Resiliente und kohärente Lebensführungssysteme bei Suchtkranken in stationären Langzeittherapiesettings. Auf- und Ausbau durch sozialtherapeutische Interventionen


Masterarbeit, 2016

112 Seiten, Note: 1


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1 EINLEITUNG

2 SUCHTERKRANKUNG
2.1 Drogenkonsum in Österreich
2.2 Drogenpolitik
2.3 Zum Wesen der Sucht

3 STATIONÄRE LANGZEITSUCHTTHERAPIE

4 INTEGRATION UND LEBENSFÜHRUNG
4.1 Soziale Systeme und handelnde Subjekte
4.2 Das Modell des „Lebensführungssystems"
4.3 Bewältigungsarbeit in einer stationären Einrichtung

5 KOHÄRENZ & RESILIENZ
5.1 Salutogenese
5.2 Resilienz

6 SOZIALTHERAPEUTISCHE INTERVENTIONEN KLINISCHER SOZIALARBEIT ...

7 DATENERHEBUNG - METHODISCHES VORGEHEN
7.1 Zugang zum Feld
7.2 Durchführung der Interviews
7.3 Auswertungsverfahren: qualitative Inhaltsanalyse
7.4 Aufbereitungsverfahren: wörtliche Transkription
7.5 Beschreibung der Interviewpartnerinnen

8 DARSTELLUNG UND INTERPRETATION DER ERGEBNISSE
8.1 Subjektiver Gesundheitszustand & Umgang mit aktuellen gesundheitlichen Beschwerden .
8.2 Risikohafte und protektive Einflussfaktoren
8.3 Bewältigungsstrategien
8.4 Soziales Umfeld
8.5 Kommunikation
8.6 Affektu-sensomotorische Erfahrungen
8.7 Selbstwert, Selbstbild und Selbstvertrauen
8.8 Lebenssinn und Zukunftsorientierung
8.9 Stationäre Therapie + professionelle Unterstützung

9 ZUSAMMENFASSUNG UND DISKUSSION DER ERGEBNISSE
9.1 Beantwortung der Forschungsfragen
9.2 Relevanz der Studie: klinisch-sozialarbeiterische Interventionen

10 QUELLENVERZEICHNIS
10.1 Bücher
10.2 Zeitschriften
10.3 Internetquellen
10.4 Gesetzestext

11 ABBILDUNGSVERZEICHNIS

12 TABELLENVERZEICHNIS

13 ANHANG
13.1 Leitfadeninterview
13.2 Auszug Transkription Leitfadeninterview IV: Klient D
13.3 Auszug Kategorienauswertung
13.4 Arbeitsbündnis - Vertrag über die Interventionsplanung

Mein Dank gilt ...

... meinem Erstbetreuer Mag. (FH) Schörghofer Josef, DSA, welcher durch seine kompetente und verlässliche Unterstützung, aber vor allem durch die motivierenden und beruhigenden Gespräche zur Verfassung meiner Arbeit beigetragen hat.

... meiner Zweitbetreuerin Seyr Marina, MA, DSA, welche durch ihre berufliche Erfahrung und kompetente Lehrmethodik das Interesse zur Vertiefung und zur praktischen Anwendung der psychosozialen Diagnostik hervorbrachte.

... den Klientinnen der stationären Therapieeinrichtung, welche sich für die Leitfadeninterviews zur Verfügung stellten. Sie machen meinen Beruf zu einer herausfordernden und spannenden Tätigkeit.

... meiner Arbeitskollegin Christa, welche nicht nur aufgrund ihrer fachlichen Kompetenz zu meiner Bezugsperson im Therapiealltag wurde. Hinsichtlich der Forschungsmethodik konnte sie mich mit Ratschlägen und Feedback unterstützen. Auch als Freundin schätze ich sie mittlerweile sehr.

... meiner Familie und meinem Partner, die mich bei meinem Studium finanziell als auch emotional sehr unterstützt haben.

... meiner Freundin Isabella, welche mich in den letzten Jahren in meinem Tun immer bestärkt hat und mir hinsichtlich der Korrektur dieser Arbeit sehr geholfen hat.

Kurzfassung

Die vorliegende Masterarbeit erforscht die Anwendbarkeit sozialtherapeutischer Interventionen, insbesondere sozialdiagnostischer Verfahren, welche zum Auf- und Ausbau resilienter und kohärenter Lebensführungssysteme beitragen können. Im Zentrum dieser Arbeit stehen KlientInnen, welche sich seit mindestens drei Monaten in einer stationären Langzeitsuchttherapie befinden. Anhand der Forschungsergebnisse aus 10 Leitfadeninterviews werden vorerst, auf einer beschreibenden Ebene, resiliente und kohärente Lebensführungssysteme suchtkranker KlientInnen im stationären Langzeittherapiekontext dargestellt.

Durch die Festlegung von Analyseeinheiten konnten durch die Anwendung der qualitativen Inhaltsanalyse neun Hauptkategorien festgelegt werden, welche sich aus theoretischen Vorannahmen des Resilienzmodells sowie des Kohärenzkonzeptes ableiten.

Die Forschungsergebnisse heben die Bedeutsamkeit psychosozialer Diagnostikverfahren, im Sinne der Ressourcenorientierung, hervor. Sie zeigen auf, dass KlientInnen bezugnehmend auf die Reintegration aus der stationären Therapie sowie hinsichtlich der Bewältigung ihres Alltags, auf sozialtherapeutische Unterstützung angewiesen sind. Eine Sicherheit vermittelnde HelferInnenbeziehung stellt eine tragende Komponente innerhalb einer stationären Therapie dar.

Die Entscheidung zur Wahl dieser Forschungsthematik resultiert aus dem Interesse, im Sinne eines erweiterten Kompetenzaufbaus, Interventionsformen intensiver in die klinisch-sozialarbeiterische Tätigkeit miteinzubeziehen und gezielt anzuwenden.

Abstract

This Master Thesis explores the applicability of social-therapeutic interventions, particularly social diagnostic methods, which could contribute to the construction and development of resilient and coherent lifestyle systems. This research study focuses on clients, who have been staying in a stationary long-term therapy setting for at least three months. The research findings from ten guided interviews describe resilient and coherent lifestyle systems of drug addicted clients in a stationary long-term therapy context. Nine main categories, which are derived from theoretical presuppositions of the resilience model as well as the coherence concept, were established through analysis units following the qualitative contents analysis.

For the purposes of the resource orientation, the results of the research emphasis the importance of psychosocial diagnostic procedures. They indicate that clients, with reference to the reintegration from the stationary therapy as well as concerning the coping of their everyday life, depend on social-therapeutic support.

An assistant conveying safety and security shows a weight-bearing component within a stationary therapy. This research topic stems from an interest in the purposes of an enlarged competence construction to incorporate and selectively apply intervention forms more intensely into clinical social work.

1 EINLEITUNG

Das individuelle Lebensführungssystem suchtkranker Menschen, welches von biologischen, psychologischen und sozialen Faktoren wechselwirkend beeinflusst wird, stellt eine Herausforderung für den therapeutischen Alltag dar. Gesellschaftliche Bedingungen und Veränderungen führen zu einem ambivalenten Suchtverhalten, welches von polytoxikomanem Substanzkonsum und psychiatrischen Komorbiditäten geprägt ist. Das gesamte System der Drogenhilfe steht, aufgrund gesellschaftlicher Veränderungen sowie der Herstellung und einfachen Zugänglichkeit von legalen und illegalen Suchtmitteln, vor der Aufgabe, die Versorgung (Einrichtungskonzepte, Methoden etc.) weiterzuentwickeln. Der Klinischen Sozialarbeit kommt hierbei die Aufgabe zu (Handlungsbedarf), gezielte sozialtherapeutische Interventionen (fokussiert wird die psychosoziale Diagnostik) im Hinblick auf die einzelfallorientierte Betreuung und Behandlung zu implementieren. Das Konzept der Salutogenese und das Resilienzmodell bilden die forschungsleitende Grundlage für die vorliegende Masterarbeit. Im Detail werden empirische Ergebnisse aus 10 Leitfadeninterviews mit suchtkranken KlientInnen einer stationären Langzeitsuchttherapie, welche durch die qualitative Forschungsmethodik der Inhaltsanalyse nach Mayring ausgewertet werden, mit sozialtherapeutischen Interventionsmöglichkeiten der Klinischen Sozialarbeit in Bezug gesetzt, um eine (verstärkte!) Implementierungs- bzw. Anwendungsmöglichkeit der geeigneten psychosozialen Diagnostikverfahren aufzuzeigen. Dem Prozess der Ergebnisgewinnung vorangestellt ist die Orientierung an folgenden Forschungsfragen:

- Wie stellen sich resiliente und kohärente Lebensführungssysteme suchtkranker KlientInnen im Kontext eines stationären Langzeittherapiesettings dar?
- Welche sozialtherapeutischen Interventionen (vorrangig bezugnehmend auf die psychosoziale Diagnostik) Klinischer Sozialarbeit können durch die Erkenntnisse aus der Forschung für den Auf- und Ausbau resilienter und kohärenter Lebensführungssysteme suchtkranker KlientInnen in einem stationären Langzeittherapiesetting abgeleitet werden?

