Beobachtung des Lernprozesses in einer multimedialen Umgebung innerhalb der gewerblich-technischen Berufsausbildung unter tätigkeitstheoretischer Perspektive


Diplomarbeit, 2005

93 Seiten, Note: 2,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung
1.1 Motiv und Ziel der Arbeit
1.2 Aufbau der Arbeit

2 Vorherrschende Strömungen in der Didaktik der beruflichen Bildung

3 Kulturhistorische Schule, Tätigkeitstheorie und Expansives Lernen
3.1 Die Kulturhistorische Schule nach Vygotskij
3.2 Tätigkeitstheorie nach Leont’ev
3.3 Expansives Lernen nach Engeström
3.3.1 Tätigkeitsdreieck als Analysemodell menschlicher Tätigkeit .
3.3.2 Widersprüche als Antrieb für expansives Lernen
3.4 Gestaltung von Lehr- und Lernprozessen nach tätigkeitstheoretischen Gesichtspunkten

4 Konstruktivistische Lerntheorie im Vergleich zur Tätigkeitstheorie
4.1 Konstruktivistische Gestaltung eines Lehr- und Lernprozesses
4.2 Merkmale konstruktivistischer und tätigkeitstheoretischer Unterrichtsansätze

5 Die Lernumgebung ‚LAB@FUTURE’
5.1 Beschreibung der LAB@FUTURE-Lernumgebung
5.2 Aufbau der LAB@FUTURE-Lernumgebung
5.3 Exkurs: Mixed Reality und mediale Wirklichkeitserfahrung

6 Beobachten mit der Videokamera als methodisches Vorgehen
6.1 Unterscheidung von Beobachtungsformen
6.2 Beschreibung der beobachteten Situationen
6.2.1 Berufsschule Bremen-Vegesack
6.2.2 artec-Labor Universität Bremen
6.3 Verortung und Vorgehensweise der eigenen Videoanalysen
6.4 Anpassung von Beobachtungsform und -kriterien für die eigenen Videoanalysen
6.5 Ergebnisse der Beobachtung
6.5.1 Unterrichtseinheit an der Berufsschule Bremen-Vegesack (Kontext 1)
6.5.2 Evaluation am artec-Labor der Universität Bremen (Kontext 2)
6.5.3 Vergleich von Kontext 1 und Kontext 2

7 Zusammenfassung, Diskussion und Ausblick

8 Literatur

Anhang A
A.1 Transkription Kontext 1
A.2 Transkription Kontext 2

Danksagungen

Ich möchte an dieser Stelle all denen herzlich danken, die mich direkt und indirekt bei der Anfertigung dieser Arbeit unterstützten. Insbesondere waren Tätigkeiten wie Gespräche und Diskussionen über Stil und Inhalt, Korrekturlesen, Literaturhinweise, Provokationen und Kritik von unschätzbarem Wert.

Dafür möchte ich Andreas Henkel, Charlotte Düwell, Jörn Meibohm, Michaela Czichollas, Jan Viebahn, Ulrike Rösler, Marlene Wolfram und meinen Eltern danken. Zudem war es besonders hilfreich mit kleineren kulturellen Aktionen, wie Langlauf im Harz, Bosseln am Meer, „Irrwege“ in Hamburg, Fußballgucken im ‚Wienerhof Café’, Frühstücken mit der Ex-WG ‚D4’ und so weiter, diese für mich und meinem Umfeld nicht immer einfach zu durchlebende Phase gut zu verkraften.

Den Kolleginnen und Kollegen der Arbeitsgruppe artecLab am Bremer Forschungszent- rum artec gilt ebenso mein besonderer Dank, ohne deren Anregungen, Unterstützung und Kritik diese Arbeit nicht entstanden wäre. Vielen Dank an Martina Braun, Hartmut Rosch, Dieter Müller, Martin Faust, Daniel Cermak-Sassenrath, Yong-ho Yoo, Bernd Robben und Willi Bruns.

Rainer Pundt

Bremen, den 19. Mai 2005

1 Einleitung

„Derjenige, welcher der Sichtbarkeit unterworfen ist und dies weiß, übernimmt die Zwangsmittel der Macht und spielt sie ge- gen sich selber aus; er internalisiert das Machtverhältnis, in welchem er gleichzeitig beide Rollen spielt; er wird zum Prinzip seiner eigenen Unterwerfung.“

Michel Foucault

1.1 Motiv und Ziel der Arbeit

Während meiner Mitarbeit an diversen Projekten innerhalb der Arbeitsgruppe artecLab am Forschungszentrum artec (Arbeit-Umwelt-Technik) der Universität Bremen lernte ich viele interessante Perspektiven der Technikgestaltung kennen. Insbesondere inspirierten mich die EU- IST1 -Projekte DERIVE2 und LAB@FUTURE3, in denen es unter anderem darum ging, multimediale Lernumgebungen zu entwickeln, die es Akteuren innerhalb der gewerb- lich-technischen Berufsbildung ermöglicht, Lernprozesse auch über voneinander getrennte Räume hinweg zu gestalten.

Diese Anregung beeinflusste maßgeblich die Konzeption einer Unterrichtseinheit, die ich an der Berufsschule Bremen-Vegesack mit einem Mitstudenten durchgeführt habe. Die Lehr-Lernsituationen wurden dort unter dem Gesichtspunkt eines räumlich verteilten Lernens durchgeführt und anhand von Videoaufnahmen dokumentiert.

Außerdem wurde im DERIVE-Projekt wurde das Ziel verfolgt, die Lernortkooperation der Ausbildungspartner zu verbessern und den Gebrauch gemeinsamer Ressourcen technisch zu ermöglichen. Innerhalb des LAB@FUTURE-Projektes ging es neben der technischen Weiterentwicklung der DERIVE-Lernumgebung vor allem darum, Lehr-Lern-Situationen zu gestalten, die Ansätze und Aspekte der sowjetischen Tätigkeitstheorie, des Expansiven Lernens und der Konstruktivistischen Lerntheorie zu berücksichtigen hatten. Die Konfron- tation mit diesen für mich damals überwiegend unbekannten Konzepten und der Versuch, jene auf konkrete berufliche Lernaufgaben umzusetzen, erforderte eine intensive Ausei- nandersetzung mit diesen Theorien. Während der Beschäftigung mit den Lerntheorien ent- stand zum einen die Frage nach den Merkmalen, die einen tätigkeitstheoretischen oder konstruktivistischen Unterrichtsansatz charakterisieren, und zum anderen die Frage, mit welcher Methode tätigkeitstheoretische Gesichtspunkte in konkreten Lehr-Lern- Situationen zu erkennen und zu beurteilen sind. Diesen bisher ungeklärten Fragen nachzu- gehen, ist in theoretischer und empirischer Hinsicht wesentlicher Bestandteil dieser Arbeit. Die Aufgabe bestand dabei darin, wesentliche Ausschnitte der genannten Theorien in ihrer Entstehung darzustellen und aus ihnen Merkmale herzuleiten, die für die Beobachtung von konkreten Lehr-Lernsituationen hilfreich sind. Dazu wurde ein Verfahren angewendet, welches die hergeleiteten Merkmale miteinander vergleicht und auf eine Leitfrage hin pointiert. Diese Fragestellung fungierte dann bei der Beobachtung der konkreten Lehr- Lern-Situationen als Hilfsinstrument.

