Das Wichtigste vorweg:
- Digitale Geräte erleichtern den Zugang zu Texten, fördern aber oberflächliches Lesen (Skimming).
- Push-Nachrichten und Multitasking verhindern Deep Reading – besonders bei wissenschaftlichen Texten.
- Studien zeigen: Auf Papier lesen wir nachhaltiger und verstehen mehr.
- Plattformen wie Wattpad und Inkitt verändern unsere Lesepraxis interaktiv, sind aber oft ablenkend.
„Ich wollte nur kurz was lesen…“
…und plötzlich war ich zwanzig Minuten später auf Instagram, habe drei Nachrichten beantwortet, ein Video gesehen – und keine Ahnung mehr, worum es in dem Artikel eigentlich ging. Kennst du das?
Was als kurze Leseeinheit beginnt, endet oft im digitalen Drift: Push-Mitteilungen, Social-Media-Tabs, Newsfeeds – das Smartphone ist kein neutraler Leseraum, sondern ein Dauerangebot an Ablenkung. Wir lesen heute mehr denn je – aber lesen wir auch besser?
Zwischen Skimming, Swipen und Scrollen verschwimmt oft die Grenze zwischen Informationsaufnahme und flüchtigem Konsum. Wissenschaftliche Texte, Fachartikel oder komplexe Argumentationen fordern jedoch genau das Gegenteil: Konzentration, Tiefgang und Reflexion.
Wie also können wir uns das Lesen in digitaler Umgebung zurückerobern? Und was braucht es, um auf dem Smartphone nicht nur viel, sondern wieder gut zu lesen?
Die Realität des digitalen Lesens
Vorteile und neue Freiheiten
Viele Menschen lesen Romane und Kurzgeschichten heute über mobile Endgeräte wie E-Reader und Smartphones, wie zum Beispiel das Kindle von Amazon oder der Tolino E-Reader des Deutschen Buchhandels. Für regelmäßig Lesende ist das häufig eine angenehme Ergänzung oder ein Ersatz für das gedruckte, haptische Buch. Vorteile sind dabei, dass die Geräte in der Regel leicht zu benutzen sind, gleich mehrere Bücher heruntergeladen werden können (was besonders nützlich ist, wenn man auf Reisen geht), der Nutzende sich eine eigene kleine Bibliothek anlegen kann und man kein Licht zum Lesen brauch, da es eine Bildschirm-Beleuchtung gibt.
Nachteile
Aber: Nutzt man stattdessen Apps auf Tablets oder Smartphones, ist der Lesende starken multiplen Störfaktoren ausgesetzt. Dazu zählen u.a. Push-Mitteilungen anderer Anwendungen auf dem Gerät und die Parallelnutzung verschiedener Apps. Nutzende sollten daher Strategien zur Vermeidung dieser digitalen Störfaktoren entwickeln, um einen besseren Umgang mit dem Lesen auf diesen Endgeräten zu erlernen.
Gemessen an der Textmenge, die über Apps auf Smartphones gelesen werden, wird quantitativ sogar mehr gelesen als zuvor – doch die Nutzung der Endgeräte wirkt sich auf das Leseverhalten und sogenannte Lesemodi aus. Es findet eine Verschiebung vom Modus des Deep Reading hin zum Überfliegen von Texten, dem Skimming, statt. Dieses wird durch digitales Lesen immer mehr und Deep Reading, wie es bei wissenschaftlichen Texten bspw. der Fall ist, nimmt weiter ab.
Was die Forschung sagt
In der Forschung werden drei grundlegende Lesetypen unterschieden:
- Skimming: Das Überfliegen von Texten mit dem Ziel, sich einen allgemeinen Eindruck zu verschaffen.
- Immersed Reading: Das komplette Eintauchen in die Geschichte und das komplette Ausblenden der Leseumgebung.
- In-Depth Reading/Deep Reading: Kognitiv anspruchsvolles Lesen mit Vorwissen, dem Abgleich von eigenem Wissen, Wissens- und Wortschatzerweiterung.
Das Lesen über Smartphones verstärkt den Modus des Skimming, bei dem kein nachhaltiges oder tiefes Textverständnis erreicht wird. Inhalte, die via App gelesen werden, sind tendenziell narrativ, in leichter Sprache verfasst und weniger komplex. Die Auswirkungen davon auf die Lesesozialisation und Lesekompetenz werden in der aktuellen Forschung untersucht.