Innerhalb dieses Therapiesettings, welches unterschiedlich, aber in diesem Kontext bis zu zwölf Monate andauern kann, sollen KlientInnen unter anderem Problemlösungsstrategien im Umgang mit Suchtmitteln und deren individuellen Verhalten und Erleben erlernen, um bestmöglich auf die Zeit nach der Therapie vorbereitet zu werden. Bei der Betrachtung der persönlichen Entwicklung der KlientInnen innerhalb des Therapiesettings, im Hinblick auf das individuelle Lebensführungssystem, wird seitens der Autorin postuliert, dass die Fähigkeit, gegen äußere Belastungen widerstandsfähiger zu werden bzw. der Auf- und Auxbau protektiver Ressourcen und die Heranziehung protektiver Einflussfaktoren sowie die Entwicklung der Gefühle von Verstehbarkeit, Handhabbarkeit und Sinnhaftigkeit wichtige Komponenten für die Bewältigung der Suchterkrankung darstellen.

Nach der einleitenden Vorstellung der vorliegenden Masterarbeit beleuchtet das zweite Kapitel den Themenkomplex der Suchterkrankung, mitunter statistische Erhebungen bezugnehmend auf den Drogenkonsum in Österreich, Forderungen auf der drogenpolitischen Ebene sowie die Entstehung, Folgen sowie Behandlung der Suchterkrankung. Anschließend werden der Aufbau und die Struktur sowie Ziele und Inhalte der stationären Langzeitsuchttherapie beleuchtet. Der forschungsgestützte Beitrag zu Integration und Lebensführung (Sommerfeld et al. 2011) bildet die Grundlage des vierten Kapitels, welches vor allem auf das individuelle Lebensführungssystem und die Bewältigungsarbeit in einer stationären Therapie Bezug nimmt. Des Weiteren wird im fünften Kapitel das Konzept des Kohärenzgefühls sowie das Resilienzmodell vorgestellt. Diese Ausführungen zeigen auf, dass sich das Konzept und das Modell aufeinander beziehen und gemeinsame verwandte Modelle aufweisen. Folglich kommt es zu einem zusammengefassten Überblick über sozialtherapeutische Interventionen Klinischer Sozialarbeit, deren Bedeutung und Komplexität nur annähernd nachgegangen werden kann. Der Bezug zu den Interventionsmöglichkeiten wird im empirischen Teil der vorliegenden Masterthesis hergestellt. Kapitel 7 beleuchtet die Datenerhebung und das methodische Vorgehen dieser Arbeit. Bevor es zur Zusammenfassung und Interpretation der Ergebnisse kommt werden die Forschungsergebnisse im empirischen Teil vorgestellt. Diese leiten sich aus den Leitfadeninterviews ab und gliedern sich in neun Hauptkategorien, welche durch die qualitative Inhaltsanalyse ausgewertet und in Bezug zur Theorie gesetzt werden.

Anmerkungen innerhalb direkter oder indirekter Zitate durch die Verfasserin werden durch eckige Klammern ([...]) gekennzeichnet.

Das zentrale Forschungsinteresse resultiert aus der Tätigkeit als Sozialarbeiterin und Betreuerin in einer stationären Langzeittherapieeinrichtung für suchtkranke KlientInnen. Bis dato liegen im Forschungsbereich Klinischer Sozialarbeit keine Forschungsarbeiten dieser Form vor.

2 SUCHTERKRANKUNG

Sucht wird in der vorliegenden Forschungsarbeit als Gesamtphänomen betrachtet und nicht differenziell nach der Einteilung der Süchte (z.B. Spielsucht, Alkoholsucht) beleuchtet. Die Begriffe „Droge" und „Suchtmittel" werden synonym verwendet.

Mit der Suchtthematik vor allem in Verbindung gebracht wird zunächst der Konsum von psychoaktiven Substanzen, wie, in legaler Form, Tabak, Alkohol und Medikamente und in illegaler Form Substanzen wie Ecstasy, Cannabis, Amphetamine, Heroin, Kokain und biogene Drogen (vgl. Sting 2011: 1596). Eine Suchterkrankung liegt dann vor, wenn ein Abhängigkeitssyndrom diagnostiziert wird, welches eine Gruppe von Verhaltens-, kognitiven und körperlichen Phänomenen beschreibt, die sich nach wiederholtem Substanzgebrauch entwickeln. In der Regel besteht ein starker Wunsch, die Substanz einzunehmen und die Schwierigkeit, den Konsum zu kontrollieren sowie anhaltender Substanzgebrauch trotz schädlicher Folgen. Dem Substanzgebrauch wird Vorrang vor anderen Aktivitäten und Verpflichtungen gegeben, weiters entwickelt sich eine Toleranzerhöhung und manchmal ein körperliches Entzugssyndrom. Das Abhängigkeitssyndrom kann sich auf eine Substanzgruppe (z.B. opiatähnliche Substanzen), einen einzelnen Stoff (z.B. Tabak, Alkohol), oder auch auf ein weites Spektrum pharmakologisch unterschiedlicher Substanzen beziehen (vgl. Dilling et al. 2011: 114ff.).

2.1 Drogenkonsum in Österreich

„Längst hat der Drogenkonsum die marginalisierten Kreise einer Jugendkultur verlassen und ist zu einem transversalen Phänomen der gegenwärtigen Stress- und Freizeitgesellschaft geworden." (Mahler 2012: 18)

Laut dem Epidemiologiebericht Drogen (2015b: 6f.) des Bundesministeriums für Gesundheit stellt der Opioidkonsum den Großteil des risikoreichen Drogenkonsums in Österreich dar. Beim risikoreichen Opiatkonsum handelt es sich laut Dokli (=gesammeltes Drogeninformationssystem in Österreich), welche Analysen zu den Konsummustern von KlientInnen bestätigt, um einen polytoxikomanen Substanzkonsum, bei welchem bis zu sechs Drogen pro Person keine Seltenheit darstellen. Personen, welche ausschließlich Cannabis als Leitdroge konsumieren, sind die zweite zahlenmäßig relevante Gruppe im Behandlungsbereich. Es ist eine steigende Bedeutung von Psychopharmaka (z.B. Benzodiazepin) in den hochproblematischen Konsummustern feststellbar. Weiters konnte eine wachsende Szene mit Konsum von Stimulanzien festgestellt werden (z.B. Methamphetamin). Der risikoreiche Drogenkonsum hat sich in den letzten Jahren in Richtung Cannabiskonsum verlagert. Es ist zwar ein Rückgang des risikoreichen Konsums mit Beteiligung von Opioiden festgestellt worden (v.a. in der Altersgruppe 15 bis 25 - bedeutet weniger EinsteigerInnen), dennoch dominieren Opioide nach wie vor den behandlungsrelevanten Drogenkonsum (vgl. BMFG 2015b: 13f.). Im Jahr 2014 waren laut dem Bundesministerium für Gesundheit 1.174 Personen in stationärer Behandlung (vgl. BMFG 2015b: 17). Der Anteil der Verurteilungen nach dem SMG, welches den zentralen Rahmen für den Umgang mit Drogen in Österreich darstellt, stieg im Jahr 2014 an. 13,2 Prozent aller gerichtlichen Verurteilungen standen in Zusammenhang mit dem Suchtmittelgesetz (vgl. BMFG 2015a: 19f.).

2.2 Drogenpolitik

Der Gebrauch illegaler Substanzen wird als kriminell, labil, krank und auch abhängig definiert. Die Drogenpolitik heutzutage verfolgt die Prämisse, dass es „steuerungsbedürftige“ Substanzen gibt, da diese den/die Einzelne/n bzw. die Gesellschaft gefährden können (vgl. Krause, Simon 2009: 34). Die KonsumentInnen illegaler Substanzen fallen schon verfrüht in die Gefahr der Kriminalisierung, damit einhergehend kommt es zur Stigmatisierung und einer verstärkten Identifizierung mit Außenseiterrollen. Der Verlust von gesellschaftlichen Bezügen (z.B. Schulverweis, Verlust des Arbeits- oder Ausbildungsplatzes etc.) kann zur Verfestigung der Drogenkarriere führen (vgl. ebd.: 36). Die Drogenpolitik, welche psychiatrisch-medizinisch ausgerichtet ist, individualisiert den Sachverhalt Drogengebrauch, indem sie Problemlagen, Krisen und abweichende Handlungsweisen allein der konsumierenden Person sowie der psychophysischen Ausstattung und Biografie zurechnet und zuschreibt. Durch Anforderungsprofile und Vollzugsnormen gesundheits- und sozialpolitischer Maßnahmen wird die Individualisierung der Subjekte beeinflusst und diese werden oft auch entmündigt: „Im ,Helfen‘ und ,Beraten‘ manifestiert sich eben auch ein subtiler Kontrollprozess, der die Selbstbestimmung der betroffenen Subjekte einengt“ (Jungblut 2011: 293).

