Gesundheitsförderung im Krankenhaus


Diplomarbeit, 2002

115 Seiten, Note: 2,5


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1 Pflegerisches Handeln durch Beziehungsgestaltung und Selbstbefähigung (Harms/Kühne)

2 Das bio-medizinische Krankheitsmodell in der Orientierung an Norm und Abweichung (Harms)
2.1 Beispiel 1: Die Fiebermessung (Harms)
2.2 Beispiel 2: Der Versuch der Normierung des Psychischen (Harms)
2.3 Kritische Betrachtungen: Von der Pathogenese zur Salutogenese (Harms)

3 Grundlagen der Gesundheitsförderung (Kühne)
3.1 Gesundheitsförderung (Kühne)
3.2 Gesundheitsförderung der WHO (Kühne)
3.2.1 Das Mehrebenenmodell (Kühne)
3.2.2 Aktionsfelder der Gesundheitsförderung (Kühne)
3.3 Das Modell des gesundheitlichen Bewusstseins (Kühne)
3.4 Gesundheitsziele (Kühne)

4 Pflege und Gesundheitsförderung (Harms)
4.1 Auf dem Weg von der Krankenpflege zur Gesundheitspflege (Harms)
4.1.1 Wie Wissen Lernen in der Pflege verhindern kann (Harms)
4.1.2 Pflege als gesundheitsfördernde Kraft (Harms)

5 Bezugspflege als gesundheitsfördernde Arbeitsform (Kühne)
5.1 Das Pflegemodell von Peplau als ein Verständigungsmodell (Kühne)
5.2 Patientenorientierung (Kühne)
5.3 Mitarbeiterorientierung (Kühne)

6 Empowerment: Gesundheitsfördernde Strategie und Prozess (Harms)
6.1 Empowerment : Ursprünge, Konsequenzen und Ziele (Harms)
6.2 Eine Pflegeposition: Der Empowermentprozess als Professionalisierungshilfe (Harms)
6.3 Die Perspektive der Betroffenen als „Nutzer“ (Harms)
6.4 Von der Fremdbestimmung zur Selbstbestimmung von Pflegenden und zu Pflegenden (Harms)

7 Ausblick (Harms/Kühne)
7.1 Bezugspflege: Von der Begegnung zur Beziehung (Kühne)
7.2 Empowerment: Pflege ist subjektorientiert (Harms)

8 Schlussbetrachtungen (Harms/Kühne)

9 Literatur

1 Pflegerisches Handeln durch Beziehungsgestaltung und Selbstbefähigung (Harms/Kühne)

Von ihrem Ursprung her betrachtet lässt sich die Pflege als ein praktisches Fach begreifen, das die Wurzeln im 19. Jahrhundert hat. Damals wie heute ist der soziale Auftrag pflegerischen Handelns gleich geblieben. Im sich inzwischen zu einem Spezialgebiet entwickelten Pflegeberuf geht es nach wie vor darum, Menschen in dieser Gesellschaft bei aktuellen Reaktionen oder potentiellen Gesundheitsproblemen auf unterschiedliche Weise beizustehen (vgl. Kirkevold 2002, S. 15).

In Anlehnung an die Naturwissenschaften hat das sich erfolgreich durchsetzende bio-medizinische Modell zwar eine Vielzahl von Krankheiten eruieren und erforschen können, dabei die Gesundheit(en) und den Mensch als Subjekt aber vernachlässigt. Die Pflege, einst komplementär zur Medizin als bürgerlicher Frauenberuf entwickelt, hat sich in Ermangelung eigener Professionalisierung ebenfalls lange schwer damit getan, was unter Gesundheitsförderung vor allem auch im Krankenhaus zu verstehen ist und wie sie als fester Bestandteil in die pflegerische Alltagsarbeit integriert werden kann. Thematischer Gegenstand der vorliegenden Arbeit ist die Gesundheitsförderung und Selbstbefähigung aus pflegerischer Sicht.

Kapitel 2 soll klären helfen, wie es dazu aus wissenschaftshistorischer Sicht in Anlehnung an Foucault gekommen ist, das die Gesellschaften in unserem Kulturraum in den letzten 250 Jahren sich immer mehr zu „Normalisierungsgesellschaften“ entwickelt haben. Warum wird normal/abnormal so oft mit gesund/krank synonym gedacht? Am Beispiel von Fiebermessung und der Normierung des Psychischen sollen Antworten gefunden werden. Zugleich ist das Kapitel auch „Schattengeschichte“ der Pflege, weil noch jeglicher Sprache beraubt. Gesundheitsförderung jedenfalls hatte zu jener Zeit eine gänzlich andere Bedeutung.

Seit der Ottawa-Charta der WHO aus dem Jahre 1986 hat Pflege in der Versorgung von gesundheitlich in Not geratenen Menschen eine gesellschaftliche Schlüsselrolle in der Frage der Gesundheitsförderung und ihrer Grundlagen erhalten, die sie vor allem im Hinblick auf das Angebot der Gesundheitswissenschaften/Public Health zur gleichberechtigten Mitarbeit annehmen und ausbauen sollte. Dazu mehr in den Kapiteln 3 und 4.

Pflegerisches Handeln durch Beziehungsgestaltung und Selbstbefähigung in den Kontext zur Gesundheitsförderung im Krankenhaus zu stellen, daran schließen sich spannende Fragen an.

Bedeuten Beziehungsgestaltung und Selbstbefähigung wichtige Elemente gesundheitsfördernder Pflegearbeit im Krankenhaus?

Welchen Stellenwert haben innere Haltungen und Menschenbilder bei der Beziehungsgestaltung zwischen Pflegenden und Patienten?

Die Ausführungen der Verfasser ranken um diese zentralen Fragestellungen.

Kapitel 5 thematisiert die Bezugspflege in der Annahme, das diese eine gesundheitsfördernde Arbeitsform in Kombination mit dem Pflegemodell von Peplau darstellen kann und deshalb praxistauglich ist. Damit verbunden erfordern Begriffe der Mitarbeiter- und Patientenorientierung eine Auseinandersetzung.

Mit der Selbstbefähigung bzw. Bevollmächtigung von Patienten wie Pflegekräften als eine von den Verfassern ebenfalls als gesundheitsfördernd betrachtete Form setzt sich Kapitel 6 über die Strategie des Empowerment auseinander.

Kapitel 7 möchte in einem Ausblick zeigen, dass in dem Prozess von der Begegnung zur Beziehung persönliche Einstellungsmerkmale bedeutsam sind, um ein gesundheits- und wachstumsförderndes Klima zu schaffen und das die Zukunft der Pflege nur in Anerkennung und Respekt vor dem Menschen als Subjekt in seiner beschriebenen Ganzheitlichkeit zu denken ist.

Zugleich möchten die Verfasser mit dieser Arbeit auch ein Stück Theorie in die Pflegepraxis übertragen helfen, damit aus einem oft stillschweigenden Wissen sich auch eine Sprache der Pflege formulieren kann, die den vielen tüchtigen und kompetenten Pflegekräften, ohne die die Medizin nicht „funktionieren“ würde, das benötigte „Werkzeug“ in die tätig werdende Hand gibt, weil sonst ein reflexives Handeln nur schwer vorstellbar erscheint.

Zum Design der Arbeit: Methodische Vorgehensweisen sind primär die Literaturrecherche und etliche Arbeitstreffen, Telefonate und zahlreicher „e-mail-Verkehr“ zwischen den Verfassern zu Diskussion, Reflexion und Abstimmung der nicht ohne Mühe erbrachten Textarbeit in einem längeren zeitlichen Prozess.

Auf eine dichotome Schreibweise wird im fortlaufenden Text zwecks flüssigerer Lesbarkeit verzichtet; dies betrifft keine wiedergegebenen Zitate, die in diesem Punkt unverändert bleiben, bzgl. den Regeln der „Neuen Rechtschreibung“ jedoch, soweit nötig, angepasst wurden.

Menschen sind meistens als Frau oder Mann zugeordnet, auch wenn sich dies in der gesellschaftlichen Wirklichkeit immer noch oft anders gewichtet, was die Möglichkeiten in den meisten Lebensbereichen angeht. So ist die formale Schreibweise in den Inhalten über einen traditionell weiblichen Beruf zwar in der zumeist männlichen Form verfasst, aber stets unter Einbeziehung aller Geschlechter gedacht.

