Anhand der Untersuchung der Massaker von Delhi 1984 - in Folge der Ermordung von Indira Gandhi - versucht der Aufsatz nachzuweisen, wie Wissensdiskurse in der Forschung einseitig auf andere Wissensdiskurse übertragen werden, was einen blinden Fleck in der Untersuchung zur Folge hat.
Die These dieser Arbeit lautet, dass die Massaker von Delhi wesentlich von religiösen Unterschieden konstituiert waren, die man aber in der westlichen Forschung als politische ausgab.
Der Beleg der These erfolgt über eine Kontextualierung des Konflikts vor den Folien der Religion und der Praxis der Gewalt während der Massaker in Form einer dichten Beschreibung nach Sofsky.
Fazit: der blinde Fleck existiert.
„Arbeiten aber heiBt: unternehmen, etwas anderes zu denken, als man zuvor dachte."
I.
Nach der Ermordung Indira Gandhis am 31. Oktober 1984 kam es im Verlauf [1] des nachfolgenden Tages zu gewalttatigen Ubergriffen in beinahe ganz Delhi, die sich uber Wochen und gar Monate weiter hinzogen. Im Wesentlichen waren die Ubergriffe auf die ersten vier Tage und Nachte nach der Ermordung Gandhis konzentriert, in denen sie uber 3000 Todesopfer forderten. Betroffen waren die auGeren Gebiete rund um das Zentrum Delhis; der West-, der Ost-, und der Nord-Distrikt[2]. Die Gewalt war ausschlieGlich gegen eine gesellschaftliche Minderheit gerichtet, die Sikh[3]. Die beiden Leibwachter der Premierministerin, die das Attentat an Gandhi verubten, waren Angehorige der Sikh-Religion, gegen die die „Staatsfuhrung" am 6.06.1984 mit der Operation Bluestar vorgegangen war[4]. Das Attentat auf Ghanid war doppelt motiviert bzw. das Ergebnis zweier konkurrierender, an sich nach Forschungsmeinung zu differenzierender, unterschiedlicher Wissensdiskurse: Eines religiosen und eines politischen. Beide Diskurse lassen sich in diesem Fall aber nicht voneinander trennen, weswegen ich vorschlage, sie zu verbinden und in Folge von einem Diskurs der „Religionspolitik" spreche - wenn also das religiose Wissen „Politik" macht, oder anders: Politik in vorliegendem Fall ist eine Bezeichnung fur die Funktionsweise der Erkenntnisverfahren der Religion.
II.
Meine These: Im Vorfeld des Massakers, vor allem wahrend den brutalen Ausschreitungen, waren die sozialen Ereignisse in Dehli uberwiegend von religionspolitischen Machtkampfen seitens der hinduistischen Mehrheit gepragt und beeinflusst, wenngleich ebenso von Seiten der Sikh, hier aber durchaus weniger aggressiv. Die jeweiligen Fuhrer beider religionspolitischer Diskurse, wie zur Zeit des Massakers Bhindranwale fur die Sikh und Gandhi fur die Hindus, behandelten diesen, seit Staatsgrundung bestehenden Konflikt, wie ihre Vorganger auch, als einen vermeintlich politischen. Er gipfelte in dem Massaker von Dehli 1984, der den Versuch darstellt, einen sich auGerhalb des religionspolitischen Diskurses der Hindus befindlichen religionspolitischen Diskurs - den Sikhismus - auszuloschen.
III.
Gandhi selbst hat noch kurz vor ihrer Ermordung in Folge der Operation Blue Star das Problem des herrschenden Konflikts zu relativieren versucht, indem sie meinte, den Konflikt ausschlieGlich politisch deuten und entsprechend losen zu konnen[5]. Der „staatsfuhrende" Diskurs, die religionspolitische Macht in Indien war der polytheistische Hinduismus; die monotheistische Religion der Sikh hingegen war eine noch sehr junge Macht, entstanden erst im 15ten Jahrhundert. Zum Zeitpunkt der Massaker 1984 waren Sikh in allen gesellschaftlichen Bereichen Indien vertreten[6]. Daher bin ich der Meinung, dass den Sikh eine nicht zu unterschatzende Beteiligung im sozialen Handlungsfeld des Gesamtkonflikts zuzuschreiben ist, wenngleich ihr religionspolitisches Vorgehen, im Verhaltnis insgesamt betrachtet, doch eher fur unsere Begriffe liberale Zuge trug. Die Sikh waren aber zweifellos diejenigen, die in Folge der Ermordung Gandhis im Zuge der daraufhin einsetzenden Grausamkeiten im Raum Delhi ausgeloscht werden sollten.
