistischer Kinder unterscheidet, haben in dem so ,üblichen‘ Unterricht kaum eine Chance auf einen erfolgreichen Lern- und Entwicklungsprozess. Wenn deren Bedürfnisse zu wenig berücksichtigt werden, können die nach diesem Verständnis inklusiven Bemühungen für sie sogar zum Nachteil werden (vgl. Schirmer 2019, S. 25 f.).

Daraus lässt sich schließen, dass für eine inklusive Schulentwicklung nicht nur die bildungspolitische Funktion des Schulwesens zu untersuchen und verändern ist, sondern auch die innerschulischen Strukturen neu gedacht werden müssen (vgl. Bernasconi und Böing 2017, S. 42 f.). Folgt man den Aufforderungen aus der Salamanca-Erklärung und der UN-BRK hinsichtlich einer Herausbildung individueller Lernpotenziale, ergibt sich, dass zunächst einmal jedes Kind Inklusionsbedarf hat. Der Begriff der Förderung versteht sich also nicht als solcher, der Hilfsmaßnahmen für Leistungsschwache oder jene mit einer Behinderung vorsieht. Stattdessen strebt er - unabhängig von Intelligenzniveaus und Bildungserwartungen - möglichst passende, bedarfsgerechte Lernangebote für jeden Einzelnen an (vgl. Solzbacher 2019, S. 8 f.). Denn alle Schülerinnen unterscheiden sich in ihren kulturellen Zugehörigkeiten, in ihren Kompetenzen und Fähigkeiten, in ihren Emotionen und Motivationen, in ihrem Vorwissen sowie ihren Lernstilen und -tempos (vgl. Frühauf 2012, S. 21). Ein Eingehen auf diese Unterschiede im Unterricht setzt also, wie in Kapitel 2.2 gezeigt, die Vorstellung einer gleichwertigen Verschiedenheit voraus, bei der die Vielfalt der Lerngruppe nicht grundsätzlich als belastend empfunden wird, sondern deren Chancen erkannt und für die Begleitung aller Schülerinnen genutzt werden.

Mit der Perspektive auf verschiedene inklusionsverständnisse und ausgrenzende Normalitätsvorstellungen in bisherigen Unterrichtskonzepten geriet in diesem Kapitel in den Blick, dass es für die Ermöglichung einer gleichberechtigten Teilhabe in Bildungsprozessen eine Veränderung der bisherigen Strukturen benötigt. Ausgehend von der Denkfigur der egalitären Differenz ließ sich in Verbindung mit den internationalen Menschenrechtsabkommen eine vielfaltsbewusste Grundhaltung entwickeln, die mit dem Anspruch auf einen wertschätzenden Umgang mit der Verschiedenheit und Einzigartigkeit von Personen in dieser Arbeit zum Tragen kommen soll. Denn damit können in einer ,Schule für alle‘ unterschiedliche Diversitätsdimensionen berücksichtigt und die Jeweiligen bestmöglich gefördert werden. Das Asperger-Syndrom, in das im Nachfolgenden Einblick gegeben werden soll, ist dabei also nur ein einziger Aspekt unter vielen. Gleichwohl ist er ein wichtiger, da die Betreffenden aufgrund ihrer Verhaltensweisen und Besonderheiten in der Gesellschaft oft Ablehnung erfahren müssen und sie ihre Potenziale nicht vollständig ausschöpfen können. ihre besonderen Eigenschaften sind in einem inklusiven Unterricht ebenso wertzuschätzen wie die aller anderen Kinder. Hierfür ist es wichtig zu wissen, wie sich Autismus auf das Lernen, das soziale Verständnis und interaktionen sowie die Motivation auswirkt.

