Zur Konstruktivismus - Diskussion in der Berufs- und Wirtschaftspädagogik: Begründungsmuster und Realisierungskonzepte


Hausarbeit (Hauptseminar), 2005

24 Seiten, Note: 2,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einführung

2. Zur Konstruktivismus – Diskussion: Begründungsmuster
2. 1 Konstruktivismus als Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie
2. 2 ‚Neuer’ Konstruktivismus
2. 3 ‚Piagets Konstruktivismus’
2. 4 Behaviorismus – Kognitivismus – Konstruktivismus

3. Zur Konstruktivismus – Diskussion: Realisierungskonzepte
3. 1 Von der handlungsorientierten zur konstruktivistischen Perspektive?
3. 2 Konstruktivistische Ansätze in der Instruktionspsychologie und der Empirischen Pädagogik
3. 2. 1 Anchored Instruction – Ansatz
3. 2. 2 Cognitive Flexibility – Ansatz
3. 2. 3 Cognitive Apprenticeship – Ansatz
3. 3 Konstruktivistischer Unterricht
3. 3. 1 Merkmale konstruktivistischen Unterrichts
3. 3. 2 Merkmale ‚konstruktivistischer Lehrer und Lehrerinnen’
3. 3. 3 Der Schulversuch: Erfahrungen, Probleme, Folgerungen

4. Kritik
4. 1 Kritik an der Theorie des radikalen Konstruktivismus
4. 2 Kritik am konstruktivistischen Unterricht

5. Fazit / Schlussbetrachtung

Literatur

1. Einführung

„Wenn ich ein Pferd anschaue, wie kann ich sicher sein, daß das, was ich sehe, dem wirklichen Pferd gleicht, das meine Wahrnehmung verursacht? … Um diese Frage zu beantworten, müßte ich meine Wahrnehmung des Pferdes mit dem ‚wirklichen’ Pferd vergleichen können. Das ist aber einleuchtenderweise ganz unmöglich, denn der einzige Weg zum wirklichen Pferd führt über meine Sinne.“[1]

Dieses Zitat Ernst von Glaserfelds wird beim Leser sicherlich Widerstand, Zustimmung oder/und kritisches Nachdenken erzeugen oder, wie es vermutlich Konstruktivisten formulieren würden, zu Perturbationen oder eben Irritationen führen.

Welche Aussagen trifft der Konstruktivismus über die Wirklichkeit? Gibt es eine objektive Wirklichkeit oder ist die Realität nur eine Konstruktion ihres Betrachters? Welche Auswirkung hat die Konstruktivismusdiskussion auf die Berufs- und Wirtschaftspädagogik bzw. auf das Lehren und Lernen in Schule und Betrieb? Und was bedeutet/heißt Konstruktivismus überhaupt?

Das facettenreiche Paradigma des Konstruktivismus ist in mehreren Wissenschaftsdisziplinen wie beispielsweise der Psychologie, Soziologie, Biologie und Pädagogik „zu Hause“, unterliegt vieler verschiedener Begründungsmuster und wird in seiner Anwendung auf verschiedene Art und Weise ausgelegt und abgestuft. Eine umfassende Beschreibung des Konstruktivismus ist deshalb, wenn überhaupt, im Rahmen dieser Hausarbeit sicherlich nicht möglich. Im Bezug auf die Realisierungskonzepte, wie beispielsweise dem Wissenserwerb im Schulunterricht, bietet die gegenwärtige Konstruktivismus – Diskussion „ein uneinheitliches und verwirrendes Bild.“[2] Die sehr unterschiedlichen Hintergrundpositionen verschiedener Vertreter des konstruktivistischen Denkens werden „in der Didaktik auf unterschiedliche und unterschiedlich intensive Weise genutzt bzw. kombiniert. Deshalb ist es entsprechend schwer, konstruktivistische Kerngedanken präzise auszumachen: Jeder irgendwie Identifizierte streitet sofort ab, so identifizierbar zu sein!“[3]

Die vorliegende Arbeit soll deshalb in erster Linie einen Überblick, bzw. Einblick in die Begründungsmuster der (Lern-)Theorie „Konstruktivismus“ und deren Realisierungskonzepte geben. Die mir zentral erscheinenden Schlagworte werde ich dabei grafisch hervorheben (‚fett’).