2 Das bio-medizinische Krankheitsmodell als Orientierung an Norm und Abweichung (Harms)

„Wir sind in einen Gesellschaftstyp eingetreten, in dem die Macht des Gesetzes dabei ist, zwar nicht zurückzugehen, aber sich in eine viel allgemeinere Macht zu integrieren, nämlich in die der Norm. (...) Das setzt ein ganz anderes Kontroll- und Überwachungssystem voraus: eine unaufhörliche Sichtbarmachung und permanente Klassifizierung, Hierarchisierung und Qualifizierung der Individuen anhand von diagnostischen Grenzwerten. Die Norm wird zum Kriterium, nach dem die Individuen sortiert werden“ (Foucault 1976, S. 84).

An zwei Beispielen soll in unserem Kulturraum die Entwicklung zu einer „Normalisierungsgesellschaft“ in Anlehnung an Foucault ausschnittsweise verdeutlicht werden: einer Gesellschaft, der historische Entwicklungsprozesse vorausgingen, so dass wir heute etwa den Umgang mit der Fiebermessung und dem, was wir als psychisch krank/gesund erachten, auch immer wieder mit normal/abnormal gleichsetzen – gleichsam als das „Natürliche“ oder „Naturgemäße“, wie es sich in Europa vor etwa 250 Jahren zu verdeutlichen begann. So wurden die Gesellschaften an die Produktion von Normalisierungen und ihrer unterschiedlichen Schattierungen, Schikanen und Versprechen gewöhnt. Dies wurde möglich durch die Zusammenführung der Norm der Disziplin und der Norm der Regulierung: Disziplin über den einzelnen Körper und Regulierung der gesamten Bevölkerung. So wurde die Macht zum Leben um diese beiden Pole organisiert — ob Kaserne, Anstalt, Gefängnis, Fabrik, Schule oder Spital: Erst durch den Zugriff auf das einzelne Subjekt wurde Macht auch mit der Einflussnahme der Humanwissenschaften „verkörpert“, wurde das Individuum auf der Skala zum Strich, der Individuelles mengenmäßig verteilte (vgl. Sohn 1999, S. 9-29; vgl. Foucault 1978, S. 42-43).

Beschrieben werden soll ein Ausschnitt des Zeitraums, in dem sich auch die Krankenpflege des 19. Jahrhunderts neu organisiert hat. Bis zur „Geburt der Klinik“ (Foucault) hatte die Krankenpflege eine lange Tradition, die Pflege in der Familie des Kranken praktizierte. Die Medizin stagnierte lange Zeit.

Es lässt sich sagen, dass die Krankenpflege auch in den Hospitälern in der Versorgung der Kranken lange Zeit keine nennenswerten Probleme hatte, solange sie nicht dem Diktat einer später aufstrebenden Medizin unterworfen war – allerdings stattdessen dem der Kirche!

Verschiedene, zunächst eher unabhängige, sich aber dann verstärkende Entwicklungen führten im 18./19. Jahrhundert zu einer regen Nachfrage nach zahlreichem und im Sinne der Medizin ausgebildetem Pflegepersonal.

Diese gesellschaftlichen Entwicklungen führten zu einer Entwicklung vom Hospital zum Krankenhaus, wie wir es heute kennen. Die Medizin richtete sich naturwissenschaftlich aus. Hinzu kam durch eine sich rasch ausbreitende Industrialisierung analog dazu eine massenhafte Versorgung der vor allem proletarischen Schichten als Folge und später sollte noch die akute Verwundetenversorgung durch die Kriege hinzu kommen.

Für die Medizin, das sei angemerkt, wurde die Klinik erst mit den Möglichkeiten der Forschung und Ausbildung attraktiv. Das Krankenhaus wurde auch zur Lehrstätte, weil nun genügend „Menschenmaterial“ stets präsent war. Der „ärztliche Blick“ (Foucault) konnte prächtig ausschweifen und schlussfolgern.

Der Auftrag: Die Wiederherstellung, also die Wiederverfügbarkeit und -verwertbarkeit von Arbeitskraft des erkrankten (Körper-)Menschen, wobei es offenbar ausreichte, individuenzentriert und ohne holistisches Verständnis eine immer perfektere klinische Reparaturwerkstätte zu entwickeln – durch Zugriff auf besagten Körper manifestierte sich die Bio-Macht der Medizin durch gesellschaftlich-politische Legitimierung.

Die Medizin erhielt das Deutungsmonopol über Krankheit/Gesundheit und damit auch über eine Auslegung von Normalität/Abnormalität, wie es sich in einem kulturellen Deutungsmuster, verstärkt seit dem Ende des 18. Jahrhunderts, ausbilden konnte (vgl. Bischoff-Wanner 1997, S. 73-76; vgl. Kollak 1999, S. 15-33).

2.1 Beispiel 1: Die Fiebermessung (Harms)

„Natürlich konnte man die Individuen nicht befreien, ohne sie zu dressieren“ (Foucault 1997, S. 116).

Der Griff zum Digitalthermometer etwa erscheint uns aus heutiger Sicht normal, wenn wir das Gefühl empfinden, in unserem Körper entfaltet sich eine abweichende Körpertemperatur, die uns Krankheit anzeigt.

Wissenschaftshistorisch aber ist die Frage interessant, wie diverse Fiebermessinstrumente heute wie selbstverständlich in beinahe jedem Haushalt einsatzbereit zu finden sind. In der Klinik sind vor allem Pflegekräfte zu bestimmten Tageszeiten damit beschäftigt, immer wieder durch kommunikativen und technischen Eingriff bei den Patienten, abweichende Körpertemperaturen von der sogenannten Normaltemperatur herauszufiltern und dokumentarisch für ärztliche Zwecke in die „Fieberkurve“ einzuzeichnen. War das schon immer so? Was ist der Hintergrund dieser Geschichte?

Die Medizin ordnet unter „Normaltemperatur“ gemessene Werte von 36,3 Grad Celsius – 37,4 Grad Celsius ein; alle anderen sich ergebenden Werte gelten als abweichend (vgl. Der Gesundheits-Brockhaus 1999, S. 386).

Norm ist also wertbestimmt, (...) „besonders für die Lebenswissenschaften, wo dem biologisch Normalen eine ganz eigene normative Bedeutung zuzukommen scheint“ (Hess 1999, S. 222).

Das Beispiel der Fiebermessung gilt als (historisch) eine der ersten medizinischen Techniken der Normalisierung in der Moderne, als eine Praktik, um sich durch immer mehr verfeinerte Messmethoden einen vor allem quantitativen Zugriff auf den „objektiven Körper“ zu verschaffen.

Voraussetzung dafür war eine Verdrängung der Vielfalt qualitativen Denkens, also die subjektiv empfundene Deskription von Lebenswärme/Fieberwärme, die keine instrumentelle Messung ersetzen konnte.

Dennoch: Von den Medizinern und anderen als eine natürliche Konsequenz betrachtet, konnte die Thermometrie im Zuge neuer wissenschaftlicher Orientierung Einzug in das sich institutionell entwickelnde Krankenhaus halten; so wurden erst unter klinischen Bedingungen an Tausenden von Kranken millionenfache Messungen vorgenommen. Diese neue Form der normalisierenden Messung diente der Unterscheidung, ob jemand „objektiv“ krank ist oder sich „subjektiv“ nur so fühle. Fortan galt jeder als berechtigt und sicher krank, der abweichende Messdaten aufwies, aber nicht jeder gesund, der im Besitz von „Normaltemperatur“ war. (vgl. Hess 1999, S. 222-224).

Konnte so die Medizin ein Stück mehr verborgene Natur des Menschen erfassen?

Die wissenschaftliche Vermessung von „Normaltemperatur“ erwies sich als mühsames Unterfangen, sollte sie doch unabhängig von Raum, Zeit und Untersucher reproduzierbar sein. Benötigt wurde ein zuverlässiges Instrumentarium. Bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts konnte eine solche Prozedur schon mehr als eine halbe Stunde Zeit kosten – und gelang doch erst durch korrekte Anpassung des Kranken an das Messinstrument und nicht umgekehrt. Die „Natur“ in seiner Objektivität zu repräsentieren, dazu bedurfte es der Choreographie von Mensch und Messtechnik. Doch wer zog Nutzen aus neuer Körpertechnik, aus neuer Norm (vgl. Hess 1999, S. 225)?

Bis in das frühe 19. Jahrhundert hinein hatte die sich mittlerweile formierte akademische Medizin auf eine hausärztliche Behandlung ein- und ausgerichtet. Sie zeigte bislang wenig Interesse am asylierenden Hospital, das erst jetzt einen tiefgreifenden Funktionswandel zu einer medizinischen Behandlungseinrichtung erlebte. So kamen immer mehr – mittlerweile zunehmend krankenversicherte – Patienten aus industriellen Unterschichten, um sich leistungsgerecht versorgen zu lassen, während eine bis dahin dominierende Armenpflege und –fürsorge aus dem Krankenhaus in ambulante Bereiche ausgelagert wurde.

