Visionsarbeit in der kirchlichen Organisationsentwicklung. "Ich kann unsere Zukunft schon sehen!"


Dossier / Travail, 2020

18 Pages


Extrait


Inhaltsverzeichnis

0. Abkürzungsverzeichnis

1. Vorwort

2. VISION - Die Macht des Möglichen
2.1 Vision - Zukunft erträumen
2.2 Werte, Mission, Leitbild, und Ziele
2.3 Von der Kraft innerer Bilder
2.4 .. .und wenn viele träumen?

3. Gebremste Träume - Ein Beispiel aus der Praxis
3.1 Ausgangssituation und Vorgehen
3.2 Beratungsverlauf

4. Wenn die Vision mit der Gegenwart in Berührung kommt
4.1 Ringen lohnt sich
4.2 Die Zukunft in bunten Farben malen
4.3 Einsteigen bitte!
4.4 Weißt du noch?
4.5 Da sind wir: Wie geht’s weiter?
4.6 Das habe ich mir verdient!
4.7 Auch Scheitern ist ein Schritt nach vorn

5. Visionsarbeit im kirchlichen Umfeld

6. Visionäre gesucht - Nachwort

Literaturverzeichnis

Abkürzungsverzeichnis

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

1. Vorwort

Auf dem im Jahr 2019 unter dem Titel „Irgendwie anders“ veröffentlichten Album des Sängers Wincent Weiss findet sich das Lied „Kaum erwarten“. Darin zeichnet er ein positives Zukunftsszenario seines Lebens gemeinsam mit seiner Frau und seinen Kindern. Eine Zukunft, die zwar noch vor ihm liegt, jedoch durchaus real vorstellbar und erreichbar ist. Gerade diese Erreichbarkeit scheint es zu sein, die den Reiz dieses Szenarios ausmacht. Noch ist all das nicht Wirklichkeit, aber es kann in absehbarer Zukunft vom Traum zur Wirklichkeit werden. Allein die realistische Möglichkeit, dass es einmal so sein könnte, wie er es sich in seiner Vorstellung ausmalt, entfaltet eine ganz eigene Dynamik, die sich im Refrain besagten Liedes in einer geradezu ungeduldigen Entschiedenheit äußert. Da heißt es:

„Ich kann es kaum erwarten mit dir die Schritte zu geh’n ich kann es kaum erwarten kann unsere Zukunft schon seh’n

Mit dir durch Höhen zu schweben, durch Tiefen zu geh ’n, jede Hürde, die kommt, gemeinsam zu nehm’n ich kann es kaum erwarten kann unsre Zukunft schon seh’n“1

Im Beratungskontext sind mir in der Visionsarbeit solche positiven Zukunftsbilder begegnet, wie sie Wincent Weiss für seinen privaten Kontext entwickelt. Es sind innere Bilder, die im Kontrast zur wahrgenommen Gegenwart und in der Möglichkeit ihrer Realisierbarkeit so attraktiv sind, dass sie in denen, in deren Vorstellungskraft diese Bilder entstehen, eine geradezu unerklärliche Anziehung ausüben, Energien freisetzen und die Bereitschaft wecken, zur Umsetzung auch vor den Hürden, Hindernissen und möglichen Schwierigkeiten nicht zurückzuschrecken.

Gleichzeitig jedoch sind Visionen auch anfällig und fragil. Werden sie zum Beispiel mit den Widerständen konfrontiert oder der Kritik ausgesetzt, besteht die Gefahr, dass die Erreichbarkeit schlagartig in weite Ferne rücken, ja sogar als unrealistisch erscheinen kann. Konkret begegnete mir dies auf dem Klausurtag eines Pfarrgemeinderates, der sich seine Vision der Pfarreiengemeinschaft der Zukunft mit spürbar wachsender Begeisterung erarbeitete. Als jedoch beim Blick auf die zur Verwirklichung nötigen Ziele ein möglicher Opponent ins Bewusstsein kam, sackte das Energielevel der Teilnehmer so rapide ab, dass die vorher erarbeitete Vision als unrealistisch verworfen zu werden drohte.