3. Autismus und das Asperger-Syndrom

Im hier vorliegenden Kapitel wird das Asperger-Syndrom ausgehend von der internationalen Forschungslage vorgestellt. Beginnend bei den Erstbeschreibungen Hans Aspergers und Leo Kanners wird ein Überblick über die Entstehung der entsprechenden Begrifflichkeiten und deren Weiterentwicklung bis hin zum heutigen Verständnis von Autismus gegeben. Da sich in Bezug auf einen pädagogischen Umgang mit betreffenden Personen unmittelbar die Frage stellt, welche Symptome auf ein Asperger-Syndrom hindeuten, werden anschließend die Klassifikation und die Abgrenzung des Syndroms aus klinischer Sicht betrachtet, um davon ausgehend eine Vorstellung über die relative Häufigkeit vermitteln zu können. In Bezug auf die pädagogische Praxis wird im letzten Abschnitt schließlich ein kritischer Blick auf die Orientierung an klinisch-medizinischen Klassifikationssystemen geworfen.

3.1 Zuordnung des Asperger-Syndroms in der ICD-10

Als ICD-10 wird ein internationales Klassifikationssystem von Krankheiten und verwandten Gesundheitsproblemen in der zehnten Fassung bezeichnet, das von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) veröffentlicht wird. Seit 1992 ist hier auch das Asperger- Syndrom unter der Kennung F84.5 aufgeführt (vgl. DIMDI 2018, Kapitel V). Damit ist es der Klasse der „tiefgreifenden Entwicklungsstörungen“ (F84) zugeordnet, deren Aufteilung der folgenden Tabelle zu entnehmen ist.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Tabelle 1: Unterteilung der tiefgreifenden Entwicklungsstörungen in der ICD-10

Die Gruppe umfasst sämtliche Erscheinungsformen, die bereits zur Geburt oder im frühen Kindesalter eintreten und bis in das Erwachsenenalter anhalten. Mit dem Begriff „tiefgreifend“ wird somit angezeigt, dass es sich beim Asperger-Syndrom um ein anhaltendes Phänomen handelt, das die Gesamtentwicklung nachhaltig beeinflusst und sich auf mehrere Verhaltensbereiche auswirkt (vgl. Poustka et al. 2008, S. 8). Die Verzögerung in der Entwicklung äußert sich laut Angaben durch Abweichungen in sozialen Interaktionsmustem sowie durch stereotype, sich wiederholende Verhaltensweisen und Interessen.

Darüber hinaus bezeichnet die WHO das Asperger-Syndrom als „Störung von unsicherer nosologischer1 Prägnanz“ (DIMDI 2018, Kapitel V). Diese Beschreibung deutet an, dass die Grenzen zu anderen Formen tiefgreifender Entwicklungsstörungen nicht immer klar festgelegt sind. Tatsächlich existierte das Asperger-Syndrom in der Vergangenheit lange Zeit gar nicht als eigenständige Diagnose. In den Anfängen der Autismusforschung wurden aufgrund der Undurchsichtigkeit des Syndroms zahlreiche Fehldiagnosen gestellt.

3.2 Historischer Abriss

Die Bezeichnung „Autismus“ wurde von dem Psychiater Eugen Bleuler im Jahr 1911 eingeführt, um das Phänomen der Schizophrenie bei Patienten zu beschreiben. Gemeint waren damit Verhaltensweisen des sozialen Rückzugs in die eigene Gedankenwelt und die Unfähigkeit, Kontakt zur Umwelt aufzunehmen (vgl. Heilmann 2015, S. 130).