Drogenabhängige zählen seit den 1980er Jahren zu den Risikogruppen. Hauptziele der Drogenhilfe sind die Verminderung des Infektionsrisikos von AIDS, die Absicht, die Beschaffungskriminalität zu reduzieren sowie Drogenfreiheit und gesellschaftliche Reintegration (vgl. Petzold et al. 2006: 49). Auf drogenpolitischer Ebene besteht aktuell mehr denn je die Forderung nach Drogenmündigkeit.

Der Begriff Drogenmündigkeit beschreibt die Fähigkeit, sich in unterschiedlichsten Alltagssituationen eigenständig orientieren zu können und einen passenden Umgang mit psychoaktiven Substanzen finden zu können (vgl. Barsch 2012: 48). Mündigkeit verträgt sich, wie der Name schon sagt, nicht mit Bevormundung und nicht mit zu vielen Regeln und Gesetzen, sondern heißt Entscheidung der eigenen Persönlichkeit und des eigenen Gewissens (vgl. Haller 2007:179). Notwendig sind die Verknüpfung von technischen, sozialen, kulturellen, reflexiven, emotionalen, sinnlichen und ethischen Kompetenzen (vgl. Krause, Simon 2009: 37). Haller (2007: 179) ergänzt diese Forderung nach Mündigkeit durch die Begriffe Mäßigkeit und Medizinalisierung: Mäßigkeit meint den vernünftigen Umgang mit Drogen, das bedeutet, diese sollen nur ihrer vorteilhaften Wirkungen halber eingesetzt werden und niemals zu körperlichem, psychischem und sozialem Leid führen. Medizinalisierung meint in diesem Zusammenhang, dass für jede/n Behandlungswillige/n adäquate therapeutische Maßnahmen zu Verfügung gestellt werden.

2.3 Zum Wesen der Sucht

„Süchte sind entgleiste Sehnsüchte des Menschen in seiner Suche nach Vollkommenheit und Glück." (Niccolo Machiavelli 1459-1527, zit. n. Haller 2007: 195)

Süchtiges Verhalten ist laut Haller (vgl. 2007: 11) ein uraltes, zutiefst menschliches Phänomen sowie der Wunsch eines Individuums, der Realität vorübergehend zu entfliehen. Sucht stellt eine schwerwiegende Störung dar, welche einen eigendynamischen Verlauf aufweist und durch ganz bestimmte Merkmale charakterisiert ist. Geprägt ist sie durch eine fehlende Fähigkeit zur freien Entscheidung und durch ein passives, begieriges und zwanghaftes Verhalten. Auf Dauer kann die Suchterkrankung, welche die Suchtkranken an ein schädliches Bedürfnis bindet, zu einer selbstaggressiven Handlung, zu einem Suizidersatz, führen. Süchtiges Verhalten ist geprägt von einem wachsenden Verlangen und einem unwiderstehlich werdenden Zwang nach einem bestimmten Erlebnis- und Gefühlszustand (vgl. ebd.: 33f.). Oft finden Menschen im Rausch das, was ihnen im nüchternen Zustand fehlt. Primär geht es um ein Gefühl der verbesserten Kommunikation, um einzigartige Überlegenheit oder ein Gefühl der Entspannung. Weiters können durch diesen Zustand versteckte, unterdrückte oder auch abgewehrte Seiten der Persönlichkeit gefördert werden, z.B. wird der Verschlossene offen, der Traurige fröhlich, oder der Gestresste entspannt usw. (vgl. ebd.: 47f.). Sucht ist auch mit Suche und mit Ausweichverhalten verbunden, mit dem Versuch der Selbstheilung, der Flucht, Selbstablehnung und Selbstaggression (vgl. Haller 2007: 54). Meist ist es der Wunsch nach Geborgenheit und Nestwärme: „Es geht um Zuwendung, Zärtlichkeit und Zeit". (Haller 2007: 55f.) Menschen, die traumatische Erfahrungen gemacht haben, versuchen, ihre emotionalen Schmerzen zu bewältigen. In diesem Zusammenhang kann süchtiges Verhalten als überlebenssichernder Lebensstil, Bewältigungsmechanismus oder Coping-Strategie gesehen werden (vgl. Ghedina, Oleksy 2008: 19f.). Da Suchtverhalten ein erworbenes Verhalten ist, kann es durch lerntheoretische Begriffe, wie z.B. der Selbstwirksamkeitserwartung nach Bandura1, erklärt werden. Dieses Modell beschreibt, dass Suchtverhalten durch sich wiederholende Entscheidungsprozesse entsteht. Mahler (2012: 55f.) kritisiert, dass komplexen biografischen Lernprozessen sowie den darin enthaltenen biopsychosozialen Ressourcen (und deren Wirkung) keine ausreichende Beachtung geschenkt wird, was jedoch im Kontext der Klinischen Sozialarbeit beleuchtet wird (siehe Kap. 6 & 8).

Das Modell des „Suchtgedächtnisses“ wird seit einigen Jahren in der Forschung diskutiert. Ein Suchtgedächtnis weiß, dass unerwünschte emotionale Zustände durch den Suchtmittelkonsum abgebaut werden können („Suchtlernen“ - psychodynamische Bedeutung von Suchtmitteln) (vgl. Mahler 2012: 57).

2.3.1 Entstehung einer Suchterkrankung

Primärfaktoren für die Entstehung der Suchterkrankung sind personenspezifische Faktoren (biopsychische Komponente), umweltspezifische Faktoren (soziale Komponente) sowie suchtmittelspezifische Faktoren (vgl. Barth 2011: 187ff.):

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 1: Suchtdreieck - eigene Darstellung

Der frühkindlichen Situation wird eine große Bedeutung zugesprochen, da Suchtkranke zu einem Großteil aus Broken-Home-Situationen stammen oder aus einem zu sehr behüteten, überfürsorglichen Familienmilieu, welche beide als Risikofaktoren gelten. Durch fehlende Geborgenheit kann das Kind in den Schutz der Drogengruppe oder zur wohligen Wirkung des Suchtmittels getrieben werden. Eine niedrige Frustrationstoleranz, als auch die Unfähigkeit zur eigenständigen Bewältigung von Problemen können das Ausweichen in Stressfreiheit und Gleichgültigkeit bewirken. Wenn die Bindung zur Familie zu eng ist, können Schritte zur Eigenständigkeit ein schlechtes Gewissen auslösen, denn Sucht hat oft mit der schmerzhaften Ablösung vom Elternhaus zu tun (vgl. Haller 2007: 53). Da es sich bei süchtigem Verhalten um eine komplexe Störung handelt, macht es keinen Sinn, nach einem einzigen Grund oder einer einzigen Ursache zu suchen. Sucht ist ein Zusammenspiel verschiedener Ursachen, sie beruht auf einem multikonditionalen Bindungsgefüge, welches sich aus genetischer Disposition, negativen kindlichen Prägungen, Entwicklungsproblemen, nachteiliger Erziehung, lebensgeschichtlichen Umständen, sozialen Belastungen, Schicksalsschlägen oder unter anderem auch Krankheiten zusammensetzen kann (vgl. ebd.: 51).

2.3.2 Folgen von Sucht - Sucht als soziales Problem

Das Wesen eines Menschen ändert sich im Laufe der Suchtkarriere. Es lässt sich ein soziales Rückzugsverhalten durch Vermeidung von Kontakten und zwischenmenschlichen Beziehungen, ein fehlendes Interesse für die Umwelt, ein aggressives Reagieren auf Anforderungen sowie Monotonisierung und Einengung der Lebensführung beobachten. Süchtige scheinen zunehmend in sich gekehrt und selbstbezogen zu sein - sie nehmen immer weniger Anteil an Geschehnissen der Umwelt (Wesensveränderung). Weitere Störungen, welche bei Substanzkonsum auftreten können, sind neben dem Vergiftungseffekt (körperliche Schädigungen) Antriebs- und Lustlosigkeit, Abnahme der Spontanität und Nachlassen der Eigeninitiative, depressive Verstimmungen und Verflachung der Emotionen, was die Wesensveränderung verstärkt (vgl. Haller 2007: 67f.). Der Suchtprozess wird oft von komorbiden Störungen, welche ursächlich bedingt oder als dessen Folge auftreten, begleitet. Häufig sind Depressionen, Angsterkrankungen, psychosomatische Störungen, oder manchmal sogar alkohol- oder drogenindizierte Psychosen feststellbar. Zu den typischen Suchtdelikten zählen neben dem illegalen Handel Betrug, Rezeptfälschung, Gewalttätigkeit und Prostitution. Weiters sind Süchtige als Opfer vermehrt in Straftaten involviert. Wenn Suchtkranke ihr altes Verhalten, welches zur Sucht geführt hat, wieder aufnehmen, beginnt die Suchtkarriere nicht wieder von vorne, sondern wird dort fortgesetzt, wo sie unterbrochen wurde, denn das Suchtgedächtnis bleibt während der ganzen Karriere erhalten (vgl. ebd.: 68f.). Oftmals enden Suchtkarrieren mit frühzeitigem Tod und der Suchtprozess endet fast immer in Vereinsamung. Soziale Beziehungen werden vernachlässigt, weiters verlieren auch die Mitmenschen ihr Interesse an den Suchtkranken. Die Substanz, welche als Kommunikationsmittel gedient hat, entwickelt sich zu einem Isolationsfaktor (vgl. ebd.:

2.3.3 Behandlung der Suchtkrankheit

Aus der medizinischen Perspektive beleuchtet erfolgt die Behandlung der Suchterkrankung in den stationären Langzeittherapieeinrichtungen großteils sowohl abstinenzorientiert als auch substitutionsgestützt.