Beides ist Inhalt dieser Arbeit: Die Chance, die in Beratungskontexten in Kraft der Visionen liegt, sowie die Frage, was dazu beitragen kann, entgegen aller inneren und äußeren Widerstände, die Attraktivität der inneren Bilder bis zu ihrer Verwirklichung zu bewahren und fruchtbar zu machen.

2. VISION - Die Macht des Möglichen

2.1. Vision - Zukunft erträumen

Eine „Vision“ kann, laut Duden, sowohl ein „inneres Gesicht“, eine „Erscheinung vor dem geistigen Auge“ sein, als auch eine „optische Halluzination“. Zudem findet sich dort die Definition, eine Vision könnte ein „in jemandes Vorstellung besonders in Bezug auf die Zukunft entworfenes Bild“ sein.2 Die Bandbreite der sprachlichen Verwendung des Begriffs „Vision“ lässt bereits erahnen, dass demjenigen, der vorgibt sich nach Visionen zurichten, ganz Unterschiedliches nachgesagt oder unterstellt werden kann: Von prophetisch sehend entrückt, über träumerisch verzückt, bis hin zu schlichtweg (krankhaft) verrückt.

In der Organisationsentwicklung hat sich der Begriff der „Vision“ in der letztgenannten Definition etabliert: Die Vision als ein in der Vorstellung entworfenes Zukunftsbild. Wobei auch die anderen Aspekte nicht zu vernachlässigen sind. Denn eine Vision als Zukunftsbild wird je nach Betrachtung immer auch etwas von diesen in sich tragen. Prophetisch entrückt sind Visionen in dem Sinn, dass sie von einer Zukunft zeugen, die noch nicht ist, jedoch Wirklichkeit werden kann. Träumerisch kann man sie wohl bezeichnen, weil sie es wagen, Realität neu zu denken und dadurch den Träumenden verlocken. Und schließlich sind sie verrückt, wenn auch nicht in einem krankhaften Sinn. Visionen laden dazu ein, neben sich zu treten und einen anderen Blick auf sich und seine derzeitige Situation zu werfen, geleitet durch die schlichte Frage: „Was wäre, wenn...?“

Claus Blickhan umschreibt Visionen deshalb als „eine „Vorschau“, eine Vorausschau auf schöne, interessante, sinnvolle und lohnende Szenarien“3. Er schlägt vor, „Vision“ „mit dem Begriff eines generellen Zielbildes“4 zu übersetzen. Dieses Zielbild darf noch sehr weit gefasst sein. Visionen in Organisationen sind „gemeinsame Zielideen von Menschen in Organisationen, Teams etc. (...) Visionen sind keine Ziele! Sie sind per definitionem relativ unspezifisch, weisen aber trotzdem den Beteiligten eine Richtung. Mit der Beschreibung der Vision wird ein ehrgeiziger Anspruch im Sinne einer „machbaren Utopie“ zum Ausdruck gebracht.“5

Schon mit dieser ersten Annäherung wird deutlich, dass der Visionsarbeit vor allem in ChangeProzessen eine wichtige Rolle zukommt. Visionen zielen auf Veränderung eines momentanen Zustands und eröffnen eine weite Perspektive auf das Mögliche: Was möchten wir erreicht haben, wenn es uns gelungen ist, dieses Zielbild zu verwirklichen? Wie wollen wir dann sein? Wofür stehen wir dann in unserem Unternehmen, in unserer Gemeinde, in unserem Team? Auch wenn es sich um Zielbilder handelt, sind Visionen noch einmal von konkreten Zielen zu unterscheiden. Sie sind wirkmächtige Bilder, die in ihrer Attraktivität begeistern und dazu motivieren können, sich konkrete Ziele als Schritte zur Verwirklichung der Vision vorzunehmen.