Die Leitfrage ist Grundlage für die Analyse von Videomaterial, welches einerseits der o- ben erwähnten Unterrichtseinheit an der Berufsschule Bremen-Vegesack entstammt (Kon- text 1) und andererseits während einer im November 2004 am artec durchgeführten Evalu- ation innerhalb des LAB@FUTURE-Projektes entstanden ist (Kontext 2). Beide Kontexte werden anhand ausgewählter Videosequenzen daraufhin untersucht, in- wieweit dort die Lehr-Lern-Situationen einem tätigkeitstheoretischen Unterrichtsansatz entsprechen. Die Ergebnisse werden anschließend miteinander verglichen und beurteilt.

1.2 Aufbau der Arbeit

Die Durchführung einer Beobachtungsstudie innerhalb der beruflichen Bildung kann wertvolle Beiträge für die Gestaltung von beruflichen Lehr-Lern-Situationen geben. Aus diesem Grund wird zu Beginn dieser Arbeit ein kurzer Überblick über den Begriff der beruflichen Handlungskompetenz, seine Bestandteile sowie seine Umsetzung auf institutioneller Ebene erfolgen (Kapitel 2).

Darauf folgend beginnt der wesentliche Kern der vorliegenden Untersuchung, welcher sich in drei thematische Teile gliedert: einen theoretischen Grundlagenteil (Kapitel 3 und 4), einen die Lernumgebung LAB@FUTURE beschreibenden Teil (Kapitel 5) und einen Teil, der die Methodik und die Ergebnisse der empirischen Untersuchung darstellt (Kapitel 6). Der inhaltliche Teil der wird mit dem Kapitel ‚Zusammenfassung, Diskussion und Aus- blick’ (Kapitel 7) abgeschlossen. Dort werden Ergebnisse und Methoden der Arbeitzu- sammengefasst, reflektiert und Anregungen für zukünftige Arbeitsvorhaben gegeben sowie die Ergebnis im Verhältnis zur Entwicklung einer beruflichen Handlungskompetenz disku- tiert.

Die dieser Diplomarbeit zu Grunde liegenden Lerntheorien sind in einem historischen Kontext erklärt. Auf die Darstellung von Vygotskijs Kulturhistorischer Schule als wesent- lichem Ausgangspunkt der Tätigkeitstheorie von Leont’ev folgt eine Beschreibung der letztgenannten Theorie. Diese führt auf der historischen Entwicklungslinie weiter zur The- orie des Expansiven Lernens von Engeström. Aus dieser Darstellung werden tätigkeitsthe- oretische Gesichtspunkte für die Gestaltung von konkreten Lehr-Lern-Prozessen gefolgert. Als Vergleich zum tätigkeitstheoretischen Unterrichtsansatz werden im Anschluss daran die konstruktivistische Lerntheorie vorgestellt und aus ihr gleichfalls Gesichtspunkte für die Gestaltung eines konstruktivistischen Lehr-Lern-Prozesses nach Mandl/Reinmann- Rothmeier (1995) abgeleitet. Der Vergleich beider Ansätze wird in einer Übersichtstabelle dargestellt. Darin werden ebenso Merkmale des traditionellen Unterrichtsansatzes aufge- führt, der sich inhaltlich deutlich vom tätigkeitstheoretischen und konstruktivistischen An- satz unterscheidet. Mit diesem Vergleich wird die Fragestellung formuliert, die als Hilfsin- strument für die Auswertung der Videoanalysen dient.

Das folgende Kapitel beschreibt die LAB@FUTURE-Lernumgebung. In ihm werden die mit ihr zusammenhängenden Ideen, die zu ihrer Entwicklung als gegenständliches Produkt führten, erläutert.

Der letzte große Teil der Arbeit erläutert das methodische Vorgehen der Beobachtung anhand von Videoanalysen. Dies umfasst die schematische Darstellung von wissenschaftlichen Beobachtungsformen nach Atteslander (1974), die Beschreibung der verglichenen Kontexte, die Verortung und Anpassung der eigenen Videoanalyse und schließlich die Darstellung der Beobachtungsergebnisse.

In Kapitel 7 werden die Resultate im Verhältnis zu Kapitel 2 diskutiert und Anregungen unterschiedlicher Art gegeben.

Insgesamt wurde hier eine deduktive Vorgehensweise gewählt: ausgehend von allgemei- nen und abstrakten Theorien wurden Vergleiche und Ableitungen getätigt, die bis zu einer besonderen Fragestellung für die Beobachtung von konkreten Lehr-Lern-Situationen führ- ten.

Im Anhang befinden sich die Transkriptionstabellen der jeweils beobachteten Kontexte, die die hier getätigten Interpretationen besser nachvollziehen lassen und dem Betrachter die Möglichkeit bieten, eigene Interpretationen vorzunehmen.

Zusätzlich wurde der Arbeit eine DVD mit den untersuchten Videosequenzen angehängt, um die gefundenen Ergebnisse nachvollziehbar werden zu lassen. Dieser Anhang erfolgte allerdings - aus Datenschutzgründen - nur bei den Gutachtern dieser Diplomarbeit.

2 Vorherrschende Strömungen in der Didaktik der beruflichen Bildung

Das Beobachten von Lernprozessen in der Berufsausbildung hat unter Beachtung eines berufspädagogischen Diskurses zu erfolgen, um Beiträge einbringen zu können, die auch auf diesem Gebiet zur weiteren Aufklärung von Lehr-Lern-Prozessen dienlich sind. Aus diesem Grund werden an dieser Stelle bedeutende Ereignisse im Hinblick auf den Begriff der Handlungskompetenz in der beruflichen Bildungsdiskussion kurz skizziert. Die Empfehlungen des Deutschen Bildungsrates4 von 1974 beeinflussten maßgeblich die Reformen im deutschen Bildungssystem. So wurde dort eine Unterscheidung zwischen den Begriffen Qualifikation und Kompetenz vorgenommen. Ersteres wird als ein Lernerfolg des Lernenden hinsichtlich der Verwertbarkeit für andere in privaten, beruflichen und ge- sellschaftlichen Bereichen bezeichnet. Dagegen meint der Begriff Kompetenz den Lerner- folg des einzelnen Lernenden und seine Befähigung zu eigenverantwortlichem Handeln in privaten, beruflichen und gesellschaftlichen Bereichen (vgl. Deutscher Bildungsrat 1974, S. 65).