Morphin in Retardform (56%) stellt das am häufigsten verschriebene Substitutionsmittel in Österreich dar, gefolgt von Buprenorphin (19%) und Methadon (13%). Die Verschreibungspraxis variiert jedoch in den einzelnen Bundesländern (vgl. BMFG 2015b: 26). Die aktuelle Praxis in der Schweiz zeigt, dass z.B. Methadon in sehr hohen Dosen verschrieben wird, um das Risiko des Beikonsums zu kontrollieren [das trifft auch auf Österreich zu]. Hohe Dosierungen haben jedoch den Nachteil verminderter Zugänglichkeit [ich denke hier eher an die Aufmerksamkeit, bedingt durch körperliche Folgeerscheinungen wie Müdigkeit etc.], wobei dies aber noch kaum erforscht ist (vgl. Mahler 2012: 72). Die Behandlung der Suchtkrankheit bleibt leider viel zu oft ohne Erfolg, da sie sich als überaus schwierig darstellt. Der Heilungsprozess gelingt oft nicht oder nur unvollkommen. Oft sterben die Suchtkranken an den Folgen ihrer Erkrankung (vgl. Röhr 2014: 15). Die Betroffenen befinden sich in einem Teufelskreis und haben Angst vor der Entzugsbehandlung. Oft ist sozialer Druck [Fremdmotivation] das einzige Mittel, welches die Betroffenen in eine Behandlung bringt, z.B. Verlassenwerden durch den/die PartnerIn, Eltern, Großeltern etc., Verlust des Arbeitsplatzes [oder auch eine Weisung durch die Justiz]. Auch das körperliche Befinden kann als Grund gesehen werden (vgl. Röhr 2014: 23). Für den Anfang ist es notwendig, die eigene Situation, Bedürfnisse und Gewohnheiten kritisch zu betrachten, sich selbst zu reflektieren und Ehrlichkeit aufzubringen. Als zweiter wesentlicher Schritt ist die Erkennung und Bearbeitung der Verdrängungsmechanismen zu nennen. Weiters sind die Gründe für das süchtige Verhalten zu beleuchten, welche Umstände in Rausch und Abhängigkeit getrieben haben und was zur Flucht in die Sucht geführt hat. Es soll aufgearbeitet werden, welchen Problemen der/die Kranke ausweichen wollte und was vom entrückten Zustand erwartet wurde. Essentiell ist vor allem die Erkenntnis seitens der Person, dass ein Abhängigkeitsproblem vorliegt (vgl. Haller 2007: 187). Bedeutend ist die Tatsache, dass sich der Mensch aufgrund des jahrelangen Konsums verändert, deshalb wird er/sie auch labiler für Rückfälle. Aus diesem Grund führen kürzere Behandlungen, wie die Entgiftung, nicht zum Erfolg. Das Gehirn erholt sich nach einer Entgiftung nur allmählich, Informationen werden erst nach Wochen bzw. Monaten sicher verarbeitet. Auch die seelische Erholung, die Fähigkeit, wieder stabiler und belastbarer zu werden, dauert viele Wochen und Monate. Rückfälle treten besonders in den ersten drei Monaten einer stationären Therapie auf, vor allem aufgrund von Selbstüberschätzung, niedriger Frustrationstoleranz, mangelnder Krankheitsakzeptanz oder auch Angst. Rückfälle gehören zur Krankheit und sie machen Defizite deutlich. Es sollte der Frage nachgegangen werden, was der Person gefehlt hat (die Botschaft dahinter verstehen) (vgl. Röhr 2007: 141f.): „Wir brauchen mit uns und anderen Geduld und Zeit für Reifung und Entwicklung.“ (Röhr 2014: 40) Die bereits wirksamen Schädigungen und Risiken dürfen in der Behandlung nicht nur eindimensional berücksichtig werden (vgl. Mahler 2012: 64), sondern müssen im Sinne eines biospychosozialen Verständnisses bearbeitet werden.

3 STATIONÄRE LANGZEITSUCHTTHERAPIE

In den stationären Therapieeinrichtungen werden gesundheitsbezogene Maßnahmen durchgeführt, welche durch das österreichische Suchtmittelgesetz vorgeschrieben sind:

- „die ärztliche Überwachung des Gesundheitszustands, die ärztliche Behandlung einschließlich der Entzugs- und Substitutionsbehandlung,
- die klinisch-psychologische Beratung und Betreuung, die Psychotherapie sowie
- die psychosoziale Beratung und Betreuung." (SMG § 11 Abs.2)

Stationäre Settings [Tertiärprävention] sind geeignete Räume, durch welche KlientInnen die Übernahme von Selbstverantwortung und sozialer Verantwortung lernen, im Sinne von „alltagsnahen Übungssequenzen mit ausreichender Beziehungsresonanz", um Misserfolge zu bewältigen (vgl. Mahler 2012: 76). Der Autor (ebd.: 9) deutet die ressourcenorientierte Suchtarbeit als Versuch, für ein gelingendes Leben der Süchtigen einzutreten, „ohne dabei jedoch die Sucht als lebensbedrohliche Dynamik des menschlichen Verhaltens zu bagatellisieren." Die Autoren Petzold, Scheiblich und Thomas (vgl. 2006: 41f.) postulieren, dass es keine optimale Methode gibt; keine Therapierichtung kann beanspruchen, der „Stein der Weisen" im Kontext der Suchttherapie zu sein. Es bedarf einer „integrativen und zugleich differentiellen" Ausrichtung. Die stationäre Suchttherapie bietet psychosozial-stabilisierende Prozesse, einen Schutzraum und sie ermöglicht Wiedergewinnung von Perspektiven und stärkt die Selbstverantwortung (vgl. Mahler 2012: 19). Im besten Fall sind langfristige Beziehungsangebote präsent [Bezugsbetreuung], vor allem stationäre Langzeitangebote bieten die Möglichkeit des Aufbaus supportiver sozialer Strukturen, sowie eines gemeinschaftlich-partizipativen Lebensraums. Die Frage ist, ob das Angebot auch für die noch „offene Karriere" des/der Süchtigen genutzt wird (vgl. ebd.: 54).

Dies ist zugleich als Kritik an der stationären Therapieform zu sehen, denn das Beziehungsangebot endet zum Ende der Therapie, im besten Fall gibt es eine Nachbetreuung. In diesem Kontext ist keine durchgehende Fallführung im Sinne des Clinical Case Managements verfügbar, also keine professionelle Betreuungsperson, die den/die KlientIn durch seine/ihre „Drogenkarriere" hindurch begleitet.

Des Weiteren werden die Kosten, unter Miteinbeziehung des Karriereverlaufes von Suchtkranken [hohe Rückfallrate], als nicht gerechtfertigt empfunden. Niederschwellige und akut stabilisierende Maßnahmen sind kostengünstiger und für den Kostenträger scheinbar weniger risikohaft (vgl. ebd.:79).

4 INTEGRATION UND LEBENSFÜHRUNG

Der forschungsgestützte Beitrag (Sommerfeld et al. 2011) zu Integration und Lebensführung beschreibt die Übergänge von „drinnen" nach „draußen" im Kontext der stationären Therapie. Der Auf- und Ausbaus von Kohärenz und Resilienz, bezugnehmend auf das individuelle Lebensführungssystem, steht im Hinblick auf die Suchttherapie im Fokus der vorliegenden Forschungsarbeit.

Integration bezeichnet ein komplexes Zusammenspiel von individuellen Prozessen und sozialen Strukturen (^ sozialer Prozess), welches sich dynamisch vollzieht und über einen gewissen Zeitrahmen hergestellt wird. Menschen bilden für ihr Überleben soziale Systeme, mit und durch welche sie ihr Leben führen, um in diesen, unabhängig von der Form, integriert zu sein [systemtheoretische Sichtweise] (vgl. Sommerfeld et al. 2011: 14f.). In Verbindung mit dem Terminus Integration wird nachstehend Lothar Bönisch, welcher sich in seinem Konzept der Lebensbewältigung mit den beiden Begrifflichkeiten Integration und Lebensführung auseinandersetzt, angeführt. Im Kontext der Lebensbewältigung arbeitet er die brüchig gewordenen Integrationsbedingungen unserer Gesellschaft heraus.