2. Zur Konstruktivismus – Diskussion: Begründungsmuster

Laut Gerstenmaier/Mandl beinhaltet die gegenwärtige Konstruktivismusdiskussion Fragen nach der Objektivität des Wissens und sein Verhältnis zur Welt, nach der theoretischen Modellierung des Wissens, seiner kontextuellen und kulturellen Einbettung und schließlich nach den Möglichkeiten der Förderung des Wissenserwerbs.[4] Der sukzessiven Beantwortung dieser Fragen soll in dieser Arbeit nachgegangen werden. Um die Fragen beantworten zu können, muss auf unterschiedliche Theorieebenen und –bereiche (Kapitel 2: Begründungsmuster) eingegangen werden. Die Frage nach der Förderung ‚konstruktivistischen’ Wissenserwerbs soll dann in Kapitel 3 (Realisierungskonzepte) beantwortet werden.

2. 1 Konstruktivismus als Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie

(Radikaler Konstruktivismus)

Die Erkenntnistheorie des radikalen Konstruktivismus liefert die erkenntnis- und wissenschaftstheoretischen Basisannahmen. Ihr zufolge ist Wahrnehmung als Konstruktion und Interpretation zu sehen. Dies bedeutet, dass Objektivität bzw. subjektunabhängiges Denken und Verstehen unmöglich sind, denn es wird kein Wissen entdeckt, sondern alles erfunden. Dies heißt jedoch nicht, dass die Existenz einer außer uns existierenden Realität von Dingen geleugnet wird.[5] Diese Kernannahme des radikalen Konstruktivismus sei nach Gerstenmaier und Mandl wissenschaftlich nicht neu, jedoch deren Folgerungen und Begründungen (gegenseitige Stützung), welche sich in drei Argumentationslinien ausdrücken lassen: (1) gehirnphysiologische, (2) kognitionswissenschaftliche und (3) systemtheoretische Annahmen.[6]

Zu (1): Die vom Radikalen Konstruktivismus herangezogenen Forschungen zur Neurobiologie des Gehirns besagen, dass Sinnesorgane zwar die zur Wahrnehmung notwendigen Reize liefern, die eigentliche Wahrnehmung jedoch in den mit den Sinnesorganen vernetzten Hirnregionen stattfindet. Die Außenwelt wird demnach nicht einfach von den Sinnesorganen in das Gehirn transportiert, welches dann ein genaues Abbild der Außenwelt aufbaut, sondern es wird davon ausgegangen, dass das Gehirn anhand geringer und lückenhafter Umweltinformationen sich die Wirklichkeit, sozusagen durch sich selbst determiniert, aufbaut. Roth stellt fest, „dass das Gehirn, statt weltoffen zu sein, ein kognitiv in sich abgeschlossenes System ist, das nach eigenentwickelten Kriterien neuronale Signale deutet und bewertet, von deren wahrer Herkunft und Bedeutung es nichts absolut Verlässliches weiß.“[7]

Roth konzentriert sich bewusst auf die empirisch – neurobiologische Evidenz für oder gegen die Konstruktivität der Wahrnehmung, um als kritischer Realist der Frage nachzugehen, in welchem Maße das Gehirn abbildend oder konstruktiv ist und zieht daraus die notwendigen erkenntnistheoretischen Schlüsse. Da ich diese Vorgehensweise sehr sinnvoll finde, möchte ich an dieser Stelle zusätzliche neurobiologische Aspekte anfügen.