In der betrieblichen Aus- und Weiterbildung wird überwiegend noch am Qualifikationsbegriff festgehalten, dennoch werden Tendenzen in der Betriebspädagogik wahrgenommen, die sich ebenfalls auf den Kompetenzbegriff beziehen (vgl. Bader 2005). Die Entwicklung beruflicher Handlungskompetenz kann gegenwärtig als das primäre Ziel in der Berufspädagogik bezeichnet werden.

Aus diesem Grunde wird im Folgenden zunächst der Begriff der beruflichen Handlungs- kompetenz anhand eines Überblickes veranschaulicht. Im Anschluss wird kurz auf die Ein- führung einer Lernfeldkonzeption für die Gestaltung von Rahmenlehrplänen von Seiten der KMK5 eingegangen.

Nach Bader umfasst berufliche Handlungskompetenz die Dimensionen Fachkompetenz, Humankompetenz (auch Personal- und Selbstkompetenz genannt) und Sozialkompetenz. Die Kompetenzen stehen dabei nicht isoliert nebeneinander, sondern sind miteinander vernetzt und bedingen einander.

Fachkompetenz bedeutet in dieser Gliederung eine Sachkompetenz, d.h. die Fähigkeit und Bereitschaft, berufliche Aufgaben- und Problemstellungen selbständig, fach- und sachge- recht, methodengeleitet, kreativ und unter Beachtung bindender Normen und Vorschriften zu bearbeiten und Ergebnisse zu beurteilen.

Humankompetenz meint hier die Fähigkeit eines Menschen zum Umgang mit sich selbst. Dies umfasst personale Eigenschaften wie Selbständigkeit, Kritik- und Konfliktfähigkeit, sowie die Anwendung und Weiterentwicklung von durchdachten Wertevorstellungen. Sozialkompetenz wird überwiegend im Umgang mit anderen Menschen gefordert und beinhaltet nach Bader die Fähigkeit und Bereitschaft, soziale Beziehungen und Interessenlagen, Zuwendungen und Spannungen zu erfassen, zu verstehen, sich schließlich mit anderen darüber auseinanderzusetzen und zu verständigen.

Insbesondere gehört hier auch die Entwicklung von sozialer Verantwortung und Solidarität dazu (vgl. Bader 1991 und 2000b).

Des Weiteren wird die kommunikative Kompetenz als Akzentuierung von Fach-, Human- und Sozialkompetenz definiert (Bader 2000a). Gemeint ist damit die Fähigkeit und Bereit- schaft, Sachverhalte und Befindlichkeiten auf dem Weg über verbale und formale (For- meln, Grafiken, etc.) aber auch über nonverbale Mittel auszutauschen. Hans Bauer nennt zusätzlich neben der Kommunikations- und Verantwortungsfähigkeit auch die der Kooperation, welche, ähnlich wie bei Bader, zusammen mit den anderen als integrativer Bestandteil der Sozialkompetenz betrachtet werden kann und damit nach Bau- er den so genannten Schlüsselqualifikationen zugeordnet zuzuordnen ist (siehe Abb. 1).

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 1: Zielfunktionen für die Entwicklung beruflicher Handlungskompetenz nach Bauer (vgl. Bauer 1997, S.115)

Berufliche Handlungskompetenz setzt sich aus einer Vielzahl der oben dargestellten Be- standteile zusammen und kann somit als ein Resultat aus dem Zusammenwirken verschiedener einzelner Fähigkeiten verstanden werden.

Der berufspädagogische Diskurs innerhalb der gewerblich-technischen Wissenschaften ging in den letzten Jahren bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt der Frage nach, welche Maß- nahmen für die Entwicklung von Handlungskompetenz in der beruflichen Bildung umzu- setzen sind, um auf die sich rasch ändernden Anforderungen an Facharbeiter angemessen zu reagieren.

Für die Förderung, Ausbildung und Umsetzung beruflicher Handlungskompetenz an beruflichen Schulen hat sich eine Lernfeldkonzeption durchgesetzt, in der Wissen und Kompetenzen nicht ohne Praxisbezug vermittelt werden sollen, sondern in Lernfeldern und - situationen, die für die Lernenden in einem praktischen Anwendungszusammenhang stehen und daher für sie von Bedeutung sind.

Auf politischer Ebene wurde diese Konzeption von der KMK mit Handreichungen (1996 bis 1999) vereinbart, die eine Neustrukturierung der Rahmenlehrpläne vorsahen. Dabei wurden zwei zentrale Perspektivwechsel für die Gestaltung von Rahmenlehrplänen vollzo- gen: (1) Lerninhalte werden nicht mehr wie bisher nach einer fachsystematischen Stoff- Folge, sondern nach Lernfeldern geordnet. Die Gestaltung der Lernfelder soll anhand von bedeutsamen beruflichen Handlungssituationen erfolgen. (2) Zuvor stark detaillierte In- haltskataloge in den Rahmenlehrplänen werden durch Inhaltsangaben ersetzt, die exempla- rischer, weiter gefasst und übergreifender beschrieben sind (vgl. Riedl/Schelten 2005, S. 3).

Fischer plädiert dafür, nicht nur eine intensivere Forschung zur konzeptionellen Umsetzung des Lernfeldansatzes durchzuführen, sondern vor allem auch eine empirische Forschung, die zur weiteren Aufklärung des Verhältnisses von Wissen und Können im Prozess der Kompetenzentwicklung beiträgt (vgl. Fischer 2003, S. 6).

Eine empirische Untersuchung ist Bestandteil dieser Diplomarbeit. Inwieweit ihre Ergebnisse weitere Anregungen für die Entwicklung von beruflicher Handlungskompetenz liefern, wird in Kapitel 7 diskutiert.

In diesem Kapitel wurden wichtige Ereignisse und Inhalte innerhalb der beruflichen Bildung nur kurz skizziert, um einen gesellschaftlich bedeutsamen Bezugpunkt zu den Ergebnissen dieser Diplomarbeit herzustellen. Sie durchdringen jedoch bei weitem nicht die vielen anderen aktuell und historisch bedeutsamen Beiträge zu didaktischen Ansätzen innerhalb der beruflichen Bildung.

3 Kulturhistorische Schule, Tätigkeitstheorie und Expansives Lernen

In den historisch bewegten 20er und 30er Jahren des 20. Jahrhunderts entstanden die Idee der Kulturhistorischen Schule, die im weiteren Verlauf zur Tätigkeitstheorie entwickelt wurden. Bedeutsamkeit erlangte sie vor allem auf dem Gebiet der Kognitionspsychologie innerhalb der Sowjetunion. In den 1970er Jahren stieß sie auch bei westlichen Wissenschaftlern auf vermehrtes Interesse und wurde vor allem in den 1980er Jahren von Yrjö Engeström mit der Theorie des Expansiven Lernens erweitert. Seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion und den damit rapide eintretenden gesellschaftlichen und ökonomischen Umbrüchen sind vor allem Modelle gefragt, die Veränderungsprozesse erfassen, um sie adäquat mitgestalten zu können. In vielen empirischen Untersuchungen zur Tätigkeit in betrieblichen Arbeitsprozessen hat sich diese Theorie weltweit einen Namen gemacht und daher viele verschiedene Forschungsdisziplinen inspiriert.