Böhnisch (2012: 57ff.) erklärt, dass die sozialarbeiterische Aufgabe darin besteht, Integrationshilfe zu leisten, wenn Menschen sich in sozial desintegrativen Situationen befinden, und sich von selbst nicht mehr in die Gesellschaft einfügen können. Aus Sicht der Betroffenen steht jedoch die Bewältigungsfrage, also der aktuelle Verlust der Handlungsfähigkeit, im Vordergrund. Menschen versuchen zunehmend in Krisensituationen handlungsfähig zu bleiben, und sie greifen durchaus zu normwidrigen Mitteln, welche die soziale Desintegration fördern. Aktuelles Bewältigungsverhalten, welches von den geltenden normativen Mustern der Sozialintegration abweicht, hat immer auch eine subjektive sozialintegrative Absicht. Es geht vielmehr um das Sich- Zurecht-Finden in einer sozial unübersichtlich gewordenen Gesellschaft.

Durch diverse Programme versucht die Gesellschaft die Kompetenzen eines Individuums zu bilden, damit diese durch den Wiedergewinn an Handlungsfähigkeit in der Gesellschaft besser zurechtkommen, was wiederum zu Integration führen soll (vgl. Sommerfeld et al. 2011: 25f.). Der Begriff Lebensführungssystem verweist darauf, dass Menschen durch Tätigkeiten oder Handlungen, aufgrund ihrer spezifischen Erkenntniskompetenz, ein strukturiertes Verhältnis zur Welt herstellen und insofern ihr Leben führen. Diesbezüglich bilden sie sozio-kulturelle Systeme (= typische Form des menschlichen Lebens, dynamische Verknüpfung der psychischen und sozio-kulturellen Seite) (vgl. ebd.: 29).

4.1 Soziale Systeme und handelnde Subjekte

Menschen setzen sich erkennend und tätig mit der Welt auseinander, sie schaffen sich ihre Lebensverhältnisse und in diesem Sinn führen sie ihr Leben (vgl. Sommerfeld et al. 2011: 45). Menschliche Lebensführungssysteme entstehen dadurch, dass Menschen (sozio-biologische Systeme) sozio-kulturelle Systeme für ihre Lebensführung bilden, welche sie fürs Überleben brauchen, da menschliches Leben in sozialen Verhältnissen geführt wird (vgl. ebd.: 47). Um soziale Handlungen, welche sich in sozialen Kontexten ereignen, koordinieren zu können, bedarf es der Ausbildung von Kommunikations-, Bedeutungs- und Handlungsstrukturen [SOC], wodurch die sozialen Strukturen, die das soziale Leben regulieren, gebildet werden. Die individuellen Strukturen (psychische und somatische) resultieren aus der individuellen sozialen Aktivität. Die Ausführung einer Tätigkeit wirkt immer zugleich auf der sozialen und individuellen Ebene, wodurch sich eine Dynamik entwickelt (vgl. ebd.: 48f.).

4.2 Das Modell des „Lebensführungssystems“

Das individuelle Lebensführungssystem, welches durch die nachfolgend illustrierte Grafik (vgl. Sommerfeld et al. 2011: 287) abgebildet wird, setzt sich aus unterschiedlichen sozialen Figurationen in diversen konkreten Handlungssystemen zusammen. Erstmals formuliert wurde das Lebensführungssystem durch den Person-in-Environment-Ansatz durch Karls und Wandrei im Jahr 19942. Pauls (vgl. 2013: 64) weist darauf hin, dass die psychosoziale Veränderung eines Menschen immer ein Prozess ist, welcher vor allem die soziale Umgebung betrifft sowie das Erleben/Verhalten der Person in konkreten Situationen. Es herrscht eine wechselseitige Beeinflussung von Individuum, sozialem Kontext und physikalischer Welt (vgl. ebd. 2013: 71).

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 2: Lebensführungssystem - eigene Darstellung

Das Lebensführungssystem, welches sich aus dem Individuum, seiner psychischen Potentiallandschaft und den spezifischen Formen der Integration in unterschiedliche soziale Systeme zusammensetzt, bildet ein dynamisches, sich organisierendes System. Es stellt den zu bearbeitenden Gegenstand der Sozialen Arbeit dar. Die Frage richtet sich nach der psychosozialen Dynamik und den musterförmigen Strukturen, welches ein Individuum im Laufe seiner/ihrer Entwicklung hervorgebracht hat. Individuen reagieren, besonders auf soziale Ereignisse in der Lebensführung, ausnahmslos und permanent. Das Lebensführungssystem eines Menschen definiert sich durch das dynamische Zusammenspiel von sozialen und psychischen Prozessen in den sozialen Figurationen in den konkreten Handlungssystemen [z.B. Hilfesystem - stationäre Langzeitsuchttherapie] (vgl. Sommerfeld et al. 2011: 289).

Es kann ein Ordnungswandel im sozio-biologischen System (Individuum) entstehen, wenn sich frühere Strukturen neu ordnen - in Form von aufeinander aufbauenden Strukturen ist eine Entwicklung möglich [Bewältigungsstrategien in Bezug auf die Vermeidung von Suchtmittelkonsum]. Einmal entstandene Komponenten und die daraus gebildeten Muster können nicht einfach so gelöscht werden, denn im Lebendigen gibt es keinen „Reset-Knopf" wie bei Computern. Ein Ordnungs-Ordnungs-Wandel bezieht die vorausgegangenen Formen der Strukturen mit ein und integriert sie als Wiederherstellung, auf neue Weise, als erneutes Ganzes (vgl. ebd.: 290). Die Aufgabe [Klinischer] Sozialarbeit besteht darin, Prozesse auszuloten, zu re-arrangieren, zu unterstützen sowie gegebenenfalls [neu] zu inszenieren, welche Individuen aufgrund ihrer Freiheitsgrade, abhängig von den Möglichkeiten, aus der spezifischen Form ihrer psychischen Potentiallandschaft in Kombination bzw. im dynamischen Zusammenspiel mit den sozialen Prozessen und Strukturen realisieren lassen. Bezugnehmend auf eine zielgerichtete Behandlung und Beratung im Kontext des Lebensführungssystems der zu betreuenden Person ist es notwendig, die Funktionsweise sowie Zusammenhänge eines sozialen Systems zu verstehen (vgl. ebd.: 291). Die Form der menschlichen Lebensführung stellt eine grundsätzlich komplexe und störanfällige Lebensform dar, die an die Integration in sozio-kulturelle Systeme geknüpft ist. Im Zusammenhang mit der Gesellschaft können soziale, psychische als auch biologische Probleme des Individuums auftreten, welche mit problematischen sozialen Situationen und Konstellationen in dessen/deren Lebensführungssystem in Verbindung stehen (vgl. ebd.: 306). Daraus resultierend können soziale Probleme als Spannungszustände bei den Individuen hervorgerufen werden, welche die Bedürfnisbefriedigung der beteiligten Personen auf Dauer negativ beeinflussen, was wiederum nicht unmittelbar ausreichende, problemlösende Aktivitäten motiviert, um die problematische Situation zu verbessern [z.B. Suchtmittelkonsum] (vgl. ebd.: 306).

4.3 Bewältigungsarbeit in einer stationären Einrichtung

Die eigentliche Auseinandersetzung mit dem Ereignis [psychische Erkrankung, Drogensucht etc.] stellt die Bewältigungsarbeit dar, welche eine psychosoziale Dynamik entfaltet, die in diesem Kontext als Problemlösungsdynamik bezeichnet wird. Jene vergegenständlicht sich als beobachtbare Verlaufskurse, welche eine stationäre Phase der Hyperinklusion und den anschließenden (Re-)Integrationsprozess umfasst (vgl. Sommerfeld et al. 2011: 310). Die nachstehend abgebildete Grafik, in Anlehnung an Sommerfeld et al. (2011: 311), veranschaulicht eine beobachtbare Verlaufskurve, welche sich als „Meta-Abbildung" dieser Forschungsarbeit versteht, da die behandelten theoretischen als auch empirischen Ergebnisse in Bezug zur Illustration gesetzt werden können.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 3: Beobachtbare Verlaufskurve - eigene Darstellung