2.2 Werte, Mission, Leitbild und Ziele

Zum besseren Verständnis dessen, was damit gemeint ist, wenn von Vision im unternehmerischen Kontext die Rede ist, erfolgt an dieser Stelle eine Zuordnung zu den Zentralbegriffen Werte, Mission, Leitbild und Ziele.

Werte: Die Werte, nach denen wir uns als Einzelpersonen richten, oder die einem Unternehmen wichtig sind, sind so etwas wie ein innerer Kompass, der die Richtung vorgibt. „Auch wenn sie nicht immer bewusst sind, liegen sie doch all unseren Aktivitäten, Urteilen und Entscheidungen zugrunde.“6 Werte beschreiben, was für die Erfüllung der Aufgaben und/oder den Umgang mit den Kunden unverzichtbar ist. Um beim Bild des Kompasses zu bleiben, unterstützen sie also dabei, nicht vom Kurs abzukommen.

Mission: „Eine Mission (...) beschreibt das Geschäftsfeld, bzw. die Kernkompetenz eines Unternehmens sowie auf welchen Markt das Unternehmen ausgerichtet ist.“7 Leitend zur Formulierung der Mission einer Organisation könnten demnach etwa die Fragen sein: Warum sind wir, wie wir sind? Warum tun wir, was wir tun? Worin besteht unser Kerngeschäft? Worin liegen unsere Stärken und besonderen Fähigkeiten?

Beides, Werte und Mission, bildet das unverzichtbare Fundament auf dem eine Vision entwickelt werden kann, d.h. „die Richtung einer zukünftigen Entwicklung“8.

Leitbild: Das Leitbild „erdet“ die Vision. In ihm wird definiert, wie sich das Unternehmen bzw. die Organisation nach außen und innen verhalten muss, um sowohl der wertorientierten Mission gerecht zu werden, als auch auf die Verwirklichung der Vision hinzuarbeiten.

Ziele: Positiv beschriebene Ziele markieren kleine Einzelschritte auf dem Weg zur Verwirklichung der Vision. Sie „definieren, welche konkreten Ergebnisse das Unternehmen kurz- und mittelfristig anstrebt.“9 Ziele sind klar formuliert, zeitnah erreichbar und überprüfbar.

Diese Unterscheidung von Werten, Mission, Vision, Leitbild und Zielen soll noch einmal mit einem Beispiel verdeutlicht werden:

Angenommen die Gremien einer Pfarrgemeinde überlegen sich nach der Lektüre der Enzyklika „Laudato si“ von Papst Franziskus, was dies nun für ihre Arbeit vor Ort konkret bedeuten kann. Sie besinnen sich neu auf ihre Verantwortung für die Bewahrung der Schöpfung. Die Mission, die dabei neu ins Bewusstsein rückt, ließe sich in etwa so zusammenfassen: „Auf Grundlage der Hl. Schrift verstehen wir die Welt als Lebensraum aller Geschöpfe, für dessen Bewahrung wir Menschen gemeinsam Verantwortung tragen.“ Dieser spezielle Blick auf die Welt als Schöpfung Gottes ist Teil der christlichen Identität. Darum setzen wir uns für den Umwelt- und Klimaschutz ein.

Dahinter könnten Werte, wie etwa das christliche Menschenbild, die soziale und globale Verantwortung für Mensch und Umwelt, der nachhaltige Umgang mit Ressourcen, das Tierwohl u.v.m. stehen.

Als Ergebnis eines längeren Prozesses wird eine Vision formuliert, z.B.: „Unsere Pfarrgemeinde wird im Jahr 2027 klimaneutral sein und nur noch nachhaltig konsumieren.“

Aufbauend auf Mission, Werten und Vision wird nun ein Leitbild entwickelt, das einen umfassenden Verhaltenskatalog beinhaltet. So könnte sich die Pfarrgemeinde etwa - neben einer Vielzahl anderer Selbstverpflichtungen - selbst ins Stammbuch schreiben: „Wir achten beim Einkauf auf regionale und saisonale Produkte, auf artgerechte Tierhaltung und biologischen Anbau.“

Als erstes Ziel nehmen sich die Gremien der Pfarrgemeinde vor, für das Pfarrfest im kommenden Sommer kein Fleisch aus Massentierhaltung einzukaufen, durch Verzicht auf Pappgeschirr und Plastikbesteck Müll zu vermeiden, sowie beim Kaffee ausschließlich ein fair gehandeltes Produkt aus biologischem Anbau auszuschenken.