Das Ziel dieser Diplomarbeit ist es, Ansätze von Tätigkeitstheorie, Kulturhistorischer Schule und Expansiven Lernen als Anregung aufzunehmen, um daraus eine Beobachtungsperspektive zu entwickeln, die es ermöglicht, Lehr-Lern-Situation entsprechend nach diesen Ansätzen zu beurteilen.

Zunächst wird etwas spezieller auf Vygotskijs Begriff der Kulturhistorischen Schule eingegangen und anschließend einige Theoretiker genannt, welche die Gründer der Kulturhistorischen Schule beeinflussten. Im Folgenden Kapitel wird Leont’evs Tätigkeitstheorie vorgestellt. Danach wird Engeströms Theorie des Expansiven Lernens beschrieben. Im Anschluss daran werden einige Punkte vorgestellt, die Gestaltungsmerkmale für einen tätigkeitstheoretischen Unterrichtsansatz charakterisieren.

Die folgenden Ausführungen zu den oben genannten Theorien und Konzepten sind Beschreibungen, die lediglich wesentliche Ansätze vermitteln und können deshalb nicht andere wertvolle Beiträge auf diesem weiten Feld mit berücksichtigen.

3.1 Die Kulturhistorische Schule nach Vygotskij

Vygotskij skizziert im Jahre 1930 ein vereinfachtes Schema, nach dem der einfache Reiz(S)- Reaktions(R)- Prozess durch einen komplexen, vermittelten Akt (X) ersetzt wird (siehe unten Abb. 2). Der direkte Impuls, auf einen Reiz (S) innerhalb eines neuen Prozes- ses zu reagieren (R), wird gehemmt und ein Hilfsreiz (X) eingeführt. Dieses Bindeglied zwischen Reiz und Reaktion bezeichnet Vygotskij als Reiz zweiter Ordnung, als Zeichen.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 2: Die Struktur der vermittelten Handlung nach Vygotskij (In: Engeström 1999, S.75)

Als Beispiele für psychischer Werkzeuge und aus ihnen gebildeten komplizierter Systeme zählt Vygotskij folgende auf: die Sprache, verschiedene Formen der Nummerierung und des Zählens, mnemotechnische Mittel, die algebraischen Symbole, Kunstwerke, die Schrift, Schemata, Diagramme, Karten, Zeichnungen, alle möglichen Zeichen und vieles mehr.

Wahrnehmungen, Begriffe, Werte, etc. entstehen im Prozess der subjektiven Tätigkeit und erzeugen ein inneres Abbild der äußeren gegenständlichen Tätigkeit. Das entstandene Ab- bild wirkt wiederum aktiv auf die Tätigkeit zurück, indem es als Orientierung in der Tätig- keit fungiert. Abbilder formen die Grundlage für Orientierung in der Welt, in welcher der Mensch tätig ist, um seine Motive und Ziele zu realisieren. Sie werden von Leont’ev als innere psychische Widerspiegelungen der aktiven Tätigkeit charakterisiert (vgl. Lompscher 2004, S. 30 und 31).

Lompscher beschreibt diesen Prozess mit den folgenden Worten:

„Die subjektive Erzeugung von Abbildern der Welt (Vorstellungen, Begriffe, u. s. w.) erfolgt im Prozess der gemeinsamen Tätigkeit unter den Bedingungen und mit den Mitteln der gesellschaftlichen Kultur, die angeeignet werden müssen, damit sie als solche wirksam werden können.“ (Lompscher 2004, S. 28).

Die Gründer der kulturhistorischen Schule vertraten die Position, dass das menschliche Bewusstsein und die damit verbundenen sogenannten höheren psychischen Funktionen, welche soziokulturell vermittelt sind (Denken und Sprechen), notwendige Komponenten für die Mensch-Welt-Wechselwirkung, d.h. der menschlichen Tätigkeit, sind. Das Psychi- sche entsteht in der Tätigkeit und dient ihrer Regulation durch das Subjekt. Die psychi- schen Funktionen sind Produkte der gesellschaftlich historischen Entwicklung, d.h. Be- standteile konkreter Kulturen, in denen die Menschen leben, von denen sie geprägt werden und die sie durch ihre eigenen Tätigkeiten selbst mitgestalten. Aufgrund von Interaktion und Kommunikation in der gemeinsamen menschlichen Tätigkeit, werden die kulturhisto- rischen Existenzbedingungen geschaffen. Dabei erfolgt die Aneignung von menschlicher Kultur über den Prozess der Interiorisierung7, als Ergebnis von aktiver Tätigkeit. Durch den Prozess der Verinnerlichung von äußerer, praktischer Tätigkeit, entwickeln sich viel- fältige Formen von innerer, ideeller Tätigkeit (inneres Sprechen, Denken, etc.), welche wiederum in äußere Produkte vergegenständlicht beziehungsweise exteriorisiert werden können. Die innere Tätigkeit der Menschen ist wie die äußere eine vermittelte. Sie arbeitet mit den oben genannten Zeichen („psychologische Werkzeuge“) als Träger von Bedeutun- gen, denen die Subjekte entsprechend ihren individuellen und kollektiven Tätigkeitserfah- rungen bestimmte Sachverhalte zuordnen. Die Prozesse der Interiorisation und Exteriorisa- tion sind wechselseitig miteinander verbunden, bedingen einander und sind in ihrer Struk- tur gleichartig.

Der Mensch wird als gesellschaftliches Wesen angesehen und wird in und durch Tätigkeit zum Subjekt, indem er Ausschnitte von der Welt zu seinem Objekt (Gegenstand) macht und versucht, je nach seinen Bedürfnissen, Zielen und Möglichkeiten, darauf einzuwirken. Joachim Lompscher beschreibt diesen Prozess folgendermaßen:

“Die aktive Auseinandersetzung des Menschen mit der Welt führt zugleich zu mehr oder weniger weit reichenden Veränderungen seiner selbst. Durch Tätigkeit konstituiert der Mensch sich als Subjekt, das seine Wechselwirkung mit der sozialen und gegenständlichen Welt über Wechselwirkung mit anderen Subjekten realisiert. Tätigkeit ist (unmittelbar und mittelbar) gemeinsame Tätigkeit und sie ist in gesellschaftliche und soziale Zusammen- hänge eingebettet. Sie umfasst die Grundprozesse der Interaktion, Koordination, Kommu- nikation und Kooperation. Tätigkeit ist auch die Grundlage für Aneignung und Entwick- lung.“ (Lompscher 2004, S. 16).