In der Forschung wird in Bezug auf die Gewalttaten in Delhi 1984 von einem Pogrom gesprochen[7] Ich schlage aber vor, dass es sich vielmehr um mehrere Massaker im „Raum Delhi" gehandelt hat[8]. Diese Massaker waren die gewaltatige Extase der aufeinanderprallenden Gegensatzlichkeit zweier religionspolitischen Diskurse und daraus zu folgernden, diametral entgegengesetzten Machtpraxen. Den Zundfunken oder die Inspiration fur die Extase der Gewalt lieferte die Ermordung Indira Gandhis.
IV.
In Folge kontextualisiere ich die Massaker vor den verschiedenen religionspolitischen Diskursen Hinduismus und Sikhimsus um die jeweiligen interdiskursiven und daraus resultierenden machtpraktischen Gegensatze zu verdeutlichen, die sich im Wesentlichen im Verlauf des Konflikts belegen lassen[9]. Dazu ist es notig, einen Ausflug in Richtung der genannten Religionen zu unternehmen, der daraufhin in einer Analyse der Gewaltakte einfliefct. Hierbei werde ich darauf fokussieren, was wie an wem geschah.
Wie festzustellen war, wurde dem Konflikt von Seiten der Forschung bislang allein auf - nach westlichem Verstandnis - politischer Ebene Aufmerksamkeit gewidmet. Die von aufcen angelegten Untersuchungsmafcstabe der ebenso uberwiegend westlichen Beobachter der Massaker von Delhi zeitigten insofern eine einseitige Herangehensweise an Ereignisse, die merkwurdigerweise vor allem eines in den Betrachtungen aufcer Acht liefcen: Die religionspolitische Verschiedenheit der religiosen Diskurse, der „Tater" und der „Opfer" - und den daraus resultierenden und praktisch durchgefuhrten Ausrottungsversuch der Sikh. Meiner Meinung hat diese Einseitigkeit ihre Ursache darin, dass hier gerade zuviel differenziert wurde, wo sich Religion und Politik als Diskurse eben nicht voneinander differenzieren lassen, wenigstens nicht so viel, wie es unsere Vernunft dem Untersuchungsgegenstand unterstellen mochte.
Hinduismus und Sikhismus unterscheiden sich ganz wesentlich. Aus der religios fundierten Anforderung an die religionspolitische Praxis ergeben sich daher prinzipiell vollig unterschiedliche theoretische und strukturbildende Annahmen und Anspruche an die religionspolitische Wirklichkeit. Diese Forderungen konnten freilich eine Zeit lang durch die daraus gebildeten Machtstrukturen und deren unterstellte Integrationsfahigkeit unterdruckt und verschleiert werden, doch wie am Beispiel Delhis 1984, brechen sie gegebenenfalls in aller Heftigkeit hervor. al) Der Hinduismus tragt als wichtigstes Strukturunterscheidungsmerkmal im Herzen das Kastenwesen. Von Glasenapp erlautert die soziale bzw. hier die religionspolitische Relevanz des Kastenwesens[10]. Trotz eines allgemein angenommenen Diskriminierungsverbots, ist das Prinzip der Kaste eines von praktizierter, sozialer Ungleichheit und das seit seiner Entstehung ca. 2500 v. Chr. Der angenommene Grundsatz derOrdnung ist, dass den Menschen von Geburt an unterschiedliche Fahigkeiten, Rechte und Aufgaben zukommen, die sie streng voneinander trennen. Jede Kaste, sogenannte Varnas, kennzeichnen unterschiedliche religiose wie kultische Vorschriften, die in alle Bereiche der religionspolitischen Lebensfuhrung ausstrahlen. Die unbedingte Pflicht jedes Hindus ist die strikte Einhaltung der jeweiligen Verordnungen, des Dharma, der jeweiligen Kaste. Die hinduistische Gesellschaft ist, grob gesehen, in vier Kasten aufgeteilt, wovon sich die Kasten aber in zahlreiche Unterkasten unterscheiden. Neben den vier Haupt-Kasten existieren die sogenannten Dalits. Sie erledigen „niedere" Arbeiten innerhalb des Diskurses. Das Prinzip des Kastenwesens ist die strikte Trennung der einzelnen Kasten von seiner jeweils nachsten. Soziale Mobilitat ist dadurch dem Grunde nach nicht moglich[11].