2.3. Von der Kraft innerer Bilder

Visionen sind nicht einfach Wunsch- oder Tagträume. Anders als ein Traum, der schon bald nach dem Erwachen als schöner Schein verblasst, verheißt eine Vision eine andere, vielversprechende Zukunft, die zwar noch nicht ist, auf die es eine reale Chance gibt und für die es sich deshalb lohnt, etwas einzusetzen. Sie ist vergleichbar mit einem Leuchtfeuer, auf das wir auf der Suche nach neuen Ufern zusteuern. Wie aber gelingt es einer Idee, die noch nicht Wirklichkeit geworden ist, ja vielleicht sogar noch in einer sehr fernen Zukunft liegt, eine solche Kraft zu entfalten, so dass sich diejenigen, die dieses Zukunftsbild vor Augen haben, von ihm auch verlocken lassen?

Christoph Quarch beschreibt den eigentümlichen Reiz von Visionen mit beinahe schwärmerischen Worten: „(I)n Visionen kann man sich verlieben. Aber eben nur deshalb, weil wir sie uns nicht selbst machen können. Sie begeistern uns, weil sie - ganz wie die Liebsten unseres Herzens - aus freien Stücken zu uns kommen. (...) Visionen sind Pfeile des Eros, der uns von sich aus trifft und entflammt. (...).“10 Wenn uns Visionen treffen, „dann greift Begeisterung nach unseren Herzen. Dann werden neue Wege sichtbar. Dann fließt uns auch die Kraft zu, auf ihnen der Zukunft mit Freude und erhobenen Hauptes entgegenzugehen. (...) So groß ist ihre Attraktion, dass wir kaum mehr Kraft aufwenden müssen, auf sie zuzugehen. Sie ziehen uns von selbst. Was uns begeistert, reißt uns hin. Und was uns hinreißt, macht uns stark.“11

Visionen fallen uns also zu. Sie finden und treffen uns. Zwar erheben sie sich nicht einfach aus dem Nichts, sondern ergeben sich aus dem, was da ist und dem, was möglich und nötig wäre. Jedoch sprechen sie uns noch einmal auf einer anderen Ebene an, als das, was wir aus reinen Vernunftgründen für geboten erachten. Sie berühren uns auf der Gefühlsebene. Quarch vergleicht es sogar mit dem Gefühl des Sich-Verliebens. An diesem Bild lässt sich der Unterschied zu rein strategischem Planen erahnen: Es macht einen qualitativen Unterschied, ob ich mich dazu entschließe, mit einem anderen Menschen zusammen zu leben, weil es vernünftig ist, steuerliche Vorteile mit sich bringt und man sich die Kosten für Miete, Nebenkosten und Unterhalt eines Autos teilen kann, oder ob ich mich aus Liebe zu einem Menschen so zu ihm hingezogen fühle, dass ich mir ein Leben ohne ihn nicht mehr vorstellen kann. Zwar mag das in der Konsequenz dieselben Vorteile mit sich bringen, jedoch ist die Motivation eine andere. Es ist anzunehmen, dass diese sich letztlich auch als tragfähiger erweist, weil sie nicht beliebig durch etwas Anderes ersetzbar ist, das nicht mindestens dieselbe begeisternde und anziehende Qualität vorweisen kann. Und Quarch nennt noch einen Grund, weshalb Visionen zum Verlieben sind: Sie weisen neue Wege, die jenseits der bereits betretenen oder auch schon ausgetretenen Pfade liegen. Auch bekannte Wege haben durchaus ihren Reiz und es ist eine Zeit lang gut, sich an sie zu halten. Visionen entfalten ihre Kraft dort am stärksten, wo wir auf den alten Pfaden im Kreis zu gehen beginnen und spüren, dass ein „Weiter-so“ eben nicht mehr weiterführt, sondern Stillstand und Rückschritt bedeuten würde. Darin erkennen wir aber meist kein Bild einer attraktiven Zukunft. Visionen dagegen bieten ein neues Bild des Möglichen an. Oder, um es mit den Worten von Nike Roos anzudrücken: „Eine Vision ist ein Erfolg oder eine Erfüllung, die sich in der Zukunft zugetragen haben wird.“12