Das Interesse an Autismus stieg jedoch erst, als der Mediziner Hans Asperger (1906-1980) den Begriff erstmalig auf Kinder mit einer psychischen Eigenart bezog. 1944 veröffentlichte er eine Schrift mit dem Titel „Die Autistischen Psychopathen im Kindesalter“, in der er das später nach ihm benannte Asperger-Syndrom umfassend erläutert. Bei seinen Beobachtungen von über 200 Kindern fielen ihm Besonderheiten im Verhalten jener auf, die er keiner bestehenden Diagnosebeschreibung zuordnen konnte. Dabei handelte es sich überwiegend um Jungen (vgl. Asperger 1944, S. 85-111). Er schrieb von Kindern, die in erster Linie nach ihren eigenen Bedürfnissen handelten und dabei wenig Interesse an sozialer Integration zeigten. Im Hinblick auf den Umgang mit anderen betonte er die plötzlich aggressiven Reaktionen, die wenig kontrollierbar schienen (vgl. ebd. S. 109). Darüber hinaus wirkten die Jungen motorisch ungeschickt - Körperhaltung und Mimik wurden eher sparsam und unpassend in der jeweiligen Situation eingesetzt. Obwohl sich bei den beschriebenen Jungen grundsätzlich dieselben Auffälligkeiten zeigten, wirkten sie gleichzeitig sehr verschieden, da sich die Verhaltensweisen unterschiedlich stark äußerten (vgl. ebd. S. 111). Damit lieferte Asperger bereits wichtige Erkenntnisse für das Phänomen des Autismus, die jedoch aufgrund der geringen Verbreitung seiner Werke zunächst in Vergessenheit gerieten (vgl. Bahr 2013, S. 13).

Unabhängig davon entwickelte der Kinderpsychiater Leo Kanner (1896-1981) ebenfalls Theorien zu autistischen Verhaltensweisen, welche unter dem Begriff des frühkindlichen bzw. infantilen Autismus bekannt wurden. Fast zeitgleich beobachtete er unter seinen Patienten Kinder, die rätselhafte Reaktionen und Verhaltensweisen in sozialen Interaktionen zeigten. Darüber hinaus stellte er Eigenarten in ihrer Sprache und eine unzureichende Ausbildung kommunikativer Fähigkeiten fest (vgl. Poustka et al. 2008, S. 4). Wie Hans Asperger war er der Auffassung, dass die Störung genetisch bedingt sein muss. Das Besondere an den Beschreibungen Kanners ist jedoch, dass die Eigentümlichkeiten laut seinen Aussagen bereits im frühen Kindesalter vorliegen (vgl. Schuster 2011, S. 17). Daraus schlussfolgerte er, dass es sich um eine schwerwiegende Störung handeln muss, die mit anderen genetisch bedingten kognitiven und körperlichen Behinderungen vergleichbar ist. Seine Veröffentlichungen zum infantilen Autismus wurden schnell bekannt und trugen zu einem jahrelangen, recht einseitigen Bild von Autismus bei. So setzte man autistische Verhaltensweisen stets mit dem von Kanner beschriebenen frühkindlichen Autismus gleich und ging davon aus, dass es sich um eine Art der Schizophrenie - also einer psychischen Erkrankung - handelt, die sich bereits in der frühen Kindheit herausbildet (vgl. Kamp-Becker und Bölte 2014, S. 8).

Nachdem die Theorien eine lange Zeit unbeachtet blieben, griff van Krevelen die beiden beschriebenen Ansätze im Jahr 1971 für eigene Forschungszwecke auf (vgl. Demes 2011, S. 20). Beim Vergleich stellte er fest, dass das Konzept nach Asperger in vielen Punkten mit dem von Kanner übereinstimmt, was beispielsweise die Auffälligkeiten im sozialen Verhalten angeht. Als ein zentrales Merkmal, das den Asperger-Autismus vom frühkindlichen Autismus unterscheidet, konnte er die Sprachentwicklung herausarbeiten, die bei letzterem stark eingeschränkt zu sein schien. Aus dieser Erkenntnis entwickelte sich eine neue Sichtweise mit der Idee, dass es sich um zwei grundlegend verschiedene Syndrome handeln muss (vgl. Poustka et al. 2008, S. 6). Van Krevelen war der Auffassung, dass Kinder, die das Kanner-Syndrom aufweisen, wesentlich stärker beeinträchtigt sind. Insbesondere in der Sprache, aber auch in den intellektuellen Fähigkeiten zeigten sie demnach erhebliche Schwächen.