Kamen im 18. Jahrhundert noch Arzt/Patient aus gleicher sozialer Schicht, teilten Selbstverständnis und Weltbild und die Sorge um den Körper, gab es nun keine private Honoration des Arztes mehr durch einen bürgerlichen Patron, sondern für Dienstbote, Geselle und Arbeiter zahlte nun die Krankenkasse Beiträge, welche dafür wieder hergestellte Arbeitsfähigkeit des Kranken erwartete!

Allerdings erhöhte sich mit dem Einzug der Ärzte in das Krankenhaus fortan die Entwertung des vom Patienten subjektiv Geäußerten. Der bildungsbürgerliche Arzt trat ein in eine Welt, die ihm nicht zugänglich erschien. So folgten dem diskriminierenden Urteil der soziale Ausschluss. Mehr noch: Die Medizin wurde stummer durch (Körpertemperatur)-Technik, die jetzt dem Körper als Objekt Sprache verlieh. So konnte sich die Arzt/Patient-Beziehung am Subjekt vorbei direkt auf die gemalte Fieberkurve gestalten, war doch diese und nicht der Erkrankte, sondern nur dessen gemessener Körper, im Besitz objektiver Daten.

So stand der (objektivierte) Körper des Patienten permanent auf dem Prüfstand medizinischer Interessen: durch normalisierende Praktiken, die zwar abnorme Körperwärme und Untergewicht behandelbar machten, nicht aber die verursachenden Nöte und nicht mit der Frage nach subjektivem Wohlbefinden verwechselt werden durfte (vgl. Hess 1999, S. 226-229).

Der begehrte (objektivierte) Körper erhielt so nach Hess im Krankenhaus zunehmend einen ganz eigenen Wert:

- Durch neue Wissensproduktion generierte sich medizinische Bio-Macht. Praktiken wie Temperatur-/Gewichtsmessung setzten in der Wahrnehmung des Kranken eigene (beherrschbare) Körpertechnik als Komplementärleistung zum ärztlichen Fachwissen sowie die eigene Sorge um den Körper in (wenn auch zunehmend sprachlose) Beziehung, die sinnvoll erschien.
- Durch normalisierende Praktiken am (objektivierten) Körper geriet dieser zur sozialen Referenz – der Körper des „Unterschichtmenschen“ erhielt durch wissenschaftliche Objektivität (wie sie zu jener Zeit verstanden wurde) soziale Normalität: sozusagen als Ausgleich für eine zunehmende Entsprachlichung der Medizin konnte so jeder Patient trotzdem Behandlung erfahren.
- Die fragile Natur des Körpers entsprach dem jeweiligen sozialen Status. Normalisierende Praktiken halfen, den eigenen Körper penibel zu überwachen und zu kontrollieren, sollte er weiterhin arbeitsfähig funktionieren. So entsprach die Präzision der Messung der Präzision des Körpers:

„Nur durch seine Beherrschung wurde die ‚leibliche Natur’ der naturwissenschaftlichen Objektivierung unterworfen und mit einem ‚normalen’ Körper ausgestattet, dessen naturwissenschaftliche Eigenschaften und Bedeutungen im Laufe des 19. Jahrhunderts schließlich allgemein normativ wurden“ (Hess 1999, S. 230).

Medizinische Normalität hielt mit der Wende zum 20. Jahrhundert Einzug in die Haushalte: damit hatte sich auch die Fiebermessung allgemein durchgesetzt.

Nun konnte auch der Laie messen und nicht selten wurde das Fieberthermometer zum „Stimmungsbarometer“ der Befindlichkeit: Aus der Wärmemessung des eigenen Körpers wurde auch psychische Beruhigung/Beunruhigung geschöpft!

Es kam zur doppelten Normierung: einerseits zur inneren (Normalisierung von Körperwärme), andererseits zur äußeren (durch dass Messinstrument). Flankiert wurde dieser Prozess zusätzlich durch staatliche Eichung und Standardisierung (vgl. Hess 1999, S. 232).

Im folgenden sollen die Charakteristika dieser sich aufspaltenden Normierung erläutert werden und welche Konsequenzen daraus resultierten.

2.1.1 Die äußere Normierung als amtliche Beglaubigung (Harms)

Bereits gegen Ende des 18. Jahrhunderts stellte die Eichung von Thermometern an sich kein großes Problem mehr dar. Die Temperaturskala basierte ja auf den physikalischen Eigenschaften des Wassers. Unter Berücksichtigung des Luftdrucks konnte man Ergebnisse reproduzieren.

Während des 19. Jahrhunderts konnten, ja mussten die Kliniker die Messinstrumente, die nur vereinzelt vorhanden waren, selber eichen. An sogenannten Normalthermometern wurde das Fieberthermometer nun abgeglichen.

Außerhalb der Klinik hingegen musste auf personaler Ebene Verlässlichkeit gewährleistet sein: durch die (wissenschaftliche) Glaubwürdigkeit des jeweiligen Klinikers und durch Bekanntgabe des Mechanikers, welcher für die zuverlässige Funktion des Normalthermometers sich verantwortlich zeigte.

Staatliche Eichungsbemühungen verfolgten bis in das frühe 20. Jahrhundert keine Ziele gesundheitspolitischer oder sanitätspolizeilicher Art. Im Vordergrund stand vielmehr eine wirtschaftspolitische Maßnahme: die der Produktion und des Exports. So wurden nicht nur über den Menschen sogenannte Normalen produziert, sondern das gefertigte Fieberthermometer stand auch in industriellem Wettbewerb in Fertigungsprinzip, Funktion und materieller Qualität. Für verkaufsfördernde Testierung stand im übrigen die Physikalisch-Technische Reichsanstalt (vgl. Hess 1999, S. 233).

Nach einer Umfrage des preußischen Kultusministeriums in den öffentlichen Krankenanstalten plante man einen Erlass zum amtlichen Gebrauch solcher Thermometer, der verpflichtend werden sollte. Amtliche Beglaubigung sollte autoritative Sicherheit und Zuverlässigkeit und einen neuen Standard garantieren, für den bislang die jeweils lokale ärztliche Autorität stand.

Die Bedeutung staatlicher Gewährleistung umfasste für die damaligen Medizinalbeamten drei unterschiedliche Aspekte:

1. Der Prüfzwang für verbeamtete Ärzte, da Berufsgenossenschaften sowie Versicherungsanstalten sich auf die unabhängige Expertise (frei von Parteinahme/persönlicher Neigung etc.) von ihren Vertrauensärzten verlassen können mussten.
2. Aus der Perspektive der Ärzte konnte eigentlich nur die eigene Zunft für die Qualitätskontrolle garantieren. Aus der Sicht der Medizinalbeamten war es deshalb wichtig, dass die amtliche Eichung Gewähr und Kontrolle über die Anwendung der Fiebermessung durch vor allem nichtärztliches Heilpersonal garantierten konnte.
3. Fiebermessung durch amtliche Beglaubigung erhielt gesellschaftliche Verbindlichkeit, etwa durch eine dem Fieberthermometer beigefügte ärztlich autorisierte Gebrauchsanweisung, wie sie u.a. der Hildesheimer Medizinalrat Arbeit 1907 vorschlug. Damit waren soziale Normierung und Standardisierung durch den Staat erfüllt und übernommen worden (vgl. Hess 1999, S. 234-235)!

Einer solchen Transformation der Normierung in die Gesellschaft hinein waren jedoch längst nicht alle Ärzte zugetan, fürchteten sie doch, dass diese Messinstrumente unkontrolliert in alle möglichen Körperöffnungen der Bewohner in zahlreichen Haushalten Einzug halten könnten, ohne dass das angenommene freundschaftliche Verhältnis Arzt/Patient weiterhin entsprechende Würdigung erfuhr. Die Ärzte befürchteten weiterhin durch die Aneignung medizinischer Kenntnisse gar Kontrolle und Meisterung. Eilte ein Arzt zum Fieberkranken, so konnte dieser oder eine andere Person bereits vom Wert über der roten Markierung des Thermometers Bericht erstatten und möglicherweise unpassende Konsequenzen daraus ziehen. Die normalisierte und pathologische Körperwärme hatte in der sozialen Interaktion jetzt ihre normative Bedeutung gefunden (vgl. Hess 1999, S. 235-236)!