Diese Tätigkeit ist vermittelnd zwischen Mensch und Welt und zugleich vermittelt durch Werkzeuge praktischer und theoretischer Art, insbesondere sprachliche und andere Zei- chen, als Resultate menschlicher Tätigkeit im Prozess der gesellschaftlich-kulturellen Ent- wicklung.

Die Betonung, dass Aneignung nur durch einen aktiven Prozess erfolgt, also Tätigkeit nicht auf passive, mechanische Anpassung oder Übernahme von äußeren Einwirkungen - beispielsweise von Lehrern, Lehrbüchern oder anderer Repräsentanten irgendwie gearteter Aneignungsgegenstände (Sachen, Phänomene, etc.) - zu reduzieren ist, verlangt nach einer Methodik oder Bedingungen, die es ermöglichen, Subjekte zu einer aktiven Tätigkeit zu inspirieren. Das Verhältnis von Aneignungsgegenstand zu einem Aneignungsergebnis ist daher nur mittelbar, über den „Umweg“ der Tätigkeit möglich. Hängt also von Inhalt, Qua- lität und Intensität der Tätigkeit ab, die dem jeweiligen Gegenstand angemessen sein muss (vgl. Lompscher 2004, S. 17).

Aneignungsprozesse basieren auf subjektiven Bedürfnissen, Motiven und Sinnbildungen, die mit der Bewältigung objektiver und subjektiver Schwierigkeiten verbunden sind, was ein jeweils bestimmtes Maß an Belastung bedeutet und den Einsatz physischer und psychi- scher Ressourcen erfordert, welches seinerseits wesentlich mit den emotionalen- motivationalen und volitiven8 Prozessen zusammenhängt (vgl. Lompscher 2004, S. 17). Aus dem Tätigkeits- und Aneignungskonzept ergibt sich ein bestimmtes Entwicklungskon- zept. Es handelt sich dabei um Selbstentwicklung, die durch innere Widersprüche in Wechselwirkung mit äußeren Widersprüchen zustande kommt und vorangetrieben wird. Diese Widersprüche entstehen und wirken in der Wechselwirkung mit der Welt, d.h. in der Tätigkeit.

Dies bedeutet gemeinsame Tätigkeit mit Anderen, was soziale Beziehungen mit ihnen einschließt. Psychische Neubildungen entstehen zunächst als soziale - zwischen Menschen aufgeteilte - kooperative Funktionen und Beziehungen, ehe sie zu psychischen im eigentlichen Sinne des Wortes werden (vgl. Lompscher 2004, S. 22).

Eine wichtige Errungenschaft in Vygotskijs Gedankenwerk stellt sein Konzept der ‚Zone der nächsten Entwicklung’ dar. Es bietet eine Vorlage, Lernen als Entwicklungsprozess zu begreifen, in der das Individuum durch aktives Handeln, in Kooperation mit Anderen, ein höheres Niveau erreichen kann. Demnach eröffnet jeder aktuelle Entwicklungsstand eines Menschen, eine ‚Zone der nächsten Entwicklung’, d.h. einen Handlungsraum, der zunächst noch nicht selbständig, wohl aber in Kooperation mit Anderen und mit deren Unterstüt- zung und durch Nachahmung realisiert werden kann. In dem Maße, wie das Individuum sich diesen Handlungsraum „erobert“, wird er zur Zone seiner aktuellen Leistung, die wiederum eine neue Zone der nächsten Entwicklung eröffnet (vgl. Vygotskij 2003, 298ff.). Übertragen auf einer Unterrichtssituation könnte daraus folgen, Schüler mit Aufgaben zu konfrontieren, die zwar auf ihren bisherigen Fähigkeiten aufbauen, gleichzeitig jedoch von ihnen Fähigkeiten abverlangen, die sie noch entwickeln müssen.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten9

Abbildung 3: Die führenden und bekanntesten sowjetischen Vertreter der Kulturhistorischen Schule und einige nachfolgende ‚westliche’ Vertreter

Vygotskij und seine Mitarbeiter (siehe Abb. 3) wurden in ihrer Theorieentwicklung beein- flusst durch die Evolutionstheorie unter anderem von C. R. Darwin (1809-1882), J. M. Baldwin (1861-1934) und P. Janet (1859 - 1947), der Philosophie von K. Marx (1818- 1883) und F. Engels (1820-1895), der Semiotik von C. S. Peirce (1839-1914) sowie der Psychologie von W. Köhler (1887-1967) und G. H. Mead (1863-1931) und viele mehr. Wichtig zu erwähnen ist in der oben genannten Aufzählung ebenso Vygotskij’s westlicher Zeitgenosse Jean Piaget (1896-1980), der von ähnlichen Strömungen bis zu Vygotskij’s frühem Tod 1934 beeinflusst wurde.

Sie vertraten anfangs ähnliche Auffassungen (auch wenn Piaget kein Anhänger des kultur- historischen Konzeptes war), sie kritisierten die Einseitigkeit des Behaviorismus, teilten eine Begeisterung für die Gestaltpsychologie vor allem von Wertheimer, Köhler, Koffka10, die aber später aus unterschiedlichen Gründen wieder nachließ.

Sie entwickelten schließlich ihre eigenen ‚Schulen’: Vygotskij die Kulturhistorische Schule und Piaget die Genfer Schule. Sie lernten sich zwar nie persönlich kennen, beeinflussten sich aber gegenseitig durch ihre Publikationen.

3.2 Tätigkeitstheorie nach Leont’ev

Die Tätigkeitstheorie wird in der Literatur im Zusammenhang mit den Namen A.N. Le- ont’ev und seinem Buch ‚Tätigkeit-Bewußtsein-Persönlichkeit’ (dt. 1979) genannt (vgl. Lompscher 2004, S. 49). Dies scheint insofern berechtigt, als dass Leont’ev bedeutende Beiträge zur Weiterentwicklung dieser Theorie Zeit seines Lebens geliefert hat. Dennoch ist diese Theorie ebenso untrennbar mit den Einflüssen der kulturhistorischen Schule, der deutschen Philosophie des 18. und 19. Jahrhunderts, insbesondere ihrer dialektisch- materialistische Weiterentwicklung durch Marx verbunden als auch durch andere Philoso- phen des 20. Jahrhunderts (z.B. Il’enkov, Judin, Kagan, und andere), die mit ihren Beiträ- gen eine Weiterentwicklung der Tätigkeitstheorie begünstigten. Von 1924 bis 1932 arbei- tete Leont’ev mit Vygotskij zusammen und widmete sich als Psychologe vor allem der ontogenetischen11 Entwicklung des Psychischen. Ab 1932 arbeitete er an einem Institut für Psychologie an der Charkower Universität. Ab dieser Zeit nahmen Leont’ev und seine Mitarbeiter wieder mehr die menschliche Tätigkeit in ihren Blickfeld, und kehrten damit zum Ausgangspunkt der Kulturhistorischen Schule zurück. Damit trat die Untersuchung der Probleme der gesellschaftlichen Kultur und Geschichte mehr in den Hintergrund, was auch zum Teil seine Ursache in den gesellschaftspolitischen Verhältnissen und der Ideolo- gie der Stalin-Ära innerhalb der damaligen UDSSR hatte. Letztlich entstanden internatio- nal betrachtet zwei Strömungen, in denen eine den kulturhistorischen Aspekt und die ande- re mehr den Tätigkeitsaspekt akzentuierte. Beide stützten sich jedoch auf die Begründer der Kulturhistorischen Schule. Während des Internationalen Kongresses zur Tätigkeitsthe- orie in Amsterdam im Jahre 2002, vereinigten sich beide Strömungen, woraus die ‚Interna- tional Society for Cultural and Activity Research (ISCAR)’ entstanden ist (vgl. Lompscher 2004, S. 54).