Entgegen der bisherigen Annahmen, bei welchen Autismus als „selten[e], klar abgrenzbar[e] Krankheit“ galt (vgl. Girsberger 2015, S. 24), gaben die neuen Erkenntnisse eine Vorstellung über die tatsächliche Häufigkeit. Einhergehend mit der veränderten Haltung gegenüber dem AutismusKonzept und den überarbeiteten diagnostischen Kriterien stieg die Anzahl der gestellten Diagnosen stark an. Die Aufmerksamkeit wurde nun auch zunehmend auf Kinder mit dem Asperger-Syndrom gerichtet. Zugleich nahm das gesellschaftliche Interesse an der Problematik einseitiger Einstellungen gegenüber Betroffenen in den 1980ern immer mehr zu. Veränderte Sichtweisen brachten zum Ausdruck, dass Autismus nicht kurzerhand mit kindlicher Schizophrenie oder einer Behinderung gleichzusetzen ist. Stattdessen wurde es mit den Veröffentlichungen von Wing im Jahre 1981 international als Entwicklungsstörung anerkannt (vgl. Bahr 2013, S. 13f). Allerdings herrschte lange Zeit Uneinigkeit darüber, ob der frühkindliche Autismus und der Asperger-Autismus tatsächlich voneinander abzugrenzen sind. Viele Forscher vertraten die Meinung, dass man es beim Asperger-Syndrom und dem frühkindlichen Autismus mit derselben Störung unterschiedlichen Ausprägungsgrades zu tun habe (vgl. ebd., S. 21). Dies löste Diskussionen aus, die bis heute nicht vollständig geklärt werden konnten.

Aufgrund des großen Spektrums entstandener Theorien, Klassifikationen und Begrifflichkeiten besteht auch heute noch Uneinigkeit darüber, was Autismus tatsächlich ist und welche Symptome konkret auftreten müssen, um bei einem Menschen eine gerechtfertigte Diagnose stellen zu können. An den Veränderungen und Entwicklungen beim Thema Autismus sowie den Beschreibungen von Asperger und Kanner zeigt sich, dass eine derartige Entwicklungsauffälligkeit ganz unterschiedliche Variationen annehmen kann und es ,den einen Autismus‘ gar nicht gibt (vgl. Heilmann 2015, S. 128). Dennoch lassen sich innerhalb der Gruppe des Asperger-Syndroms offensichtlich spezifische Merkmale feststellen, was eine Unterscheidung zu anderen Formen des Autismus-Spektrums sinnvoll macht.

3.3 Medizinische Klassifikation von Autismus

Für die klinische Zuordnung autistischer Verhaltensweisen sind zwei wesentliche Formen internationaler Checklisten gebräuchlich. Neben der bereits aufgeführten ICD-10 der WHO wird für psychiatrische Diagnosen das diagnostische und statistische Handbuch psychischer Störungen herangezogen. Es handelt sich hierbei um ein nationales Modell der American Psychiatric Association (APA), die im Jahr 2013 die neueste Version, die DSM-5, veröffentlichte (vgl. Freitag et al. 2017, S. 3). Beide Einteilungsformen dienen der Klassifikation von Gesundheitsmerkmalen mit dem Zweck, die spezifische Lebenssituation von entsprechenden Personen beschreiben zu können. Um nun ein besseres Verständnis von Autismus vermitteln zu können, erscheint es sinnvoll, im Einzelnen auf die beiden Klassifikationssysteme einzugehen.

3.3.1 Erscheinungsformen nach der ICD-10

In der ICD-10 findet sich die klassische Unterteilung von Autismus in frühkindlicher Autismus, Asperger-Syndrom, und atypischer Autismus wieder. Den Beschreibungen zufolge weisen die drei Zustandsbilder qualitative Auffälligkeiten in dem Bereich der sozialen Interaktion auf sowie ein eingeschränktes Repertoire stereotyper Verhaltensweisen und Interessen (vgl. DIMDI 2018, Kapitel V).