4.3.1 Vor Eintritt: „draußen“

Vor dem Eintritt in die stationäre Einrichtung kann es zu negativen Eskalationen kommen. Darunter werden Prozesse genannt, welche in differenziellen sozialen Konfigurationen gleichzeitig stattfinden können (Familie ^ z.B. Scheidung der Eltern, Schule/Ausbildung ^ Nichtbestehen der Matura etc.). Negative Eskalationen beschreiben weiters eine Steigerung der Spannung im Lebensführungssystem, welche mit den bestehenden Mustern nicht mehr bewältigt werden können. Dieser Spannungszustand kann ab einem gewissen Punkt unerträglich werden und drängt definitiv zum Handeln. Der Prozess der negativen Eskalation findet über einen längeren Zeitraum statt und bringt graduell progressive Veränderung der Spannungslage mit sich. Die in diesem Zeitraum getätigten Bewältigungsversuche, welche als motivierte Lösungsversuche und zielgerichtete Handlungen verstanden werden, können mitunter auch zu einem Teil des Problems werden (z.B. Fassade aufbauen, Kontakt zur Familie meiden etc.). Eine negative Eskalation kann auch in einer „befreienden“ Tat enden, oder es führt zu einem Lebensführungssystem, welches weitgehend im Exklusionsbereich der Gesellschaft angesiedelt ist [z.B. Heroinsucht als Alltag]. Diese Randzone der Gesellschaft, die als „Draußen“ bezeichnet wird, als nicht zur „normalen“ Gesellschaft gehörend, führt oft zu Stigmatisierungen [z.B. ein suchtmittelabhängiger Mensch zu sein, der im Zuge seiner Sucht keiner Beschäftigung nachgehen kann] (vgl. Sommerfeld et al.: 310ff.). Für die Randbereiche der Gesellschaft wird im Kontext des Lebensführungssystems innerhalb der Verlaufskurve der Begriff „Schattenwelten“ gewählt. Dieser bezeichnet Subkulturen als die „dunkle“ Ecke der Gesellschaft, welche von gesellschaftlich dominanten Normen erheblich abweichen (z.B.: das Lebensführungssystem ist auf die Zufuhr eines illegalen Stoffes angewiesen. Zur Bewältigung dieser Spannung ist die Person auf Geld angewiesen, was wiederum auf legalem Weg nicht erreichbar ist, dies führt zu einem kriminellen Risikomanagement ^ Karriere als „dealige/r“ Süchtige/r). Diese Art von Lebensführungssystem kann nicht mehr funktionieren, wenn Schweinwerfer darauf gerichtet werden. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis ein weiteres soziales System eingreift (Polizei/Rechtssystem), wenn sich die Krise verdichtet. Vorhergehende Strategien und Problemlösungsversuche [z.B. Suchtmittelkonsum], welche die AkteurInnen eingesetzt haben, können zu einer dominanten, energetisierenden Dynamik führen, wodurch die Spannungen nicht abnehmen (vgl. ebd.: 313).

4.3.2 Institution: „drinnen“

Innerhalb der stationären Einrichtung kommt es durch den Ausschluss von (allen) sozialen Systemen (Hyperinklusion) vorerst zur Entlastung der problemverursachenden Dynamiken der KlientInnen. Dies stellt deren Potential dar, in eine verändernde Richtung wirken zu können. Einrichtungen können maximale Stabilitätsbedingungen bieten und Lernprozesse im Sinne von Restrukturierung oder Aktivierung anderer Areale der psychischen Potentiallandschaft schaffen. Nach Ablauf einer gewissen Zeit kann, durch Brechung der problemverursachenden Dynamiken und/oder weiteren gezielten Interventionen, Beruhigung der psychischen Situation bzw. kritische Instabilität eintreten. In der stationären Einrichtung lösen sich die einhergehenden Spannungen und Überforderungen zwar nicht auf, aber die Distanz zum Alltag kann die Situation entspannen. Zudem ist anzumerken, dass die Einrichtung auch Strukturen und Zeit bereitstellt sowie Lernanlässe bietet [in Form von Psychotherapie, Klinische Sozialarbeit, Arbeits- und Qualifizierungsmaßnahmen etc.]. Weitere Indikatoren wären die distanzierte Verarbeitung der Ereignisse, Reflexion auf die Zukunft, Beratung, Reizreduktion, weitgehende Entlastung von Entscheidungen, soziale und persönliche Erwartungen sowie vor allem die Motivation, das Lebensführungssystem aufzubauen, neu zu arrangieren, und das Leben so zu ändern, dass Sinn und Selbstwirksamkeit erlebt wird und dass ein „gelingendem“ Alltag3 ermöglicht wird (vgl. ebd.: 314f.). Sozialtherapeutische Drogenarbeit ist in erster Linie Beziehungsarbeit (Mahler 2012: 183), welche das Ziel hat, KlientInnen zu befähigen, im Sinne der Ressourcenorientierung, eigene Entscheidungen zu treffen. Sommerfeld et al. (2011: o.J.) sprechen in diesem Zusammenhang von einer Sicherheit vermittelnden HelferInnenbeziehung.

4.3.3 (Re-)Integrationsprozess: „draußen“

Nach dem Austritt aus der stationären Einrichtung kann es, aufgrund von Unsicherheiten, zu einer Phase der kritischen Instabilität kommen, da die AkteurInnen in eine Reihe von sozialen Figurationen zurückkehren. Um die Integration in die konkreten Handlungssysteme [wieder] herzustellen, müssen mehrere Aufgaben bewältigt werden, um den damit verbunden Erwartungen, Anforderungen und Ansprüchen [v.a. durch das soziale Netz] gerecht zu werden. Weitere wichtige Aufgaben stellen die persönliche Alltagsbewältigung sowie die Arbeit an den eigenen psychischen Mustern, Erwartungen und Zielen dar, denn KlientInnen kehren oft in alte, vertraute Handlungssysteme und damit in Verbindung stehende dynamische Prozesse zurück, welche vor Therapieaufenthalt zu einer Krise führten. KlientInnen haben sich, durch (Re-)Aktivierung anderer Anteile ihrer psychischen Potentiallandschaft, in gewisser Weise verändert. Teilweise passen sie nicht mehr in die sozialen Systeme, in die sie zurückkehren. Dies kann in den sozialen Systemen Kräfte auslösen, die den alten Zustand der KlientInnen wieder herstellen. Womöglich können „drinnen" vollzogene Lernprozesse, unter den draußen herrschenden sozialen und gesellschaftlichen Bedingungen, nicht bestätigt werden. Dies kann Gefühle wie Selbstunwirksamkeit, Frustration und Ernüchterung auslösen. Im Fall eines gelingenden (Re-)Integrationsprozesses („positive" Eskalation), tritt im kognitiv-emotionalen Erleben die Erfahrung von Selbstwirksamkeit, Kohärenz und der Zugewinn an Sicherheit auf. Dazu bedarf es mindestens einer sozialen Figuration, damit die Veränderungsprozesse der KlientInnen gewürdigt werden (vgl. ebd.: 316f.). Eine Stabilisierung ist unter Umständen bereits ein Erfolg, jedoch wird dadurch noch keine nachhaltige Problemlösung erzielt. Negative Eskalationen zeigen sich vor allem im Bereich der stationären Drogentherapie, wie aus diversen Rückfallquoten ersichtlich ist (vgl. ebd.: 319). Weitere wichtige Faktoren für einen gelingenden (Re- )Integrationsprozess sind die Erfahrungen von Sinn und Selbstwirksamkeit sowie Stabilitätsbedingungen, eine geregelte finanzielle Situation, tragfähige Beziehungen, eine Sicherheit vermittelnde Helferbeziehung, neu erworbene Bewältigungsstrategien, Verständnis sowie Kontrollgewinn über die eigene Lebenssituation (vgl. ebd.: 323f.).

Die Süchtigkeit wird meist der Person selbst zugerechnet, die Umgebung, welche zur Entwicklung der Erkrankung beiträgt, wird selten pathologisiert. Der/die suchtkranke Person wird [besonders häufig im Kontext der stationären Therapie] oft in die gleiche Umgebung entlassen, welche die Entstehung der Sucht überhaupt erst möglich gemacht hat (vgl. Bell 2015: 51), was problematisch zu sehen ist.

Sommerfeld et al. (2011: 342) merken kritisch an, dass die Soziale Arbeit diagnostische Verfahren benötigt, welche in der Lage sind, die Komplexität des konkreten individuellen Lebensführungssytems zu erfassen und daraufhin notwenige Hilfen zu organisieren sowie den Prozessbogen aufzubauen. Bezugnehmend auf diese Kritik ist anzumerken, dass Diagnostikinstrumente Klinischer Sozialarbeit im Kontext des Prozessbogens und des individuellen Lebensführungssytems von KlientInnen gut einsetzbar sind, was sich im empirischen Teil dieser Forschungsarbeit zeigt.