Tätigkeit, Handlungen und Operationen

A.N. Leont’ev hat die Beziehung zwischen Motiv und Ziel anhand des Beispiels der Tätig- keit eines Treibers in der urgesellschaftlichen Jagdgemeinschaft veranschaulicht. Dort nimmt er an dem kollektiven Tätigkeitssystem der Jagd teil, um unter anderem seinen Bedürfnis nach Nahrung und wärmenden Fellen nachzugehen. Innerhalb dieses Systems führt er eine bestimmte Handlung aus. Das Ziel seiner Handlung könnte darin bestehen, Tiere zu erschrecken, um sie anderen Jägern zuzutreiben, die an anderer Stelle lauern. Dieses Ziel seiner Handlung befriedigt jedoch noch nicht unmittelbar sein ursprüngliches Bedürfnis nach Nahrung und Fellen, er vollzieht sie aber aus diesem Grund (oder Motiv), in dem Vertrauen, dass die erbeuteten Tiere am Ende der Jagdtätigkeit gemeinschaftlich geteilt werden (vgl. Leont’ev 1971, S. 170; In: Engeström 1999, S. 81).

Mit diesem Beispiel beschreibt Leont’ev das Verhältnis des Individuums zu anderen Gesellschaftsmitgliedern, die ihre Tätigkeit zwar arbeitsteilig in verschiedenen Handlungen organisieren, jedoch ihre erarbeiteten Produkte letztlich gemeinschaftlich untereinander aufteilen. Dieses Verhältnis sieht er nur innerhalb der Tätigkeit eines kollektiven Zusammenhanges realisiert und es spiegelt seiner Auffassung nach nicht nur die Verbindung von Motiv und Ziel der Tätigkeit wider, sondern ist ebenso Ausdruck der objektiv gesellschaftlichen Zusammenhänge und Beziehungen.

Im Weiteren unterscheidet Leont’ev zwischen Bedeutungen, welche die Gesellschaft unter den sozialhistorischen Bedingungen erzeugt, und dem persönlichen Sinn eines Indivi- duums. Die objektiv gesellschaftliche Bedeutung kann identisch mit dem persönlichen Sinn eines Individuums sein. Dieser Fall tritt ein, wenn sich ein bestimmtes Werkzeuges von gesellschaftlicher Bedeutung während des Gebrauchs für das Individuum ebenso als bedeutsam und sinnvoll erweist. Folglich kann es dann auch eine Differenz zwischen ge- sellschaftlicher Bedeutung und persönlichen Sinn geben. In dem oben genannten Beispiel der urgesellschaftlichen Jagdgemeinschaft stimmt die objektiv gesellschaftliche Bedeutung der Jagdtätigkeit zum Zwecke des kollektiven Nahrungserwerbs mit dem persönlichen Sinn des arbeitsteilig handelnden Treibers überein. Diese Übereinstimmung von allge- meingesellschaftlicher Bedeutung und persönlichem Sinn ist jedoch auf eine eher stam- mesbezogene und auf Gemeineigentum ausgerichtete Urgesellschaft bezogen. Mit der Entwicklung der kapitalistischen Produktionsweisen, der Herausbildung einer Klassenge- sellschaft, der Entstehung von Privateigentum, extremspezialisierter Arbeitsteilung und der damit verbundenen Entfremdung der Produzierenden von ihren Produkten ging die Tren- nung zwischen allgemeingesellschaftlicher Bedeutung einer Arbeit und dem persönlichen Sinn derselben einher und hatte Auswirkungen auf die Beziehungen der Menschen unter- einander (vgl. Schapfel 1995, S. 36).

In Anlehnung an Leont’ev bemerkt Franz Schapfel (1995) zutreffend in seinem Buch, dass erst infolge der Arbeitsteilung die Tätigkeit sich in bewusste zielgerichtete Handlungen zergliedert, deren Einzelergebnisse keine unmittelbare Bedürfnisbefriedigung hervorbringen. Die Handlung wird jedoch weiterhin vom Motiv angetrieben und ihre Richtung erhält sie vom Ziel, welches objektiv in der gegenständlichen Welt vorhanden ist. Leont’ev formuliert diesen Zusammenhang mit den folgenden Worten:

„Der Gegenstand, der in der Lage ist, das Bedürfnis zu befriedigen, ist im Bedürfniszustand des Subjekts nämlich nicht scharf umrissen. Vor seiner ersten Befriedigung ‚kennt’ das Bedürfnis seinen Gegenstand nicht, er muß erst noch entdeckt werden. Erst durch diese Entdeckung wird das Bedürfnis gegenständlich und der wahrgenommene (vorgestellte, gedachte) Gegenstand erhält seine stimulierende und tätigkeitslenkende Funktion, das heißt er wird zum Motiv.“ (Leont’ev 1982, S. 181).

Handlungen hängen zudem von Bedingungen ab, in denen sie sich vollziehen. Die Aktivi- täten, die aufgebracht werden müssen, um Bedingungen zu schaffen, unter denen Hand- lungen für die Verwirklichung eines Ziels ablaufen können, werden Operationen genannt. Schapfel nennt dazu ein Beispiel, wie Operationen entstehen, wenn Handlungen in eine untergeordnete Funktion des Handlungsvollzuges absinken beziehungsweise verdrängt werden. So würde beispielsweise die Fähigkeit, Buchstaben mit einem Stift auf ein Papier zu übertragen, eine Operation darstellen, bei der übergeordneten Handlung, eine wissen- schaftliche Magisterarbeit zu verfassen. Jedoch wäre es ursprünglich eine Handlung, die Buchstaben auf dem Papier zu formen, mit dem Ziel, das Schreiben zu erlernen (vgl. Schapfel 1995, S. 42).