Das Kastenwesen ist also eine weit uber vier Jahrtausende soziogenetisch gewachsene religionspolitische Wirklichkeit sozialer Ungleichheit. Durch die Dauer dieser Tradition sind die Hindus in ihrer kulturellen Biegsamkeit wenigstens befangen. Wie von Glasenapp bemerkt, sind es vor allem die armeren Kasten in den Stadten und die Landbewohner, „die zah am Alten festhalten". Die Eliten bzw. die meisten der gehobeneren Kasten in den Stadten, die aus dieser zahen Tradition teilweise auszurechnen sind, waren bereits seit der Kolonialzeit bzw. seit Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts wirksamen westlichen Reformbewegungen unterworfen, wofur die „politische" Haltung Indira Gandhis beispielhafter Ausdruckwar[12].
[...]
[1] Foucault 1989, S. 15
[2] Vgl. Baixas, S.3f
[3] ebenda. S. 3F; vgl. Census of India
[4] Vgl. unten Punkt V.
[5] Vgl. Baixas, S. 6f. Vgl. Van Dyke, S. 206
[6] Vgl. Baixas, S. 3f
[7] Vgl. Baixas, S. 6f.
[8] Zu Pogrome siehe auch Bergmann, Werner: Pogrome. In: Heitmeyer, Wilhelm, Hagan, John (Hrsg): Internationales Handbuch der Gewaltforschung. Wiesbaden 2002. S. 441-460. Die Definition von Pogrom steht in keinerlei uberzeugenden Beziehung zu den hier untersuchten Gewalttaten.
[9] Das Ende des Konflikts steht noch ganz am Anfang. Durch die Unterdruckung der Fakten, wie des Geschehens insgesamt von Seiten der Staatsfuhrung, steht eine Aufarbeitung bzw. Analyse und Interpretation beinahe noch ganzlich aus. Von asiatischen Kommentatoren und Beobachtern habe ich nichts uber diesen besonderen Aspekt erfahren konnen - meist sind die Aufarbeitungsprozesse und Auseinandersetzungen um Dehli 1984 von grofier Emotionalitat und Einseitigkeit in Form von Vorwurfen gegen die Regierung gepragt.
[10] Von Glasenapp, S. 15f.
[11] ebenda. S. 15f. Die oberste Kaste bilden die Brahmanen. Sie studieren die heiligen Schriften der Hindus, die Veden. Aus ihr rekrutieren sich die geistigen bzw. religiosen Fiihrer. Die zweite Kaste bildet die ehemalige Kriegerkaste. Aus ihr stammen heute traditionell die Politiker bzw. die Eliten des Landes. Ihre Rolle hat sich entsprechend traditionell transformiert. Die dritte Kaste ist vergleichbar dem unseren Mittelstand und bezieht die Bauern mit ein. Die vierte Kaste ist die sog. dienende Kaste - die Dienstleister, Programmierer, Handler usf. Es war der Politik seit den fruhen siebziger Jahren ein Anliegen, die Dalits starker in das Kastenwesen zu integrieren, um deren soziale Stellung zu verbessern. Die Kasten selbst sind wiederum unterteilt in ,,mehrere Hundert Familiengruppen".
[12] ebenda. S. 70f.
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