5 KOHÄRENZ & RESILIENZ

Die Literatur beschreibt Kohärenz als globale Orientierung (vgl. Antonovsky 1997: o.S.), sie beleuchtet generalisierte Widerstandsressourcen für die Bewältigung von Stressoren. Resilienz, als übergeordnetes System (vgl. Wellensiek 2011: 21), betrachtet protektive Einflussfaktoren im Kontext der Bewältigung schwieriger Lebensereignisse. Die nachstehenden Ausführungen zeigen auf, dass sich das Konzept und das Modell aufeinander beziehen und gemeinsame verwandte Modelle aufweisen. In der vorliegenden Arbeit werden die Beiden in Bezug auf die Empirie als Gesamtes beleuchtet, da es, wie folgende Abbildung veranschaulicht, viele Gemeinsamkeiten gibt, wobei die inhaltlichen Schwerpunkte natürlich differenzieren. Die Erstellung der Interviewleitfäden sowie die inhaltliche Auswertung unterscheiden nicht zwischen dem Kohärenzgefühl und dem Resilienzmodell, sondern verbinden die inhaltliche theoretische Fundierung sowie Unterschiede und Gemeinsamkeiten.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 4: Gemeinsame/verwandte Modelle von Kohärenz und Resilienz - eigene Darstellung

5.1 Salutogenese

Antonovsky beschreibt, dass die salutgenetische Orientierung [als übergeordnetes Konzept], im Gegenteil zur pathologischen Orientierung, welche versucht zu erklären, warum Menschen krank werden, sich auf die Ursprünge von Gesundheit konzentriert und der Frage nachgeht, warum sich Menschen auf der positiven Seite des Gesundheits- Krankheits-Kontinuums bewegen (vgl. Antonovsky 1997: 15). Stressoren sind im menschlichen Leben omnipräsent. Trotz hoher Stressorenbelastung gibt es Menschen, die gut zurechtkommen. Die salutogenetische Orientierung versucht zu enträtseln, wie sich die Gesundheit von Menschen entwickelt. Durch die Konfrontation mit einem Stressor entsteht ein Spannungszustand, den eine Person unterschiedlich bewältigt. Als Antwort auf den Umgang mit Spannungszuständen formuliert Antonovsky (ebd.: 16) das Konzept der generalisierten Widerstandsressourcen, welche Phänomene darstellen, die zur Bekämpfung von Stressoren wirksam sind, hierzu zählen u.a. soziale Unterstützung, Ich-Stärke, kulturelle Stabilität etc. Gesundheit und Krankheit betrachtet er auf einem Kontinuum, dies wird durch folgende Aussage des Autors untermauert: „Wir sind alle sterblich. Ebenso sind wir alle, solange noch ein Hauch von Leben in uns ist, in einem gewissen Ausmaß gesund." (Antonovsky 1997: 23)

Die pathogene Orientierung geht davon aus, dass Krankheiten durch Erreger ausgelöst werden, dem entgegengesetzt veranlasst die salutogenetische Orientierung, dass über Faktoren nachgedacht werden soll, die zur Bewegung auf das gesunde Ende des Kontinuums beitragen (vgl. ebd.: 25). Es wird nicht der Erreger, der eine spezielle Krankheit ausgelöst hat, betrachtet, sondern die Geschichte der Person. Dies verschafft die Möglichkeit einer adäquateren Diagnose und die Betrachtung des Menschen auf einem Kontinuum. Die Salutogenese sucht nach nützlichen Inputs für das soziale System [über einen rekonstruktiven Zugang eruierte Ressourcen], um dem immanenten Trend der Entropie entgegenzuwirken (vgl. ebd.: 27).

Antonovsky postuliert, dass eine Person eine eigene Position auf dem Kontinuum ab dem frühen Erwachsenenalter einnimmt. Radikale, dauerhafte Veränderungen der persönlichen Lebenssituation können die Position jedoch verändern (vgl. ebd.: 158).

Zusammenfassend wird unter der salutogenetischen Orientierung, welche argumentiert, dass Heterostase, Altern und fortschreitende Entropie alle lebenden Organismen charakterisieren, folgendes verstanden:

- sie lokalisiert den Menschen auf einem multidimensionalen Gesundheits- Krankheits-Kontinuum und verwirft die dichotome Klassifizierungen der Menschen als gesund bzw. krank,
- sie fokussiert das Suchen nach der gesamten Geschichte eines Menschen einschließlich seiner/ihrer Krankheit, im Gegensatz zur ausschließlichen Fokussierung auf die Ätiologie einer bestimmten Krankheit,
- sie konzentriert sich auf die Beleuchtung von Coping-Ressourcen anstelle von Stressoren, welche als allgegenwärtig betrachtet werden. Die Auflösung der Spannung, welche durch einen Stressor ausgelöst werden kann, kann auch in einem gesunden „Zustand" enden (vgl. ebd.: 29f.).

5.1.1 Kohärenzgefühl (SOC)

Das Kohärenzgefühl (sense of coherence), [welches eng mit Kobabas4 Konzept der Widerstandsfähigkeit sowie Banduras Ansatz der Selbstwirksamkeit5 verbunden ist], bedeutet für den Einzelnen die Grundsicherheit bzw. Grundstimmung, innerlich zusammengehalten zu werden und nicht zu zerbrechen und weiters auch äußere Unterstützung bzw. äußeren Halt zu finden (vgl. Schiffer 2007: 205). Antonovsky entwickelte das Konzept des Kohärenzgefühls, um der salutogenetischen Frage nachzugehen. Diesem ordnete er die generalisierten Widerstandsressourcen zu, welche es leichter machen, Stressoren, die den Menschen fortlaufend begegnen, einen Sinn zu geben. Je mehr sinnhafte Erfahrungen, desto stärker entwickelt sich das Kohärenzgefühl. Dieses zentrale Konzept wird von ihm als „(...) eine globale Orientierung definiert, die das Maß ausdrückt, in dem man ein durchdringendes, andauerndes aber dynamisches Gefühl des Vertrauens hat, daß [sic!] die eigene interne und externe Umwelt vorhersagbar ist und daß [sic!] es eine hohe Wahrscheinlichkeit gibt, daß [sic!] sich die Dinge so entwickeln werden, wie vernünftigerweise erwartet werden kann.“ (Antonovsky 1997: 16)

Nachstehend werden die drei Komponenten des SOC - Verstehbarkeit, Handhabbarkeit und Bedeutsamkeit angeführt:

- Verstehbarkeit (= der Kern): Bezieht sich auf das Ausmaß, inwiefern eine Person interne und externe Stressoren als sinnhaft wahrnimmt. Stressoren werden als geordnet, strukturiert und klar wahrgenommen und nicht chaotisch, willkürlich bzw. unerklärlich. Ein hohes Ausmaß an Verstehbarkeit bedeutet, dass zukünftige Stressoren vorhersehbar sind bzw. eingeordnet und erklärt werden können. Z.B. wenn Tod, Krieg oder auch Versagen eintritt, kann die Person sich das erklären.
- Handhabbarkeit: Bezieht sich auf das Ausmaß der Wahrnehmung von zur Verfügung stehenden Ressourcen zur Bewältigung von Anforderungen und Stressoren. Hierzu zählen eigene kontrollierbare Ressourcen, als auch jene von legitimierten Anderen, denen vertraut wird, z.B. FreundInnen, EhepartnerIn etc. Personen mit einem hohen Ausmaß an Handhabbarkeit gehen davon aus, dass sie mit Stressoren umgehen können, und sehen sich selbst nicht in der Opferrolle.
- Bedeutsamkeit (das motivationale Element): Bezieht sich auf die Bewertung, die Ereignisse als Herausforderungen einschätzen und als wichtig genug angesehen werden, um sich für sie zu engagieren und Emotionen in sie zu investieren. Das Leben wird als emotional sinnvoll empfunden. Zumindest einige der gestellten Probleme und Anforderungen im Leben sind es wert, dass Energie in sie investiert wird und dass sich eine Person dafür einsetzt. Betont wird hier vor allem der emotionalen Aspekt (vgl. Antonovsky 1996: 34ff.).

Antonovsky geht davon aus, dass die drei Komponenten unauflöslich miteinander verwoben sind. Alle drei Komponenten sind essentiell, aber nicht in gleichem Ausmaß zentral. Laut dem Autor ist die motivationale Komponente (Bedeutsamkeit) am wichtigsten, da ohne sie das Ausmaß an Verstehbarkeit und Handhabbarkeit nur von kurzer Dauer ist. ABER: ein erfolgreiches Coping hängt vom SOC als Ganzes ab (vgl. Antonovsky 1996: 36ff.). Im Sinne des SOC kann ein Sinnzuwachs dadurch entstehen, dass die Chance positiver Entwicklungen erkannt wird, wenn sich eine Person in einer Belastungssituation befindet (vgl. Mahler 2012: 45).

Stressoren bedingen, dass ein Spannungszustand aufgelöst wird, welche aber auch als sinnvoll erachtet werden können. Stressoren bringen Entropie in ein System, also eine Lebenserfahrung, die durch Unter- oder Überforderung und fehlende Teilhabe an Entscheidungen beschrieben ist (vgl. Antonovsky 1997: 43f.). In Bezug auf Lebenserfahrungen ist es wichtig, dass sie auch von uns mitentschieden und nicht nur durch fremdes Tun und fremde Entscheidungen beeinflusst werden (vgl. ebd.: 93):

„Wenn andere alles für uns entscheiden - wenn sie die Aufgaben stellen, die Regeln formulieren und die Ergebnisse managen - und wir in der Angelegenheit nichts zu sagen haben, werden wir zu Objekten reduziert. Eine Welt, die wir somit als gleichgültig gegenüber unseren Handlungen erleben, wird schließlich eine Welt ohne jede Bedeutung.“ (Antonovsky 1997: 93)

Dieses Zitat verdeutlicht die Notwendigkeit der Miteinbeziehung der Klientinnen in gemeinsame Entscheidungen sowie diagnostische Prozesse (Klientin als KoProduzentin).