2.1.2 Die innere Normierung als Vermeidung von Interessenkonflikten (Harms)

Die äußere Normierung ließ sich quasi als ein Gerüst für eine sich herausbildende innere Normierung betrachten, in der sich sowohl Standardisierung von Krankheitsdefinition als auch Krankheitsverständnis jener Zeit abbildeten. Ein relativ einheitliches Verhaltensprofil von Sekundärtugenden musste sich dafür herausbilden: bindend für z.B. Fabrikbelegschaften, die durch „ihre“ Krankenkassen kontrollierend verpflichtet wurden, keinen Missbrauch auf Kosten anderer Mitglieder zu begehen, damit die finanziellen Kassenressourcen für die Regeneration der Arbeitskraft der einzelnen objektiv Erkrankten auch ausreichte. So bildete die gegenseitige Kontrolle der Kranken die beste Gewähr für die Kassen.

Damals versuchten die Kassen, sich vor vermeintlich „schlechten Risiken“ zu schützen, indem einfach der Zugang restriktiven Aufnahmekriterien unterworfen wurde. Damit grenzte sich die Solidargemeinschaft auch nach außen hin ab, um nach innen stets strenger Kontrolle untereinander ausgesetzt zu sein (vgl. Hess 1999, S. 236).

Innerhalb der neuen Strukturen der Krankenkassen erhielten die Ärzte eine deutlich hervorgehobene Stellung: Sie fungierten quasi als „Türwächter“ und legten fest, wer Leistungen berechtigt empfangen konnte und wer nicht. Dabei ging es auch um die Beantwortung der Frage, wer simuliert/dissimuliert. Vor letzterer Einstufung wurden die betreuenden Kassenärzte immer wieder durch diverse Leitfäden der Kassenarztpraxis eindringlich ermahnt. Trotzdem konnten diese im Zweifelsfall immer wieder als Richter fungieren – nicht immer zum Vorteil des zu Explorierenden.

Während die Kassenmitglieder sich allzu oft dem als ungerecht empfundenen Verdacht der Simulation ausgesetzt wähnten, empfanden wiederum die Ärzte solche Zweifel an ihrer Beurteilung nicht selten (...) „als anmaßend und ungerechtfertigt, wenn sich ein Arbeiter nicht wie ein ‚Armer Kranker’ verhielt, der ärztliche Leistungen als Akt mildtätiger Fürsorge empfing“ (Hess 1999, S. 237).

Das Anspruchsverhalten der gemeinen Kassenmitglieder führte in den Augen der Ärzte zu unnötigen Konflikten, ausgelöst durch die Behandlungsmöglichkeiten an sich und den erst dadurch ihrer Auffassung nach entstandenen unnötigen Empfindlichkeiten, wie sie früher überhaupt nicht beachtet worden wären.

Und so konnten nur technische Normierung und amtliche Eichung als unabhängige Instanz dafür sorgen, dass sich interpersonelle Konflikte und unterschiedliche Bewertungen objektiv entscheiden ließen.

Jetzt entschied das Thermometer, ob Krankheit vorlag und den Erkrankten nachweislich entlastete – auch in einem moralischen Sinne gegenüber der Solidargemeinschaft. Auch der Arzt wurde gegenüber der auf Sparsamkeit bedachten Kasse entlastet wie auch dem Arbeiter gegenüber und dessen Erwartungen an ihn.

Konflikt- und Interessenlagen wurden längst nicht immer durch bereits erwähnte internalisierte Sekundärtugenden aufgehoben. Als objektiv krank zu gelten, konnte auch objektiv das Armutsrisiko noch weiter vergrößern, ökonomisierte jedoch vorhandene Gegensätze. So gelang es mit dem Einsatz des Fieberthermometers größere Wirkung zu erzielen, als durch alleinige äußere Zwangsmittel (vgl. Hess 1999, S. 238).

So zeigen die beiden Seiten der Medaille eine Modernisierung der deutschen Gesellschaft um 1900 mit innerem und äußerem gesellschaftlichen Prozess an diesem Beispiel, der als Normalisierung begriffen werden kann (vgl. Hess 1999, S. 239) .

„Die Objektivität des Messens war sozusagen ein Schatten der gesellschaftlichen Normierungsbestrebungen, die den Versuchen, bisherige Formen personaler Autorität und Macht durch staatliche Normen und industrielle Standards zu reglementieren oder gar zu ersetzen, auf dem Fuß folgte“ (Hess, 1999, S. 239).

So wurden auf naturwissenschaftlicher Basis durch die Wissenschaften und der Medizin als ein Teil davon, nach Eroberung der Klinik unter Verdrängung qualitativen Denkens und des Subjektiven Normalen produziert und von dort auf die Gesellschaft transformiert. Vor der Medikalisierung, wie wir sie heute kennen, kam die Vergesellschaftung der (objektivierten) Körper (vgl. Hess 1999, S. 230).

Die Etymologie der deutschen Sprache verortet „normal“ (lat.: normalis) als „(...) der Norm entsprechend, regelrecht, üblich, gewöhnlich; geistig gesund“ in das 18. Jahrhundert, „(...) nach dem Winkelmaß gerecht; der Norm entsprechend“ (Das Herkunftswörterbuch 1989, S. 489).

Die Fiebermessung verlangt uns heute nur einen Bruchteil der Zeit ab, den sie zu Beginn dieses Normalisierungsprozesses in Anspruch nahm, aber seitdem hat sich viel verändert, ohne dass wir uns dieser Geschichte immer bewusst wären.

Eine andere Geschichte ist der (permanente) Versuch, das Psychische zur normieren. Doch soll auch hier deutlich werden, dass erst durch machtvollen Zugriff auf die Seele durch generiertes Wissen auch der Zugriff auf den Körper möglich wurde (vgl. Foucault 1994, S. 39-43; vgl. Foucault 1976, S. 83-88).

2.2 Beispiel 2: Der Versuch der Normierung des Psychischen (Harms)

„Therapie, Strafe und Erziehung waren – und sind auch heute – nicht oder nur schwer zu unterscheiden. Und wenn man davon ausgeht, dass der Gebrauch die Bedeutung eines Begriffs bestimmt, liegt es in dieser Logik der sozialen Kontrollfunktion von Therapie, dass ‚heilen’ als Lehnübersetzung von ‚sanare’ seit dem 15. Jahrhundert in deutschen Mundarten die Bedeutung von ‚kastrieren’ bekam“ (Simon 2001, S. 35).

„Für etliche von uns ist bis heute die Kur schlimmer als das Leiden, das kuriert werden sollte“ (Prins 2001, S. 10).

In der Renaissance wurden die Wahnsinnigen zumeist in Orientierung an der arabischen Medizin in sozialen Räumen mit fließenden Übergängen gepflegt. Zunächst in Spanien, später in Italien eröffnete man zu diesem Zweck erste große und nur den Irren vorbehaltene Spitäler:

„Im wesentlichen ist der Wahnsinn ein Erlebnis im Zustand der Freiheit; er bewegt sich ungehemmt, er ist ein Teil des Schauplatzes und der Sprache aller, er ist für jeden eine alltägliche Erfahrung, die man mehr auf die Spitze zu treiben als zu meistern sucht“ (Foucault 1968, S. 103).

So ließ sich im Frankreich des 17. Jahrhunderts das gebildete Publikum gerne belustigen, gelangten hier Irre gar zu Ruhm.

Es lässt sich sagen, dass der Okzident den Wahnsinn erst relativ spät für geisteskrank erklärt hat: erst durch eine Medizin, orientiert an einem positivistischen Weltbild, wurde aus dem vormals Besessenen der Wahnsinnige und noch viel später der Geistesranke aufgrund veränderter Wahrnehmung und gesellschaftlich-ökonomischer Konditionen konstruiert. Vor dem 19. Jahrhundert waren die Erfahrungen mit dem Wahnsinn außerordentlich vielfältig: bis etwa 1650 zeigte sich die Kultur des Abendlands relativ aufnahmebereit für seine diversen Formen und Ausprägungen. Erst das 17. Jahrhundert führte dann in ganz Europa zu Internierungshäusern. Der Raum für den Wahnsinn wurde systematischer auf- und zugeteilt und damit kam es zu einer Welt der Ausgeschlossenheit in Isolation. Jetzt wurde dem Wahnsinn mit Zwangsarbeit als Strafmaßnahme und moralischer Kontrolle auf den Leib gerückt. Als eine gemeinsame Kategorie galt für alle Ausgeschlossenen die allgemeine Unfähigkeit, an Produktion und Akkumulation der Reichtümer mitzuwirken. Dies bedeutete gegenüber früherem Umgang mit dem Wahnsinn eine Zäsur, die ihre Bedeutung in der Umstrukturierung der sozialen Räume hatte. So wurde der Wahnsinn entsprachlicht. Es wurde jetzt nur noch über ihn gesprochen (vgl. Foucault 1968, S. 99-106)!