Dieses Beispiel verdeutlicht die Dynamik der Übergänge zwischen Operationen, Handlungen und Tätigkeiten innerhalb der Gesamtstruktur von menschlicher Tätigkeit. So können sich Operationen beispielsweise je nach Stellung innerhalb der Tätigkeitsstruktur herauslösen, indem sie auf Maschinen übertragen werden. Operationen, die sich bereits auf der E- bene befinden, auf der sie nicht mehr bewusst vollzogen werden und gewissermaßen ‚automatisch’ ablaufen, können nach Schapfel wieder bewusst gemacht werden, sobald sich Probleme im Handlungsablauf ergeben (vgl. Schapfel 1995, S. 42).

Ähnlich wie Schapfel beschreibt Engeström Operationen als Methoden, mit denen die Handlungen ausgeführt werden. Im Gegensatz zu den Handlungen, welche mit bewussten Zielen verbunden sind, werden Operationen in Zusammenhang mit Bedingungen für den Handlungsvollzug betrachtet, welche vom Subjekt oftmals nicht bewusst reflektiert werden (vgl. Engeström 1999, S. 82).

3.3 Expansives Lernen nach Engeström

Yrjö Engeström’s Theorie des erweiterten Lernens (‚expansive learning’) kann als eine bedeutende Weiterentwicklung der Tätigkeitstheorie verstanden werden. Er stützt sich in seinem 1987 erschienenen Buch ‚Expansive by Learning’ (seit 1999 als deutsche Ausgabe erhältlich) auf die traditionellen Begründer der Kulturhistorischen Schule und der Tätig- keitstheorie sowie deren zahlreichen einfließenden Strömungen während und vor ihrer Zeit. Engeström und seine Mitarbeiter am ‚Center for Activity and Developmental Work Research’ der Universität Helsinki interessieren sich im weitesten Sinne für das Lernen von Erwachsenen in realen Arbeitsprozessen. Dazu führten sie viele Untersuchungen in verschiedenen Institutionen und Unternehmen durch (Industrie, Bildungs- und Gesund- heitswesen, etc.). Zunächst geht es ihnen in ihrer Forschung um die Erfassung von Arbeits- inhalten, -prozessen und -bedingungen in kollektiv organisierten Tätigkeitssystemen sowie deren Veränderungen zu einer neuen Praxis. Dabei gingen sie überwiegend mittels Beo- bachtung, Video-Aufzeichnungen und Interviews vor, welche über einen längeren Zeit- raum erfolgten (mindestens mehrere Wochen, manchmal sogar bis zu einigen Jahren).

3.3.1 Tätigkeitsdreieck als Analysemodell menschlicher Tätigkeit

Engeström hat mit der Entwicklung eines Tätigkeitsdreieckes (Abb. 4) eine Möglichkeit geschaffen, menschliche Tätigkeit in der Vielzahl ihrer Beziehungen und Lern- und Arbeitsprozessen in unterschiedlichen Zusammenhängen, nach einer tätigkeitstheoretischen Perspektive zu analysieren und zu gestalten.

Die obere triadische Beziehung (siehe unten in Abb. 4) von Subjekt-Werkzeug-Objekt er- innert an das zuvor erwähnte Reiz-Reaktions-Modell der vermittelten Handlung von Vy- gotskij (Abb. 2 in Kap. 3.1). Engeström ergänzt es aber um weitere Begriffe und macht es dadurch zu einem System, welches die Gesichtspunkte der gegenwärtigen Produktionsbe- dingungen stärker berücksichtigt und erlaubt dadurch einen umfassenderen Blick auf die menschliche Tätigkeit. Aufgrund dieser Erweiterung wurde es möglich, das Tätigkeitsdrei- eck als Analyseinstrument für gegenwärtige Lern- und Arbeitsprozesse zu gebrauchen.

Wie es bereits Leont’ev beschrieben hatte, eignet sich das Subjekt die Welt über den „Umweg“ der Tätigkeit an. Dies geschieht, indem der Mensch Ausschnitte der Wirklichkeit (Dinge, Prozesse, Relationen, Personen, etc.) zu seinem Gegenstand (Objekt) macht, auf sie aktiv einwirkt, sie verändert, sie sich aneignet und letztlich aus ihnen einen neuen Gegenstand erstellt, um Motive zu realisieren (vgl. Lompscher 2004, S. 60).

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 4: Die Struktur der menschlichen Tätigkeit (vgl. Engeström 1999, S.91)

Dieser Einwirkungs-, Veränderungs-, Aneignungs- und Herstellungsprozess vollzieht sich über die Verwendung beziehungsweise Bildung von gegenständlichen und psychologischen Werkzeugen (innere Abbilder). Dieses Verhältnis drückt sich in der oberen Triade Subjekt-Werkzeug-Objekt aus (Abb. 4).

Als weitere im Dreiecksgeflecht zu berücksichtigende Begriffe nennt Engeström Regeln (Werte, Normen und Gesetze), Gemeinschaft und Arbeitsteilung. Damit lassen sich für einen bestimmten Kontext alle Begriffe neu in Beziehung zueinander setzen und ermöglichen den Blick auf andere, von der klassischen Subjekt-Werkzeug-Objekt-Beziehung abweichende Triaden-Kombinationen, zu fokussieren. Insbesondere bei der Analyse von komplexeren Tätigkeitssystemen kann dies einen differenzierteren Zugang zu Bereichen unterstützen, die von erhöhtem Interesse sind.

Dennoch weist Engeström ausdrücklich darauf hin, dass sich einzelne Beziehungsdreiecke nicht isoliert voneinander verstehen lassen, sondern nur in ihrer Einbettung in das systemische Ganze mit zu denken sind (vgl. Engeström 1999, S. 91).

Des Weiteren sind die Beziehungen im Tätigkeitsdreieck nach Engeström, der sich dabei auf Marx beruft, unter den drei herrschenden Aspekten der menschlichen Tätigkeit - Pro- duktion, Distribution und Austausch (Kommunikation) - untergeordnet (vgl. Engeström 1999, S. 91). Diese Gesichtspunkte sind bei der Analyse von Lern- und Arbeitsprozessen mit einzubeziehen.

In der kapitalistischen Produktionsweise geraten alle im Tätigkeitsdreieck aufgeführten Begriffe in den Widerspruch, eine Warenform anzunehmen, welche die inneren Gegensätze von Tausch- und Gebrauchswert in sich verbirgt.

„Dieser wesentliche Widerspruch besteht in dem gegenseitigen Ausschluß und der gleich- zeitigen Abhängigkeit des Gebrauchs- und Tauschwerts innerhalb jeder Ware. Diese dop- pelte Natur und innere Unruhe ist charakteristisch für alle Eckpunkte der Dreiecks-Struktur der Tätigkeit. Sie durchdringt die Punkte, an denen sich das Subjekt und die Gemeinschaft befinden, weil die Arbeitskraft selbst eine besondere Art der Ware ist.“ (Engeström 1999, S. 97).