Die Stavanger Erklärung vom Januar 2019 befasst sich mit der Zukunft des Lesens und dem Einfluss von Digitalisierung auf bestehende Lesepraktiken. Die Erklärung wurde in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung veröffentlicht und von mehr als 130 Wissenschaftler:innen unterzeichnet. Die Hauptaussage: Das Verständnis komplexer Informationstexte beim Lesen auf Papier besser ist als beim digitalen Lesen. Dies liegt unter anderem daran, dass Lesende beim Bildschirmlesen ihre Verständnisfähigkeiten überschätzen und häufiger abgelenkt werden.
Das Mercator-Institut hat einen Faktencheck zu „Lesen und Schreiben lernen in der digitalisierten Gesellschaft“ veröffentlicht, der bestätigt, dass digitale Geräte (wie Smartphones und Tablets) zahlreiche Ablenkungen mit sich bringen, darunter Push-Benachrichtigungen und die parallele Nutzung verschiedener Apps. Diese Störfaktoren erschweren das tiefe Eintauchen in Texte. Studien zeigen, dass insbesondere Schüler:innen, die häufig digitale Medien nutzen, schlechtere Leseleistungen erbringen.
Plattformen prägen unser Lesen
Der Begriff „Plattformisierung“ meint jede Form von Textauseinandersetzung auf digital-vernetzten Geräten, i.d.R. Apps oder Onlineplattformen. Digitale Infrastrukturen beeinflussen die Art des Lesens: Was und wie wir lesen hängt von den Features der jeweiligen Plattform ab und davon, welche Inhalte frei zugänglich sind. Die Inhalte werden algorithmisch aufbereitet und die Plattform entscheidet mit, was und wie gelesen wird. Beispiele dafür sind Wattpad, Inkitt oder Galatea, die sich verstärkt auf Content für mobile Endgeräte auf Social-Media-Plattformen konzentrieren. Besonders jüngere Lesende in den Altersgruppen von 14 bis 29 wenden sich verstärkt solchen Plattformen zu, um neuen Lesestoff zu finden. Rund 90% der registrierten Nutzer:innen auf Wattpad lesen auf einem mobilen Endgerät. Wattpad fördert das gemeinschaftliche Lesen und Schreiben von Geschichten in Online-Umgebung. Ein Text kann kommentiert, bewertet und geteilt werden, die Prozesse dahinter werden durch KI und Machine Learning gesteuert.
Plattformen verändern die Art und Weise, wie insbesondere junge Menschen lesen. Sie bieten damit nicht nur Zugang zu Geschichten, sondern fördern dabei die interaktiven Elemente. Es besteht jedoch die Gefahr, dass durch algorithmisch gesteuerte Inhalte kurze, leicht konsumierbare Texte das tiefgehende Lesen verdrängen.
Wege zurück zur Konzentration
Um auch auf digitalen Endgeräten stressfrei lesen zu können, gibt es verschiedene Strategien:
Digitale Lesekompetenz ist die neue Kulturtechnik
Lesen hat sich verändert – und wir uns mit ihm. Zwischen Bildschirm und Scrollbewegung, zwischen Push-Nachrichten und Leselisten braucht es heute neue Strategien, um wirklich bei einem Text zu bleiben. Es reicht längst nicht mehr, ob wir lesen – entscheidend ist, wie wir lesen.
Die gute Nachricht: Tiefes, konzentriertes Lesen ist auch digital möglich. Digitale Lesekompetenz ist keine Frage der Technik, sondern der Aufmerksamkeit. Gerade für Schüler:innen, Studierende und junge Akademiker:innen wird das vertiefte Lesen zur Schlüsselkompetenz: Wer wissenschaftlich arbeitet, wer Zusammenhänge erfassen und reflektieren will, braucht die Fähigkeit zum Deep Reading. Es bleibt eine Kulturtechnik des 21. Jahrhunderts – und sie beginnt mit der Entscheidung, den Flugmodus zu aktivieren und keiner Ablenkung nachzugeben.
Häufig gestellte Fragen
Smartphones sind für Multitasking und ständige Benachrichtigungen optimiert. Push-Mitteilungen, Social-Media-Apps und parallele Nutzung lenken vom konzentrierten Lesen ab und fördern flüchtiges Skimming statt Deep Reading.
Studien zeigen, dass das digitale Lesen auf Bildschirmen das Textverständnis verringern kann. Vor allem komplexe Inhalte werden schlechter verarbeitet als beim Lesen auf Papier.
Die Plattformisierung beschreibt, wie digitale Plattformen wie Wattpad oder Inkitt das Leseverhalten beeinflussen. Algorithmen bestimmen, welche Inhalte angezeigt werden – das verändert, was und wie wir lesen.
Mit einfachen Maßnahmen wie dem Flugmodus, dem „Nicht stören“-Modus, ablenkungsfreien Lese-Apps oder festen Lesezeiten (z. B. Pomodoro-Technik) kannst du auch am Smartphone wieder fokussiert und tief lesen.
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