Im 18. Jahrhundert blieb der Zugriff auf den Irren erhalten. Von Reformbestrebungen gegen die Internierung als Symbol der Unterdrückung wurde er gegenüber anderen auffällig gewordenen Gruppen ausdrücklich ausgenommen und mit einem Tiere gleichgesetzt: unberechenbar und gefährlich!

Die weiter anhaltende Internierung der Irren erhielt jetzt aber eine weitere Bedeutung, wurde sie jetzt doch Maßnahme mit medizinischem Reformcharakter, in dem sich Humanismus und positivistische Wissenschaft paarten. Pinel ließ z.B. in Frankreich zwar größtenteils die Ketten abnehmen, legte aber zugleich viele moralische an, die es ermöglichten, den Irren fortan z.B. in seinen Gesten zu überwachen, ihn in seinen Irrtümern lächerlich zu machen, ihn in der Abweichung vom Normalen die Strafe unmittelbar folgen zu lassen. So wurde der Arzt zum moralsynthetischen Agenten mit repressiven Praktiken, die u.a. aus einer eher als erfrischend geltenden Dusche jetzt eine Strafe werden ließ, weil der Irre sich zum wiederholten Male neben die Norm gestellt hatte oder Äußerungen des Wahnsinns wurden auf dem Schleuderstuhl bis zur Ohnmacht kuriert. Gleichzeitig wurde das Geständnis erzwungen, dass der Glaube nur Wahn sei.

Jetzt wurde der Wahnsinn über die menschliche Seele erreichbar: über Schuld und Sühne und gleichzeitig gerechtfertigt über einen moralischen Sadismus unter dem geheuchelten Anschein von „Befreiung“. Eine tragische Begegnung mit dem Wahnsinn verhieß dies allerdings nicht. Man kann betonen, das weder arabische noch mittelalterliche Medizin und auch nicht die nach-cartesianische zwischen Körper- und Geisteskrankheiten unterschieden, sondern auch die pathologisierte Form stets in der Ganzheit des Menschen abbildeten (vgl. Foucault 1968, S. 107-121).

Von einer solchen Haltung hatte man sich ja schon lange entfernt gehabt und nun, in der Zeitspanne zwischen 1880 bis zum Beginn des 1. Weltkriegs angekommen, wollte die Psychiatrie endlich zur wissenschaftlich anerkannten Disziplin werden. Stellvertretend für diese Phase steht der Name Kraeplin (1856-1926), dessen Forschungs- und Grundlagenarbeiten die klassische psychiatrische Bio-Medizin bis in unsere heutige Zeit hinein stark geprägt haben, weil sie nicht zuletzt auch Normierungsbemühungen beinhalten, die nur durch Zugriff und Macht über die Seele durch angewandtes Wissen auf den Körper möglich wurden. Erst durch veränderte Wahrnehmungen und Zugriffsweisen konnte der Wahnsinn eingekreist werden unter Zuhilfenahme von psychiatrischen, psychologischen, später auch psychoanalytischen und psychotherapeutischen Entwürfen auf einer favorisierten naturwissenschaftlichen Basis.

Kraeplin verfolgte sowohl psychiatrische Theoriebildung als auch Politik für die eigene Profession.

Er formulierte eine Klassifikation, indem damalige Dementia praecox als (...) „Krankheitseinheit“ (Rahn, Mahnkopf 2002, S. 232), aus dem sich späteres Schizophrenie-Konzept von Bleuler anschloss, von manisch-depressivem Irresein eine Trennung erfuhr. Dies galt als wichtiger historischer Beitrag zur psychiatrischen Krankheitslehre. Die Vorgehensweise wurde dabei klinisch-empirisch begründet (vgl. Roelcke 1999, S. 183).

Kraeplin ging dabei drei methodischen Perspektiven nach:

- Quantifizierung,
- Klassifikation und
- Epidemiologie.

Damit sollten psychische Phänomene und Prozesse im jeweils kranken und gesunden Zustand einer naturwissenschaftlichen Medizin verfügbar werden (vgl. Roelcke 1999, S. 184).

Doch wie kam es zur Normierung von psychiatrischen Kategorien?

2.2.1 Quantifizierung über Suche nach Kausalität und Experiment (Harms)

Auf eine selektive Weise wollte Kraeplin in Anlehnung an Konzepte seiner Zeit weg von der Annahme über die Seele als etwas Metaphysisches hin zu einer empirischen Wissenschaft durch genaue Beobachtung und Zergliederung einer „Mechanik der Nerven“ mit dem Ziel, vergleichbare Grundlagen von Diagnosen perspektivisch auch für weitere klinische Arbeiten mit Blick auf Prävention und Fürsorge etablieren. Es geschah zu einer Zeit, in der sich die Psychiatrie endlich Anerkennung versprach über den Weg hin zu den Naturwissenschaften, die zum Maßstab einer bürgerlichen Kultur werden sollten und denen sich die Kulturwissenschaften analog zu den Methodiken von Physik, Chemie oder auch der Physiologie angleichen sollten. So wurde aus dem Philosophikum die Übernahme des Physikums, wie sie von Virchow und anderen engagierten Sozialmedizinern als eine Revolutionsforderung von 1848 erhoben wurde. Damit gelang der Psychiatrie die Anschlussfähigkeit (vgl. Roelcke, S. 184-186; vgl. Dörner et al. 2002, S. 497).

Kraeplins Bemühen kreiste um eine Verfeinerung der Nosologie (in Anlehnung an die Pathologie) durch einen Kausalitätsbegriff, der notwendige wie spezifische Ursache klären sollte und dem Laborexperiment. Ziel sollte die Erkenntnis sein, dass Seelenleben nur durch körperlich erklärbare Prozesse möglich sei und somit Körper- und Seelenleben eine strikte Zergliederung erfuhren, die am Verstorbenen hirnpathologisch und durch diverse experimentelle Versuche sowohl an Gesunden als auch Kranken psychologische Elementarfunktionen zugänglich machen sollten. So erfolgten z.B. zahlreiche Versuche über Wirkung und Folgen des den Menschen verändernden Alkohols, die genauestens von Kraeplin beschrieben wurden.

Es zementierte sich über zahlreiche andere „Versuchsreihen“ die Vorstellung einer spezifischen Kausalität, der Existenz von einander klar abgrenzbaren Krankheitseinheiten und entsprechend dazugehörenden klinischen Erscheinungsbildern. So erhielten theoretische Prinzipien eine „Verkörperung“ durch identifizierbare und formulierte Gesetzmäßigkeiten auf der Grundlage eines physiologischen Modells.

Eine solche Vorstellung konnte damals die Erwartung von Öffentlichkeit und Staat gegenüber der Psychiatrie durchaus befrieden. In Anlehnung an die Bakteriologie meinte Kraeplin mit dem Aufspüren von Krankheitsursachen auch die notwendigen präventiven Voraussetzungen dafür liefern zu können, um dem „Irresein“ künftig effizienter begegnen zu können – durch Forschung unter allerdings für alle Beteiligten klinischen Bedingungen (vgl. Roelcke 1999, S. 185-189).

2.2.2 Klassifizierung unter Ausschluss der Biographie (Harms)

Kraeplin setzte für seine praktischen Forschungen ein Zählkastensystem ein. Auf jeder Zählkarte wurden Daten zur psychopathologischen Symptomatik, dem Verlauf der Krankheit und zur Familiengeschichte festgehalten. So ließen sich nach festen Kriterien vorstrukturierte Fallgeschichten konstruieren, sammeln und auswerten: allerdings unter gewollten selektiven Fragestellungen des Untersuchers, die Interesse bekundeten an der Verursachung einer Erkrankung z.B. durch Erblichkeit oder anderer angenommener Ursachen, nicht hingegen an einer jeweils individuellen Sicht zu Biographie oder Beziehungsgefügen innerhalb der jeweiligen Familie des Betroffenen.

Das wird vor dem Hintergrund verständlich, dass ganz allgemein im Körper/Gehirn vermutete Ursache angenommen wurde. Gesteuerte psychische Funktionen durch körperliches Substrat!

Das Zählkastensystem diente Kraeplin als Grundlage für ein Ausarbeiten und Abgrenzen neu zu beschreibender Krankheitseinheiten.