2.4. ...und wenn viele träumen?

Visionen sind in der Regel dennoch keine spontanen Eingebungen. So paradox das zunächst klingen mag, nachdem zuvor davon die Rede war, dass uns Visionen zufallen, so sind sie selten Produkt des Zufalls. Es ist nötig, sie sich zu erarbeiten. Damit nicht einfach Luftschlösser gebaut werden, muss der Vision eine ernsthafte Auseinandersetzung mit den geltenden Wertvorstellungen der Organisation und aller zu Beteiligenden vorausgehen, sowie ein analytischer Blick auf die realen Gegebenheiten und Voraussetzungen, die zur Verfügung stehenden Mittel, die Chancen und die Hindernisse. Auch braucht es einen wachen Sinn für die zukünftigen Herausforderungen, denen man sich in absehbarer Zeit zu stellen hat. All das muss einen angemessenen Raum einnehmen dürfen und benötigt dringend Zeit, damit sich die Vision mit der ganzen Weite der Möglichkeiten, die sie eröffnet, konkret entfalten darf und damit ihren unwiderstehlichen Reiz verströmen kann. Unter Druck entstehen vielleicht Schnellschüsse, im besten Fall Pläne oder Strategien, aber in der Regel keine Visionen.

In Unternehmen, Organisationen, Gremien oder Gruppen werden diese inneren Bilder um so machtvoller und stabiler sein, je mehr Menschen eine Vision miteinander teilen. „Nur eine Vision, die unter einer möglichst großen Beteiligung entstanden ist, wird anschließend auch handlungsleitend, da nur so die Sprache und die Anliegen der Menschen vor Ort sich widerspiegeln und die Vision einer umfassenden Sicht auf die lokalen Bedingungen gerecht wird.“13 Insofern wirken Visionen auch identitätsstiftend, weil sie dazu im Stande sind, ganz unterschiedliche Menschen und Interessen zusammen zu führen.14 Indem Visionen die Werte und die Mission eines Unternehmens aufgreifen und zugleich mit den inneren Motiven der Mitarbeiter verbinden, sind sie ein nicht zu unterschätzender Faktor der Identifikation und damit der Motivation, da sie in einem lohnenswerten Bild dessen beschreiben „wie die Zukunft des Unternehmens aussieht, wenn die Werte gelebt, sowie Ziele, Mission und Strategie erfolgreich umgesetzt werden“15. Hieran wird aber ebenfalls deutlich, weshalb Visionen erarbeitet werden müssen. Sie können nicht „von oben“ herab angeordnet werden, da diese Vorgehensweise nicht dazu geeignet ist, die Mitarbeiter auf den Geschmack zu bringen, sich die Vision zu eigen zu machen. Das ist nicht ihr Traum, dem sie da folgen sollen. Gleichzeitig kann aber ein solches Zukunftsbild auch nicht einfach per Abstimmung und Mehrheitsbeschluss in Kraft gesetzt und für gültig erklärt werden, da sich diejenigen, die sich nicht damit identifizieren können, auch nach einem Mehrheitsvotum nicht dafür begeistern lassen werden. Begeisterung kann man nicht beschließen. Sie will geweckt werden.