Da dem Gehirn nur das zur Verfügung steht, was ihm die Sinnesorgane liefern, stellt sich Roth zuerst die Frage, ob zwischen den Umweltereignissen und den Sinnesrezeptoren eine mehr oder weniger eindeutige Korrelation besteht und zweitens, ob zwischen den Sinnesrezeptoren und den kognitiven Gehirnzuständen eine relativ eindeutige Korrelation besteht. „Nur wenn beide Fragen bejaht werden, dann besteht auch zwischen Umweltereignissen und Gehirnzuständen ein Abbildungsverhältnis im Sinne einer verläßlichen Korrelation.“[8] Zur Reizung der Sinnesrezeptoren können sehr unterschiedliche Umweltereignisse führen, wie beispielsweise Schalldruckwellen, Geruchsmoleküle, mechanischer Druck, Wasserströmungen etc. Diese Umweltereignisse stellen jedoch nur einen winzigen Ausschnitt aus der physikalischen Welt dar, denn im Vergleich zu manchen Tieren nimmt der Mensch Schall- und Lichtwellen in einem wesentlich kleineren Bereich (50-15.000 Hertz bzw. 400-750 Nanometer) wahr. Besonders Tast- und Druckrezeptoren sind beim Mensch besonders eingeschränkt. Deshalb kann es sich bei der Abbildung der Welt niemals um eine vollständige Repräsentation handeln, sondern lediglich um die für den Organismus lebensrelevanten Ereignisse. In der Natur hat sich in den allermeisten Fällen die Entwicklung weniger Breitbandrezeptoren, denen ein kombinatorisch – auswertendes System nachgeschaltet ist, durchgesetzt. Zum Beispiel führen beim Mensch drei Typen farbempfindlicher Zapfen, aufgrund einer komplexen nachgeschalteten Auswertung im Gehirn, zu zwei Millionen wahrnehmbaren Farbabstufungen. Schon aufgrund dieser Tatsache sei laut Roth jede Wahrnehmung konstruktiv.[9]

Da die Nervenzellen des Gehirns die durch die Sinnesorgane aufgefangenen Umweltereignisse nicht direkt erkennen können, müssen die Sinnesorgane diese in neuroelektrische und neurochemische Prozesse umwandeln, welches dazu führt, dass alles in einen so genannten neuronalen „Einheitscode“ übersetzt wird. Durch diese Umwandlung verlieren die Umweltreize ihre spezifischen Ausprägungen. Um von der Rezeptoraktivität auf die Umwelt schließen zu können, benötigt das Gehirn jedoch eine verlässliche Beziehung zwischen Außenwelt und Rezeptoraktivität. Die Lösung dieses Problems könne laut Roth nur darin liegen, dass die Spezifität des als solchen bedeutungslosen, einheitscodierten, neuronalen Codes „im relativen Ort und der relativen Zeit codiert ist.“[10] Die Tastsache, dass wir zum Beispiel etwas visuell wahrnehmen, wird über den Verarbeitungsort im Gehirn festgelegt. So mündet beispielsweise die relative Aktivität der Farbrezeptoren und der nachgeschalteten Nervenzellen in der Konstruktion von Farbempfindungen und Farbkonstanz.

Das System der Informationsverarbeitung spiegelt sich in schlichten Zahlen wieder: „Das menschliche Gehirn erhält etwa drei bis vier Millionen Nervenfasern aus der Peripherie; dagegen sind es zwischen 100 Milliarden und 1 Billion zentrale Neuronen, welche diese einlaufende Aktivität auswerten.“[11] Dies bedeutet, dass nur etwa ein Hunderttausendstel der Gesamtaktivität des menschlichen Gehirns von den Sinnesorganen kommt. Alles andere wird vom Gehirn als interne Information hinzugetan. Daraus folgt, dass die Sinnesorgane die „reale Welt“ im Gehirn nicht abbilden können. Das Gehirn konstruiert die Wahrnehmung durch die Rohdaten der Sinnesorgane und anhand internen Vorwissens. Das interne Vorwissen wird durch das Gedächtnis bereitgestellt und die dadurch beeinflusste Wahrnehmung wirkt wiederum in einem Kreisprozess auf das Gedächtnis ein (Selbstreferenz).[12]

Im Anschluss hieran wird über die Entstehung von Erfahrungen und Bedeutungen anhand der Überprüfung interner Umweltmodelle im Rahmen lebenslanger Erfahrungsprozesse diskutiert.