Frühkindlicher Autismus

Der frühkindliche Autismus, wie ihn Kanner beschrieb, wird in der ICD-10 als Hauptgruppe des Autismus aufgeführt. Weitere Bezeichnungen wie „Infantiler Autismus“, „Kanner-Syndrom“ oder „autistische Störung“ werden synonym verwendet. Es scheint charakteristisch zu sein, dass bereits in den ersten Lebensmonaten Einschränkungen in der Entwicklung vorliegen und sich zudem Auffälligkeiten in drei Kernbereichen abzeichnen: in der sozialen Interaktion, in der Kommunikation und Sprache sowie in den Verhaltensweisen und Interessen (vgl. Heilmann 2015, S. 136). Die Gliederung in die drei Domänen wird auch als „klassische Symptomtrias“ bezeichnet (vgl. Kamp-Becker und Bölte 2014, S. 12). Auf die vollständige Auslegung möglicher Symptome soll aufgrund deren Komplexität an dieser Stelle verzichtet werden. Mithilfe der entsprechenden Literatur können jedoch die folgenden wesentlichen Merkmale benannt werden.

Die Auffälligkeiten im Sozial- und Spielverhalten äußern sich vor allem dadurch, dass Mimik, Gestik und Körperhaltung kaum bis gar nicht eingesetzt werden, um Interaktionen zu regulieren. Dazu gehört etwa die Meidung des direkten Augenkontakts oder alternativ ein Blickkontakt, der anerzogen wirkt und für den Gegenüber unangenehm sein kann (vgl. ebd., S. 13). Auch Reaktionen auf die Emotionen anderer, wie etwa Lächeln oder der Ausdruck spontaner Freude, können ausbleiben. Zudem deutet ein grundsätzliches Desinteresse am Aufbau von Beziehungen zu Gleichaltrigen und gemeinsamen Aktivitäten in Spielsituationen auf eine Erschwernis in der sozialen Kontaktaufnahme hin. Im Umgang mit den Mitmenschen fehlt es demnach an der notwendigen Gegenseitigkeit und an Empathievermögen (vgl. Bahr 2013, S. 20 f.).

Im Bereich der Sprache zeichnen sich von Beginn der Entwicklung Auffälligkeiten im Sprachstil ab, der von einer Echolalie (mechanisches Nachsprechen vorgesagter Wörter und Sätze), Neologismen (Wortneuschöpfungen) und grammatikalischen Fehlern begleitet sein kann. Wie Bölte beschreibt, findet sich im verbalen Ausdruck häufig eine pronominale Umkehr, bei welcher das Kind den Kommunikationspartner mit „Ich“ anspricht und die eigene Person mit „Du“ bezeichnet. Möglich ist auch, dass die Betreffenden grundsätzlich von sich selbst in der dritten Person sprechen. Bei vielen bleibt die Entwicklung der gesprochenen Sprache jedoch vollständig aus, sie können sich nicht lautsprachlich äußern und bleiben stumm (vgl. Bölte 2009b, S. 34).

In Bezug auf den dritten Merkmalsbereich, die begrenzten, stereotyp repetitiven Verhaltensmuster, lassen sich beispielhaft immer gleich ablaufende Tätigkeiten wie Dreh- und Schaukelbewegungen nennen oder ein zwanghaftes Einhalten von täglichen Ritualen. Jegliche Veränderungen gewohnter Handlungsabfolgen können Betroffenen Probleme bereiten. Weiterhin fallen unter diesen Bereich eigentümliche Interessen, die bereits in der frühen Kindheit entwickelt werden und im Vergleich zu jenen der Altersgenossen begrenzt sind (vgl. Freitag et al. 2017, S. 3).