Damit die wissenschaftliche Methodik nicht unnötige Unterbrechungen erfuhr, verblieben zu diesem Zwecke bei Verlegungen der untersuchten Probanden in regionale Heil- und Pflegeanstalten die Krankenunterlagen in der Psychiatrischen Klinik Heidelberg, wenn hier die Erstaufnahme erfolgte. Kraeplin war hier seit 1891 zum Ordinarius und Direktor berufen worden. Ein jederzeitiger und umfassender Zugriff auf eruierte Patientendaten galt als Voraussetzung (...) „für eine Strukturierung der Wahrnehmung, die letzten Endes der naturwissenschaftlichen Methodik des Experiments, d.h. der kontrollierten Untersuchung einzelner quantifizierbarer Variablen, zugänglich sein sollte“ (Roelcke 1999, S. 190).

Aus einem späteren Grund wollten Kraeplin, aber auch andere Psychiater, nun auch keine aus ihrer Sicht unnötigen Patientenverlegungen mehr vornehmen lassen: Möglichst über ein fortpflanzungsfähiges Alter hinaus sollten die zu wissenschaftlichen Objekten Erklärten in der Anstalt verbleiben, weil eine Erblichkeit nicht mehr ausgeschlossen wurde (vgl. Dörner et al. 2002, S. 499).

Doch zurück zu den Untersuchungsfeldern, die in der Folge erhebliche disziplinarische und organisatorische Umbrüche mit sich brachten. Im Namen einer sich anbahnenden psychiatrischen Wissenschaft mussten jetzt Patienten und Klinikpersonal sich umfangreichen Umstrukturierungen unterwerfen. Vorläufer des Pflegepersonals (analog zum Hauspersonal eines großbürgerlichen Haushalts, weil ein ebenso verräterisches wie scheußliches Wort, vgl. Dörner 1982, S. 19), waren bis etwa 1840 die Irrenwärter, den Gefängniswärtern ganz ähnlich. Psychiater begannen jetzt, alleinigen Heilungs- und Behandlungsanspruch zu formulieren, dem niemand im Wege stehen durfte. Anstaltsdirektoren fungierten als Patriarchen und Wärter unterlagen deren Willkür bis hin zu ehelichem Verbot und gesperrtem Ausgang. Und der Wärter musste im ärztlichen Sinne Nachschulung erfahren, ohne dabei mehr Eigenständigkeit und Handlungsspielräume erfahren zu dürfen (vgl. Höll, Schmidt-Michel 1889, S. 97).

Organisatorische Umbrüche gab es, um wieder Kraeplin zu begleiten, indem die Heidelberger Klinik entsprechend seinem Forschungsvorhaben reorganisiert wurde: z.B. Räume für experimentalpsychologische Untersuchungen und die Einrichtung von Wachsaalabteilungen zwecks besserer Begutachtung und Beobachtung, damit möglichst nichts für den Arzt Relevantes an Verhaltensäußerungen und –auffälligkeiten verborgen blieb. Nur so sollte zuverlässige klinische Krankheitslehre möglich werden. Der Zweck diente sowohl therapeutischer Intervention als auch Forschungszwecken.

Der Verfasser (d. Verf.) begann noch unter ganz ähnlichen Bedingungen seine Ausbildung zum Krankenpfleger in einer psychiatrischen Landesklinik 1981.

Hier passt auch in der Retrospektive auf die Jahrzehnte zuvor, wenn Hark Foucault mit den Worten zitiert:

„Es ist eine Machtform, die aus Individuen Subjekte macht. Das Wort Subjekt hat einen zweifachen Sinn: vermittels Kontrolle und Abhängigkeit jemandem unterworfen sein und durch Bewusstsein und Selbsterkenntnis seiner eigenen Identität verhaftet sein. Beide Bedeutungen unterstellen eine Form von Macht, die einen unterwirft und zu jemandes Subjekt macht“ (Zit. nach Hark 1999, S. 76).

Primär stand also für die Psychiatrie als medizinischem Fach die Etablierung einer naturwissenschaftlich fundierten Methodik, die es deshalb hinnahm, nur einem bestimmten Ausschnitt des Menschen realitätsgerecht zu werden, um fragmentarisch Beschreibungen und Messungen nach selektiv festgelegten Kriterien durchzuführen.

„Als Folge dieser strategischen Entscheidung wurden andere Wirklichkeitsbereiche systematisch ausgeklammert: so etwa die Subjektivität des Kranken, seine biographische Entwicklung oder die Beziehungsstruktur und –dynamik in der Familie des Kranken und seinem weiteren sozialen Umfeld. Diese Faktoren wurden von Kraeplin nicht als Informationsquellen verstanden, die für die wissenschaftliche Erforschung der postulierten Krankheitseinheiten von Bedeutung sein könnten“ (Roelcke 1999, S. 191).

Die Wahrnehmungseinengung auf den Körper passte in die Zeit und schien erfolgversprechend zu werden (vgl. Dörner et al. 2002, S. 497). Durch kontextgebundene Prozessentscheidungen und Wahrnehmungsstrukturierungen wurden die jetzt abgegrenzten Krankheitsbilder auch das Resultat (weil darauf ausgerichtet) einer spezifisch vermuteten somatischen Ursache, die in einer Vereinheitlichung psychiatrischer Terminologie sowie der Krankheitslehre die Grenze zwischen krank und gesund jetzt sichtbar werden ließ. Phänomene konnten jetzt psychopathologisch erfasst werden. Nosologie und Krankheitsklassifikation hatten ihre normierende Konsequenz erhalten (vgl. Roelcke 1999, S. 193).

2.2.3 Epidemiologie als „Pflege der Volksgesundheit“ (Harms)

Wollte die Psychiatrie nicht länger als ein Anhängsel der Medizin gelten, musste sie durch wissenschaftlich anerkannte Resultate ihren Wert für die Gesellschaft deutlich machen. Neuformulierte Krankheitslehre als ein Ergebnis empirisch-klinischer Forschung allein konnte nicht ausreichen. Man musste ganz klar herausstellen, dass man sich der als spekulativ geltenden Philosophie entledigen konnte. Aus den allein favorisierten naturwissenschaftlichen Disziplinen wie der Pathologie, der Physiologie oder der Bakteriologie ließ sich der Anschlusswert auch für eine künftige psychiatrische Wissenschaft gewinnen und das bedeutete auch, es musste gelingen (...) „langfristig durch Kontrolle der notwendigen äußeren Ursachen einen Angriffspunkt zur Verhütung der Geisteskranken (zu) liefern(Roelcke 1999, S. 194).

Strategische Entscheidung für Kraeplin bedeutete also, sich den Naturwissenschaften anzugleichen und auf dieser Grundlage zu verlässlichen Aussagen über Therapie, Prävention und Prognose zu gelangen. Die historische Situation war so, dass Psychiatrie um 1880 erst an einigen universitären Abteilungen existent war und erst 1901 zu einem obligaten Fach innerhalb medizinischer Ausbildungsverordnung wurde.

An den neuen Disziplinen erwuchs rasch öffentliches Interesse. Grundlagenforschung für Staat und Wirtschaft erlangte elementare Bedeutung und man erwartete neue (natur-)wissenschaftlich fundierte Lösungs- und Deutungsmuster.

Damit bekamen Kraeplins Motive zur Neuformulierung einer Krankheitslehre für die Psychiatrie auch einen politischen Hintergrund bzgl. einer psychiatrischen Profession.

Für die Psychiatrie ergab sich zudem die Gelegenheit, Einfluss auf die Gestaltung von Sozial- und Bevölkerungspolitik zu nehmen. In einem damals voranschreitenden gesellschaftlichen Diskurs, der Geburtenrückgang debattierte und eine vermeintliche Zunahme von genetisch „minderwertigen“ Bevölkerungsgruppen als Bedrohung wertete, war die Zeit gekommen, „(...) die nach biologisch fundierten Gesellschaftsdiagnosen und Lösungsstrategien verlangten“ (Roelcke 1999, S. 194).

Kraeplin hatte bereits gewissen Anteil an dem Diskurs über die „erbbiologische Bestandsaufnahme“, hatte er doch erste Überlegungen zur als kollektiv verstandenen „Volksgesundheit“ schon in frühen Auflagen seines Lehrbuches platziert. Die Sorge über zunehmend gesellschaftlich unproduktive Bevölkerungsgruppen, deren Erhalt und Fortpflanzung über deren Pflege die Leistungsfähigkeit eines Staates belaste, schien ihm ein relevantes Problem, das eine Änderung erfahren musste. Einer Krankheitslehre als Instrument für Diagnostik und Etikettierung sollten nun eine, wenn möglich, flächendeckende psychiatrische Epidemiologie folgen, unter Berücksichtigung des Studiums von Vererbungsgängen. So die Vorstellung, könne psychiatrisch dem Staat zum Wohle des „Volkskörpers“ zugearbeitet werden. Kraeplin formulierte die „Entartungsfrage“ 1908 in einer Publikation, worin er eine zentrale Aufgabe für Staat und (Profession) Psychiatrie sah (vgl. Roelcke 1999, S. 194-195).