Zu (2): Auch die kognitionswissenschaftliche Annahme Maturanas verdeutlicht anhand des Begriffes Autopoiesis (griechisch: autos + poiein = Selbsterhaltung), dass nicht irgendwelche Umweltreize, sondern die kognitive Struktur das Verhalten eines Organismus bestimmt, denn diese Struktur erzeugt selbst die Information, die sie verarbeitet. Analog zum informationell geschlossenen System des Gehirns wird hier kognitionstheoretisch ein Modell der Informationskonstruktion postuliert. „Verarbeitet wird das, was hereingelassen wird, viabel (d.h. passend) ist und dem Strukturerhalt dient.“[13] Kommunikation wird demnach nicht als ein Wissensaustausch gesehen, sondern als eine Anregung zur Konstruktion. Hier sind Berührungen mit dem Sozialkonstruktivismus vorhanden, welcher sich mit der Analyse der Produktion und Weitergabe gesellschaftlichen Wissens beschäftigt und dem ‚neuen’ Konstruktivismus (siehe 2. 2, S. 5) zuzuordnen ist. Laut Berger und Luckmann wird gesell- schaftliches Wissen „im Laufe der Sozialisation als objektive Wahrheit gelernt und damit als subjektive Wirklichkeit internalisiert.“[14]

[...]


[1] zit. in: Groeben, N., Zur Kritik einer unnötigen, widersinnigen und destruktiven Radikalität, in: Fischer, H. R. (Hrsg.), Die Wirklichkeit des Konstruktivismus: Zur Auseinandersetzung um ein neues Paradigma, Heidelberg 1995, S. 152

[2] Gerstenmaier, J./Mandl, H., Wissenserwerb unter konstruktivistischer Perspektive, in: Zeitschrift für Pädagogik, 41. Jg. (1995), H. 6, S. 867

[3] Terhart, E., Konstruktivismus und Unterricht, in: Zeitschrift für Pädagogik, 45. Jg. (1999), H. 5, S. 631

[4] vgl. Gerstenmaier, J./Mandl, H., Wissenserwerb unter konstruktivistischer Perspektive, in: Zeitschrift für Pädagogik, 41. Jg. (1995), H. 6, S. 868

[5] vgl. Terhart, E., Konstruktivismus und Unterricht, in: Zeitschrift für Pädagogik, 45. Jg. (1999), H. 5, S. 632

[6] vgl. Gerstenmaier, J./Mandl, H., Wissenserwerb unter konstruktivistischer Perspektive, in: Zeitschrift für Pädagogik, 41. Jg. (1995), H. 6, S. 868

[7] zit. in: Gerstenmaier, J./Mandl, H., Wissenserwerb unter konstruktivistischer Perspektive, in: Zeitschrift für Pädagogik, 41. Jg. (1995), H. 6, S. 869

[8] Roth, G., Die Konstruktivität des Gehirns: Zum Kenntnisstand der Hirnforschung, in: Fischer, H. R. (Hrsg.), Die Wirklichkeit des Konstruktivismus: Zur Auseinandersetzung um ein neues Paradigma, Heidelberg 1995, S. 48

[9] vgl. ebenda, 47 – 50

[10] ebenda, S. 51

[11] ebenda, S. 52

[12] vgl. ebenda, S. 47 – 53 & 59/60

[13] Gerstenmaier, J./Mandl, H., Wissenserwerb unter konstruktivistischer Perspektive, in: Zeitschrift für Pädagogik, 41. Jg. (1995), H. 6, S. 869

[14] zit. in: ebenda, S. 871

Ende der Leseprobe aus 24 Seiten

Details

Titel
Zur Konstruktivismus - Diskussion in der Berufs- und Wirtschaftspädagogik: Begründungsmuster und Realisierungskonzepte
Hochschule
Universität Konstanz  (Lehrstuhl für Wirtschaftspädagogik)
Veranstaltung
Grundbegriffe und konstukte der Lern- und Entwicklungspsychologie und ihre Pädagogische Relevanz
Note
2,3
Autor
Jahr
2005
Seiten
24
Katalognummer
V56222
ISBN (eBook)
9783638509701
ISBN (Buch)
9783638664448
Dateigröße
851 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Die Note 2,3 gehörte zu den sehr guten Noten. Der Konstruktivismus wird aus vielen Perspektiven beleuchtet und verständlich erklärt.
Schlagworte
Konstruktivismus, Diskussion, Berufs-, Wirtschaftspädagogik, Begründungsmuster, Realisierungskonzepte, Grundbegriffe, Lern-, Entwicklungspsychologie, Pädagogische, Relevanz
Arbeit zitieren
Andreas Hinz (Autor:in), 2005, Zur Konstruktivismus - Diskussion in der Berufs- und Wirtschaftspädagogik: Begründungsmuster und Realisierungskonzepte, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/56222

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