Bezugnehmend auf die Unterstützung durch professionelle Helferinnen im Kontext des SOC geht Antonovsky davon aus, dass Begegnungen innerhalb einer professionellen Beziehung [Betreuung, Beratung etc.] dazu führen können, dass der SOC Wert eines Menschen ansteigt. Den Menschen kann ermöglicht werden, ihre Erfahrungen neu zu interpretieren und es können ihnen SOC-verbessernde Erfahrungen angeboten werden [z.B: Ressourcen ausfindig machen] (vgl. ebd.: 119).

Die Grenzen des Kohärenzgefühls können bezugnehmend zum individuellen Lebensführungssystem und zur stationären Therapie hergestellt werden.

Personen, die ein starkes SOC aufweisen, betrachten die umgebende objektive Welt als kohärent. Menschen ziehen jedoch Grenzen, was bedeutet, dass die Welt außerhalb der gezogenen Grenzen nicht mehr als gleichsam wichtig erachtet werden und teilweise ausgeblendet wird. Jede Person zieht die Grenze anders. Wenn die Grenzen zu eng gezogen werden (v.a. in Bezug auf die eigenen Gefühle, die wichtigste eigene Tätigkeit und existentielle Fragen wie z.B. Konflikte, Isolation oder auch Tod sowie unmittelbare interpersonelle Beziehungen), dann ist es kaum möglich, ein starkes SOC aufrechtzuerhalten (vgl. Antonovsky 1997: 39).

5.1.2 Affektu-sensumotorische Vorerfahrungen

Wenn Klientinnen über wenige affektu-sensumotorische Vorerfahrungen verfügen (=leibhaftige Welterfahrung mit allen Sinnen, Gefühlen und auch Bewegungssinnen), dann sind sie, um etwas zu spüren, auf aktuelle Außenreize angewiesen. Z.B. dient die Nahrungsaufnahme nur mehr dazu, dass wir uns spüren, und nicht mehr allein der Sättigung. Dieses Schema ist zu vergleichen mit diversen anderen Unternehmungen, die intensive Außenreize mit sich bringen. Hervorzuheben ist in diesem Zusammenhang der Genuss legaler und illegaler Suchtmittel (vgl. Schiffer 2007: 202f.). Auch Mahler (2012: 63f.) deutet darauf hin, dass Risikokonsum bzw. Risikoverhalten im Kontext der Sensationssuche stehen.

Aus einer salutogenetischen Perspektive heraus betrachtet bedeutet dies: je mehr affektu-sensumotorische Vorerfahrungen zuvor spielerisch gemacht wurden, desto lebendiger ist die Phantasie und umso reicher das Innenleben eines Menschen. Um etwas zu erleben bedarf es keiner ständigen neuen äußeren Reize und Sensationen. KlientInnen verfügen über eine lebendige Phantasie, da sie sich das, was sie für ihr Vergnügen brauchen, selbst „zaubern" können (vgl. Schiffer 2007: 202f.).

Wenn der Eigensinn im schöpferischen Gestalten und die Eigendarstellungsweise nicht geachtet werden, dann können daraus Beschämungen resultieren. Auf Dauer kann aus den Beschämungen Selbstverachtung entstehen, und diese kann sich durch Rauschmittel lösen. Deshalb muss Beschämung präventiv vermieden werden, und aus salutogenetischer Perspektive ein starkes Selbstwertgefühl gefördert werden, damit das Rauschmittel nicht dazu benötigt wird, sich bzgl. des Selbstwert- bzw. des Selbstunwertgefühls, zu verändern (vgl. Schiffer 2007: 211).

5.2 Resilienz

Der Terminus „Resilienz" kommt ursprünglich aus dem Lateinischen (resilire) und bedeutet so viel wie „zurückspringen" oder „abprallen". Im deutschsprachigen Raum liegt keine eindeutige Definition des Terminus vor, er wird daher als Synonym für Widerstandsfähigkeit, Flexibilität und Belastbarkeit verwendet. Ferner bezeichnet Resilienz die Toleranz gegenüber von innen oder außen kommenden Störungen. Ein resilientes System ist in der Lage, Irritationen auszugleichen oder zu ertragen, ohne dabei die Aufrechterhaltung der eigenen Integrität zu verlieren (vgl. Wellensiek 2011: 18). Resilienz ist auch ein Begriff, welcher aus der Physik stammt, und in diesem Zusammenhang beschreibt er ein Material, welches nach einem Belastungszustand schnell in seinen Ursprungszustand zurückkehrt. Im Kontext der Gesundheits- und Stressforschung beleuchtet die Resilienzforschung Ursachen für das Gesundbleiben von Menschen trotz ungünstiger Bedingungen im Vergleich zu erkrankten Menschen unter vergleichbaren Bedingungen (vgl. Rummel 2010: 12). Wolter (2005: 229) konstatiert, dass Resilienz in allen Lebensphasen erworben bzw. eingeübt werden kann. Da soziale Systeme als vulnerabel und jederzeit störbar betrachtet werden, und Krisen im Sinne von Brüchen im Leben eines Menschen nie ausgeschlossen werden können, ist das Anknüpfen an Resilienzpotentiale von großer Bedeutung (vgl. Bonß 2015: 21). Bei Resilienz handelt es sich um ein Phänomen, welches in der Theorie nicht leicht zu fassen und auch noch nicht ausreichend erforscht ist (vgl. Zander 2009: 12). Das Verständnis der Resilienz geht jedoch über diese Definitionen hinaus, es versteht sich als übergeordnetes System, da es äußere Faktoren, als auch die Interaktion von Mensch und Umwelt, integriert (vgl. Wellensiek 2011: 21).

Das Leben in der Risikogesellschaft (Beck 1986)6 verlangt vom Individuum, dass es sich auf rapide wechselnde Verhältnisse einzustellen vermag und subjektive Unsicherheiten auch verkraften kann (postindustrielle Flexibilität) (vgl. Mahler 2012: 47). Soziale Lernprozesse tragen zur internalen Verarbeitung von protektiven Faktoren bei, und somit auch zur Ausbildung von Resilienz (vgl. Mahler 2012: 37). Internalisierte Werte, die stabilisierende Erfahrungen einordnen können und somit den Sinnzusammenhang aufrechterhalten deuten auf die Sinnkohärenz [Dimension Bedeutsamkeit des Kohärenzgefühls] hin, welche ebenfalls als Wirkfaktor für Resilienz steht - menschliches Handeln ist wertgeleitetes Handeln (vgl. Mahler 2012: 41). Die Möglichkeit, Widerstandskraft zu erlernen, bedarf folgender Eigenschaften: Beziehungsfähigkeit, Hoffnung, Selbstständigkeit, Phantasie, Kreativität, Unabhängigkeit, Humor, Entschlossenheit, Einsicht, Mut und Reflexion (vgl. Wolter 2005: 300f.).

[...]


1 Bandura A. (1979): Sozial-kognitive Lerntheorie. Stuttgart: Klett-Cotta. & Bandura A. (1997): Self-efficacy. The exercise of control. New York: Freeman.

2 siehe hierzu ausführlich Karls James M., Wandrei Karin E. (Hg.) (1994): Person-in-Environment System: the PIE classification system for social functioning problems. Washington D.C.: NASW press.

3 siehe hierzu ausführlich Thiersch Hans (1997): Lebensweltorientierte Soziale Arbeit: Aufgaben der Praxis im sozialen Wandel. Weinheim: Juventa Verlag.

4 Kobasa S. C. (1979): Stressful life events, personality, and health - Inquiry into hardiness. Journal of Personality and Social Psychology 37 (1). 1-11.

5 Bandura A. (1979): Sozial-kognitive Lerntheorie. Stuttgart: Klett-Cotta. & Bandura A. (1997): Self-efficacy. The exercise of control. New York: Freeman.

6 erstmals erschienen in Beck Ulrich (1986): Risikogesellschaft - auf dem Weg in eine andere Moderne. Frankfurt: Suhrkamp.

Ende der Leseprobe aus 112 Seiten

Details

Titel
Resiliente und kohärente Lebensführungssysteme bei Suchtkranken in stationären Langzeittherapiesettings. Auf- und Ausbau durch sozialtherapeutische Interventionen
Hochschule
FH Campus Wien  (Klinische Soziale Arbeit)
Note
1
Autor
Jahr
2016
Seiten
112
Katalognummer
V1000235
ISBN (eBook)
9783346398604
ISBN (Buch)
9783346398611
Sprache
Deutsch
Schlagworte
soziale Diagnostik, Klinische Soziale Arbeit, Suchttherapie, Resilienz, Kohärenz, Sozialtherapie, sozialtherapeutische Interventionen
Arbeit zitieren
Carina Bittner (Autor:in), 2016, Resiliente und kohärente Lebensführungssysteme bei Suchtkranken in stationären Langzeittherapiesettings. Auf- und Ausbau durch sozialtherapeutische Interventionen, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1000235

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