Fortan gab es verstärkte Aktivitäten. Zum kristallenen Kern geriet dabei die 1917 von Kraeplin selbst gegründete „Deutsche Forschungsanstalt für Psychiatrie“.

Der unter Kraeplins Leitung angetretene Oberarzt Rüdin schloss später aus der Entdeckung der Erblichkeit eine Vereinseitigung der sogenannten Psychosen zu Erbkrankheiten und nahm später eine hervorgehobene Stellung ein, als es um Fragen und Gesetze zur „Verhütung erbkranken Nachwuchses“ und der „Euthanasie“ gehen sollte (vgl. Roelcke 1999, S. 195-196).

So wurde aus wissenschaftlich motivierter Einseitigkeit der Wahrnehmung eine Ideologieanfälligkeit, um Lücken zu verdecken, die es eigentlich noch auszufüllen galt. In diesem Kontext ist auch zu begreifen, wie aus oft anfänglich interessanten wissenschaftlichen Erkenntnissen sich Konzepte mit Anspruch auf „Wahrheit“ verbreiteten und für die später von dieser „Wahrheit“ Betroffenen sich unglaublich fatale Konsequenzen und Folgen bis in unsere heutige Zeit ergeben sollten.

Erwähnt seien:

- Morels Degenerationstheorie nach anfänglich eher verdienstvoller Familienforschung,
- Möbius Entwicklung des „physiologischen Schwachsinns der Frau“ und des „Endogenitätskonzepts“,
- Lombrosos Erfindung des „geborenen Verbrechers“,
- Kochs Vorstellung vom „Psychopathen als moralisch Schwachsinnigen“ und
- Bindings und Hoches Forderung (1920) der „Vernichtung lebensunwerten Lebens“.

All’ diese Konzepte sollten zur staatstragenden Sozialhygiene in der Folge beitragen. Psychiatrie in der baldigen Erwartung, in absehbarer Zeit anerkannte und möglichst unverzichtbare Profession zu werden, füllte sich mit Wertungen auf, die aus vielen und sicherlich auch wichtigen Einzelbeobachtungen unzulässige „ (...) schein-naturwissenschaftliche, sozialdarwinistische und biologische Verabsolutierungen“ (Dörner et al. 2002, S. 498) möglich machten.

Die Zeit des Grauens sollte kommen, als die Konzepte der 20er Jahre des letzten Jahrhunderts während der Zeit des Nationalsozialismus eingesetzt wurden.

Dörner hält fest, dass uns Kraeplins Bemühungen und Beobachtungen um Grundbegriffe diagnostisch-nosologischer Art in das neue Jahrhundert hinüberbegleitet haben – oder soll man sagen „verfolgten“?

Ob hierzulande, in Russland, den USA (DSM III, jetzt IV als nordamerikanisches Gegenstück zum ICD der WHO) oder anderswo hat sich eine internationale Klassifikation durchsetzen können als ein auch wissenschaftshistorisch ziemlich einmaliger Vorgang, wenn man bedenkt, wie sich Grundbegriffe in anderen wissenschaftlichen Feldern verändert haben.

Mag man daraus einen Vorteil erkennen (z.B. Vereinheitlichung einer gemeinsamen fachlichen Sprache, quantifizierbarer Datenpool über Verteilung, Vorkommen etc.), bleibt doch aber immer die Frage, was hatten die früheren „Insassen“, was haben die heutigen Patienten/Klienten/Kunden davon, wer zog daraus Nutzen auf wessen Kosten?

Aus ehemals „geisteskrank“ wurde körperliche Erkrankung. Aber auch heute bleibt das ewige Versprechen einer umfassend kausalen Therapie der jeweils nächsten Generation vorbehalten. Hinzu kann eine psychologisch für den Betroffenen nicht unerhebliche Beschädigung der Identität geschehen, wenn es immer wieder nicht gelingen kann, gesellschaftlich getragene Vorstellungen von Normen zu erfüllen, die dann u.a. als Folge einer Etikettierung eine beträchtliche Stigmatisierung nach sich ziehen kann (vgl. Goffman 1975, S. 13-14 u. 156-160)

Die Anpassung psychiatrischen Tätig-Seins an eine Körpermedizin auf naturwissenschaftlicher Basis hängt mit der Selbsteinengung der Medizin des 19. Jahrhunderts auf den körperlichen Aspekt zusammen, dem alles andere allermeistens untergeordnet wurde. Körpermedizin wurde zu einem amputierten, in seine Teile zerlegendes, medizinischen Modell.

Noch einmal: Was hatte der Betroffene, das Subjekt (das zu jemandes „gemacht“ wurde) davon? Bestand das Interesse nicht immer überwiegend aus einem diagnostisch-psychopathologischen beim Lebenden, aus einem hirnpathologischen beim Toten?

Klassifikation und Normierungsversuche haben den Menschen auch in seiner ganzen „Wirklichkeit“ immer wieder „unerfahrbarer“ werden lassen, durch Körper-Zugriff das Subjekt immer mehr zum Schweigen verurteilt!

Ein wenig klingt das auch wie eine Mahnung an uns heutige Pflegekräfte mit, wenn eine Psychiatrie-Erfahrene stellvertretend schreibt:

„Darf man in der Psychiatrie krank sein? (...) Psychiatrie ist für mich meistens ein Ort gewesen, wo ich mehr als in meinem ganz normalen Alltag darauf aufpassen musste, nichts Verrücktes zu sagen oder zu tun, nicht gegen irgendwelche Regeln zu verstoßen. Es ist übermäßig anstrengend, von Kopf bis Fuß von psychotischen Vorstellungen überflutet zu sein und trotzdem in Gesprächen und Abläufen ‚mitfunktionieren’ zu müssen. Und dann erst diese Zeit, in der ich so depressiv war. Wo ich dann dauernd therapiert, motiviert, strukturiert werden sollte. Für mich war das nur eine fürchterliche Quälerei“ (Prins 2001, S. 33).

.Darüber sollte nachgedacht werden und auch darüber, dass sich eine vor gut 20 Jahren in Deutschland beginnende „Public Health“-Bewegung nicht so einfach mit „Bevölkerungsmedizin“ oder „Volksgesundheitspflege“ in das Deutsche übersetzen lassen konnte. Die Nationalsozialisten haben letzteren Begriff bis in heutige Zeit hinein diskreditiert. In einem Richtungsstreit um eine adäquate Übersetzung einigte man sich auf „Gesundheitswissenschaft(en)“ als multidisziplinäre Wissenschaft: nicht der Medizin erneut unterworfen, sondern als relativ gleichberechtigter Partner von vielen, u.a. auch der Pflegewissenschaft (vgl. Kolip 2002, S. 15).

Eine Korrektur medizinischer Einseitigkeit ist auch deshalb wichtig, wenn man die aktuellen Entwicklungen in Gentechnik und „Euthanasie“ (Möglichkeiten aktiver Sterbehilfe auch bei chronisch psychisch Erkrankten) aufmerksam verfolgt (vgl. Dörner et al. 2002, S. 501; vgl. dpa-Pressemeldung 2002, S. 2; vgl. Herzinger 2002, S. 1).

2.3 Kritische Betrachtungen: Von der Pathogenese zur Salutogenese (Harms)

„Es ist wichtig, festzuhalten, wie sich die verschiedenen Formen des medizinischen Wissens zu den positiven Begriffen der ‚Gesundheit’ und der ‚Normalität’ verhalten. Ganz grob gesprochen kann man sagen, dass sich die Medizin bis zum Ende des 18. Jahrhunderts viel mehr auf die Gesundheit als auf die Normalität bezog.. (...) Hingegen orientiert sich die Medizin des 19. Jahrhunderts mehr an der Normalität als an der Gesundheit“ (Foucault 1996, S. 52-53).

Nach wie vor, also auch zu Beginn des 21. Jahrhunderts, nimmt eine pathogenetische Sichtweise einen dominanten Stellenwert ein. D. Verf. ist der Meinung, dass man auch weiterhin davon ausgehen darf, dass sich dies in absehbarer Zeit nicht wesentlich verändern wird. Es darf unterstellt werden, dass die Frage nach krankmachenden Faktoren und Auslösern immer noch weitaus mehr Menschen bewegt als die gegenteilige Frage. Wir denken in dichotomen Bildern.