Dieser primäre Widerspruch erklärt auch das Auseinanderfallen der Leont’evschen Unterscheidung von persönlichem Sinn eines Individuums und einer allgemeinen gesellschaftlichen Bedeutung, die dem Menschen einander fremd erscheinen.

Engeström verdeutlicht diesen inneren Widerspruch von menschlicher Tätigkeit, resultierend aus der Herrschaft des Privateigentums, anhand eines Zitates von Leont’ev. Dort wird ein Arzt beschrieben, welcher mittels Kredit eine Praxis gegründet hat und sich berufen fühlt, die Leiden seiner Mitbürger zu heilen beziehungsweise zumindest zu lindern. Allerdings ist er materiell von der Anzahl seiner Patienten abhängig und in erster Linie bestrebt, die Zahl seiner Patienten zu erhöhen, da sein Leben und die Ausübung seines Berufes davon abhängen. Diese Verhältnisse würden nach Leont’ev auch seinen Niederschlag im menschlichen Bewusstsein finden (vgl. Leont’ev 1971, S. 202).

3.3.2 Widersprüche als Antrieb für expansives Lernen

Innere Widersprüche der menschlichen Tätigkeit werden in Engeströms Theorie des ex- pansiven Lernens eine bedeutsame Rolle zugesprochen. Sie finden ihren sichtbaren Aus- druck in den äußeren Widersprüchen. Sie entstehen im Verhältnis der individuellen Hand- lung zum gesamten Tätigkeitssystem. Es werden vier Ebenen von Widersprüchen unter- schieden:

(1) Der primäre Widerspruch ist die Tätigkeit in einer kapitalistischen Gesellschafts- formation: Konflikt zwischen Tausch- und Gebrauchswert innerhalb jeder Spitze des Tätigkeitsdreiecks.

(2) Die sekundären Widersprüche erscheinen in den Beziehungen zwischen den Spit- zen. Die folgenden zwei Beispiele wären denkbar: - zwischen Arbeitsteilung und einem fortentwickelten Instrument innerhalb eines Tätigkeitssystems (z.B. Betrieb, Schule etc.) entsteht ein sekundärer Widerspruch, wenn etwa selbstbestimmteres und besser organisiertes Arbeiten oder Lernen aufgrund von weiterentwickelten Netzwerktechnologien möglich wäre, jedoch die Entscheidungsträger weiterhin an einer streng strukturierten Arbeitsteilung mit starren Hierarchieauffassungen fest- halten, anstatt auf die neuen Möglichkeiten entsprechend zu reagieren, indem sie formale Hierarchien abbauen und damit neue Möglichkeiten entfalten. Ein weiterer Fall für einen sekundären Widerspruch wäre gegeben, wenn z.B. innerhalb eines Tätigkeitssystems zwischen dem Einzelinteresse eines Subjekts und dem Gemein- interesse eines Kollektivs ein Gegensatz besteht und beide Positionen sich nur in Form von Kooperation und Kommunikation aufheben lassen.

(3) Die tertiären Widersprüche erscheinen, wenn Repräsentanten einer Kultur (z.B. Lehrer) den Gegenstand und das Motiv der Tätigkeit einer fortgeschritteneren Form in der vorherrschenden Form der Tätigkeit einführen. So besitzen beispielsweise Grundschüler das dominierende Motiv zur Schule zu gehen, um mit ihren Klassen- kameraden zu spielen, während Eltern und Lehrer jedoch versuchen, sie zum kultu- rell fortgeschritteneren Motiv zu bewegen, ernsthaft zu lernen. Allerdings wäre es auch möglich, dass die Subjekte der Tätigkeit kulturell fortgeschrittenere Gegens- tände und Motive selbst aufsuchen.

[...]


1 IST: Information Society Technologies.

2 DERIVE: Distributed Real and Virtual Learning Environment for Mechatronics and Tele-Service (vgl. http://www.derive.uni-bremen.de). Zugriff am: 26.03.05.

3 LAB@FUTURE: School Laboratory anticipating Future Needs of European Youth. Siehe auch unter: http://www.labfuture.net/. Zugriff am: 24.03.2005.

4 Der Deutsche Bildungsrat existierte von 1965-1975. Das Nachfolgegremium ist die Bund-Länder- Kommission für Bildungsplanung und Forschungsförderung (BLK).

5 KMK: Ständige Konferenz der Kultusminister der Länder in der Bundesrepublik Deutschland.

6 Mit dieser Auffassung grenzte Vygotskij sich von den Vertretern des klassischen Behaviorismus zu Beginn des 20. Jahrhunderts ab (unter anderem Pawlow und Watson, später Skinner), die mit ihrem S-R-Modell (Stimulus-Response) eine innere Vermittlungsinstanz als nicht beobachtbar einstuften und folglich diesen Aspekt für ihre Untersuchungsmethoden nicht berücksichtigt haben. Vygotskij kritisierte die dort vorherrschenden Interpretationsmuster als betriebener ‚Reduktionismus’.

7 Der Begriff der Interiorisierung wird in der angloamerikanischen Literatur oft auch als Internalisierung beschrieben, d.h. der Verinnerlichung von Werte, Normen, Auffassungen (vgl. Scholze-Stubenrecht 1997, S.372).

8 Volitiv bedeutet willentlich.

9 Die Namen Vygotskij und Leont’ev werden in deutschsprachiger Literatur auch oft als Wygotski und Leontjew geschrieben.

10 Sie vertraten gegenüber den Vertretern der damaligen Psychophysik im 19. Jahrhundert (unter anderem E. H. Weber, G. T. Fechner) die These, dass die Wahrnehmung eines Objektes mehr als die wahrgenommene Summe seiner Einzelteile ist.

11 Ontogenetisch: die Entwicklung des Individuums betreffend (vgl. Scholze-Stubenrecht 1997, S.570).

Ende der Leseprobe aus 93 Seiten

Details

Titel
Beobachtung des Lernprozesses in einer multimedialen Umgebung innerhalb der gewerblich-technischen Berufsausbildung unter tätigkeitstheoretischer Perspektive
Hochschule
Universität Bremen
Note
2,0
Autor
Jahr
2005
Seiten
93
Katalognummer
V82007
ISBN (eBook)
9783638847599
ISBN (Buch)
9783638845830
Dateigröße
1127 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Beobachtung, Lernprozesses, Umgebung, Berufsausbildung, Perspektive
Arbeit zitieren
Dipl.-Berufspädagoge Rainer Pundt (Autor:in), 2005, Beobachtung des Lernprozesses in einer multimedialen Umgebung innerhalb der gewerblich-technischen Berufsausbildung unter tätigkeitstheoretischer Perspektive, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/82007

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