Neben diesen Auffälligkeiten können beim frühkindlichen Autismus noch weitere Begleiterscheinungen - sogenannte Komorbiditäten - auftreten. Genannt werden beispielsweise Ängste, aggressive und selbstverletzende Verhaltensweisen sowie Schlaf- und Essstörungen (vgl. ebd., S. 22 f.). Im Gegensatz zu den klassischen Trias weisen diese Anzeichen gemäß der ICD-10 jedoch nicht spezifisch auf das Vorliegen einer Autismusform hin.

Ergänzend zu der operationalisierten Klassifikation des ICD-10 hat sich innerhalb der Gruppe des frühkindlichen Autismus die Subtypisierung in „High-Functioning-Autismus“ und „Low- Functioning-Autismus“ flächendeckend durchgesetzt. Nach dieser Differenzierung werden Menschen mit frühkindlichem Autismus, deren Intelligenz im durchschnittlichen bis überdurchschnittlichen Bereich vermutet wird, dem High-Functioning-Autismus zugeordnet. Der Begriff des Low-Functioning-Autismus zeigt dementsprechend an, dass bei Betroffenen eine Intelligenzminderung festzustellen ist (vgl. Cholemkery et al. 2017, S. 20; Bölte 2009b, S. 39).

Atypischer Autismus

Die zweite Untergruppe des Autismus bildet in der ICD-10 der atypische Autismus. Wie der Name schon vermuten lässt, liegt hier eine atypische Symptomatik vor. Das bezieht sich zum einen auf das verspätete Eintreten der Symptome (nach dem dritten Lebensjahr). Außerdem ist damit gemeint, dass nicht alle Kriterien des frühkindlichen Autismus erfüllt sein müssen, um die Diagnose zu stellen. Entwicklungsauffälligkeiten sind also nicht in allen drei genannten Bereichen des klassischen Trias erforderlich (vgl. Rollett et al. 2011, S. 13). Dennoch müssen beim atypischen Autismus eine bestimmte Anzahl an Symptomen vorliegen, die auch für den frühkindlichen Autismus als typisch gesehen werden. Durch die unspezifische Beschreibung ist eine klare Zuordnung zu dieser Kategorie jedoch nicht immer eindeutig möglich. Es handelt sich grundsätzlich um einen Teilbereich der tiefgreifenden Entwicklungsstörungen, der bisher wenig erforscht wurde (vgl. Kamp-Becker und Bölte 2014, S. 20).

[...]


1 Der Begriff „Nosologie“ wird im Duden als „systematische Beschreibung und Einordnung der Krankheiten“ definiert (Bibliographisches Institut GmbH 2020)

Ende der Leseprobe aus 97 Seiten

Details

Titel
Kinder mit Asperger-Syndrom im inklusiven Unterricht der Grundschule. Chancen und Herausforderungen
Hochschule
Pädagogische Hochschule Heidelberg
Note
1,3
Jahr
2020
Seiten
97
Katalognummer
V999732
ISBN (eBook)
9783346376831
ISBN (Buch)
9783346376848
Sprache
Deutsch
Schlagworte
kinder, asperger-syndrom, unterricht, grundschule, chancen, herausforderungen
Arbeit zitieren
Anonym, 2020, Kinder mit Asperger-Syndrom im inklusiven Unterricht der Grundschule. Chancen und Herausforderungen, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/999732

Kommentare

  • Noch keine Kommentare.
Blick ins Buch
Titel: Kinder mit Asperger-Syndrom im inklusiven Unterricht der Grundschule. Chancen und Herausforderungen



Ihre Arbeit hochladen

Ihre Hausarbeit / Abschlussarbeit:

- Publikation als eBook und Buch
- Hohes Honorar auf die Verkäufe
- Für Sie komplett kostenlos – mit ISBN
- Es dauert nur 5 Minuten
- Jede Arbeit findet Leser

Kostenlos Autor werden