Die Was-macht-krank?-Frage liegt dem bio-medizinischen Modell zugrunde und fordert die Medizin und in ihrem Windschatten die Pflege weiterhin heraus. Danach wird Krankheit als durch bestimmte anatomisch-physiologische Symptome und Syndrome sowie deren Verlauf charakterisiertes Störungsmodell begriffen. Medizin arbeitet weiterhin organzentriert und versucht strukturelle und funktionale Störung zu lokalisieren.

Aus dieser Perspektive können wir z.B. in der Klinik erfahren, dass die Medizin durch entsprechend geeignete Maßnahmen über internationale Normierungen (Internationale Klassifikationsdiagnoseschlüssel) Krankheit und Abweichung feststellen kann. Angenommen wird eine jeweils bestimmte Ätiologie durch den Organismus bedrohende und schädigende Pathogene, die es zu bekämpfen gilt. Besonders die Ausweitung und Verbreitung naturwissenschaftlicher Erkenntnisse im 19. Jahrhundert hat hier den historischen Bezug. Allerdings lässt sich auch schlussfolgern, dass für die Medizin Krankheit ist, was sich aus Beobachtungen an Kollektiven als eine grob vereinfachte Abstraktion durch Rückübertragung auf das Individuum zeigt (vgl. Fichten 1998, S. 16-17).

Dass Erkrankung nicht nur individuell über einen linear-kausalen Weg erklärbar ist, weiß man u.a. am Beispiel der Verläufe von Infektionen in der Bevölkerung des letzten Jahrhunderts. So verlief die Morbiditätsrate der an Tuberkulose Leidenden relativ unbeeinflusst durch die Medizin. Erst allgemein verbesserte Lebens- und Arbeitsbedingungen unter ebenfalls verbesserten hygienischen Verhältnissen erbrachte einen deutlichen Rückgang an Erkrankungsfällen durch gezielte Präventivmaßnahmen (vgl. Waller 1996, S. 152).

So kann geortete Abweichung von der Normalität zur Krankheit werden und Gesundheit wird dann zur Expertenfrage, wenn es darum geht, dass nach einer Maschinen-Metapher die Fehlfunktion beseitigt wird. So erscheint der Mensch als reparaturbedürftig wie ein Automobil oder ein PC: in seine Teile zerleg- und austauschbar. Wie letztgenannte Objekte erscheint auch der Mensch als Objekt, wenn eine Vorsorgeuntersuchung analog den Wert einer TÜV-Bescheinigung erhält.

Die Möglichkeit der Abweichung ist reichhaltig bei mittlerweile über 30.000 bekannten und beschriebenen Krankheiten und Syndromen (vgl. Schwartz et al. 2000, S. 11).

2.3.1 Die Präferenz des Negativwertes: krank/gesund (Harms)

„Ich halte es zum Beispiel für fruchtbarer, Theorien nicht mit Einheit anzufangen, sondern mit Differenz, und auch nicht bei Einheit (im Sinne von Versöhnung) enden zu lassen, sondern bei einer, wie soll ich es sagen, besseren Differenz“ (Luhmann 2000, S. 9).

Der Sozial- und Systemtheoretiker Luhmann hat im Rahmen seiner erarbeiteten sozialen Funktionssysteme, die der Komplexitätsreduktion von Wirklichkeit dienen sollen, für das Medizinsystem bzw. dem System der Krankenbehandlung über eine binäre Codierung die Differenz krank/gesund und als Zweitcodierung von krank heilbar/unheilbar vorgeschlagen, wonach es viele Krankheiten, aber nur eine Gesundheit gibt: die Abwesenheit von Krankheit.

Luhmann kritisiert, dass alle anderen Funktionssysteme über einen Positivwert in ihrer jeweiligen Codierung verfügen, der einen Anschlusswert darstellt und damit Kommunikation ermöglicht. Für die Medizin stellt Krankheit den Anschlusswert her. Gesundheit ist in Umkehrung hier Negativwert. Der Negativwert dient in seiner Funktion aber als Reflexionswert, wird hier aber nicht reflektiert. Die Medizin verzichtet damit im Gegensatz zu anderen Funktionssystemen auf eine Reflexionstheorie, ohne dies zu begründen. Sie sieht sich in der Zielsetzung der Gesundheit (die offenbar nichts zu tun gibt) gesellschaftspolitisch so fest etabliert, dass sie davon ausgehen kann, dass ihr keine Geldmittel verweigert werden. Selbst medizinische Iatrogenese (Illich 1995, S. 24-27) kann so innerhalb des Medizinsystems zum geldwerten Vorteil möglich werden.

Gesunde Menschen erscheinen der Medizin weitgehend uninteressant, solange sie als nicht oder nicht mehr krank gelten bzw. an noch nicht entdeckten Krankheiten leiden.

Kaum vorzustellen, dass ein Funktionssystem wie die Justiz davon ausgeht, dass in der Regel ein Kläger Unrecht einfordert oder die Wirtschaft, dass nur derjenige etwas erhält, der nicht zahlt. Solche Eigentümlichkeiten sind in der Regel nicht zu erwarten (vgl. auch Abb. nach Reese-Schäfer 1999, S. 176-177; vgl. Krause 2001, S. 209-210; vgl. Wolff 1999, S. 40-41; vgl. Stollberg 2001, S. 38-41; vgl. Hurrelmann 2000, S. 67-69).

Schautafel der Funktionssysteme nach Luhmann

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb. 1: (vgl. nach Reese-Schäfer 1999, S. 176-177).

„Es stört mich auch, dass niemand empfindlich ist für die Möglichkeit der Evolution von Seuchen infolge von Entwicklungen in der Medizin. Wir können überhaupt nicht ausschließen, dass irgendwann einmal medizinisch resistente Viren entstehen, die einfach losmarschieren, und die Medizin ratlos dasteht und Jahre braucht, um eine Diagnose für die Krankheit zu entwickeln. Ein solcher Fall ist evolutionstheoretisch wahrscheinlich, von dem Antibiotikagebrauch unterstützt. So etwas halte ich für viel wahrscheinlicher, als dass eine Riesenexplosion geschieht, die die Menschheit vernichtet“ (Luhmann 2000, S. 38).

Bis in die heutige Zeit hinein ist das bio-medizinische Modell in seinem Kern unangetastet geblieben, wenngleich es auch Erweiterungen erfahren hat, an denen die Medizin nicht unbeteiligt ist. Das gesamte Krankheitsspektrum hat sich gewandelt.

Ausgehend von den Infektionskrankheiten stehen aktuell Prävention und Behandlung chronisch-degenerativer Leiden (Herz-Kreislauf, Krebs, Rheuma, psychische Erkrankungen) für die Bio-Medizin im Mittelpunkt (vgl. Garett 2001, S. 484-485). Dem will z.B. die Risikofaktorenmedizin gerecht werden. Aus den Erkenntnissen, das sich aus einer Summation von in unserer Zivilisation herauskristallisierten Risiken (Bluthochdruck, Fehlernährung, Nikotin, Bewegungsmangel etc.) eine höhere statistische Wahrscheinlichkeit für Erkrankung ergibt, stößt die Medizin mit der alleinigen Verwendung einer zu einseitigen Orientierung an die Grenzen. Eine seit Jahren deutliche Kritik hat sich an der zumeist ungenügenden Berücksichtigung von psychologischen, sozialen, ökologischen und kulturellen Faktoren entzündet. Immer noch stehen zu oft technische Untersuchung, Laborbefund und deren Abweichung im Vordergrund. Die Verbalisierung von subjektiven Äußerungen dagegen, die Zurkenntnisnahme von Laienkonzepten und Lebensweisen, die eine Arzt-Patient-Pflegekraft-Beziehung ganz wesentlich mitbestimmen sollten, werden dagegen immer noch öfter ausgegrenzt als einbezogen (vgl. Fichten 1998, S. 17-19).

[...]

Ende der Leseprobe aus 115 Seiten

Details

Titel
Gesundheitsförderung im Krankenhaus
Hochschule
Hochschule Hannover  (Fachbereich Gesundheitswesen)
Note
2,5
Autoren
Jahr
2002
Seiten
115
Katalognummer
V7477
ISBN (eBook)
9783638147378
ISBN (Buch)
9783638697385
Dateigröße
908 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Gesundheitsförderung, Krankenhaus
Arbeit zitieren
Dipl.-Pflegew. (FH) Peter Harms (Autor:in)Klaus Kühne (Autor:in), 2002, Gesundheitsförderung im Krankenhaus, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/7477

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