Allerdings kann im Visionsprozess auch nicht ausgeblendet werden, dass es nun einmal sowohl in Unternehmen als auch in den unterschiedlichsten Organisationen im kirchlichen Kontext klare Hierarchieebenen gibt. Damit die Arbeit an der Vision nicht umsonst ist, sollte wenigstens vorher mit denjenigen, denen die Letztentscheidung und -verantwortung obliegt, klare Absprachen getroffen werden, was explizit Thema sein kann oder darf, bzw. was aus ihrer Sicht nicht verhandelbar ist. Welchen Spielraum für Richtungsentscheidungen gibt es überhaupt? In diesem Fall müssten auch Schleifen zur Rückversicherung eingebaut werden, damit ein regelmäßiger Abgleich stattfinden kann, ob sich der Prozess noch innerhalb des eingeräumten Korridors bewegt. Es besteht jedoch dabei die Gefahr, dass der Vorbehalt „Was, wenn die Leitung dagegen ist?“ den kreativen Prozess über die Maßen hemmt, so dass die Idee, wie eine vielversprechende Zukunft aussehen kann, vom Bild der Wirklichkeit verdrängt wird.

Zu bevorzugen wäre deshalb, die Initiative ginge von den Führungs-und Leitungsverantwortlichen aus16, sie wären von Anfang an und am gesamten Prozess beteiligt und würden gleichzeitig den Diskussionsraum so weit öffnen, dass auch Unvorhergesehenes geschehen, vielleicht sogar Verrücktes gedacht und ausprobiert werden darf. Sonst kann es geschehen, dass zwar eine Vision mit viel Engagement und Begeisterung den Weg in die Herzen der Mitarbeiter findet, dann aber sozusagen von oben „erwürgt“ wird, weil sie nicht den Vorstellungen, der strategischen Ausrichtung und der Zielsetzung der verantwortlichen Hierarchieebene entspricht. Die vorher durch die Vision geweckte Motivation würde sich dadurch vermutlich ins Gegenteil verkehren, also Enttäuschung, Frust und Resignation bei allen am Prozess Beteiligten auslösen.

3. Gebremste Träume - Ein Beispiel aus der Praxis

3.1 Ausgangssituation und Vorgehen

Auf einem Klausurtag wollte der gemeinsame Pfarrgemeinderat einer Pfarreiengemeinschaft (PG), den es in dieser Konstellation erst seit einem Jahr gibt, die Zusammenarbeit zwischen den zur Seelsorgeeinheit gehörenden Pfarreien verbessern. Zwar wurde die PG bereits 2007 errichtet, jedoch gab es bislang kaum Kooperationen zwischen den Gemeinden.

In einem Vorgespräch tauchte, neben anderen aktuellen Fragestellungen, auch der Gedanke auf, dass der Seelsorgeeinheit im Grunde eine Vision darüber fehle, wohin sich Kirche vor Ort überhaupt entwickeln soll. Gleichzeitig herrschte im neuen Gremium eine gewisse Aufbruchsstimmung, da in der neuen Konstellation auch die Chance gesehen wurde, mutig neue Themen einzubringen.

Wir als Beraterteam der Gemeindeberatung entschieden uns dazu, den auf 1/ Tage angelegten Klausurtag im Sinne eines Visionsentwicklungsprozesses in Anlehnung an die Methode

„Visionsarbeit“17 von Prof Dr. Henning Schulze zu gestalten. Die einzelnen Schritte, die dabei gegangen wurden, gibt im Wesentlichen das folgende Schaubild18 wieder (Vergrößert auf S.17):

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

3.2 Beratungsverlauf

Wir begannen im konkreten Fall mit einer kreativen Phase zur Wahrnehmung des eigenen Umfelds. Die Gremienmitglieder sollten jeweils ein Bild für die eigene Pfarrgemeinde gestalten, aus dem hervorgehen sollte, wie sie ihre Gemeinde derzeit erleben. Die hauptamtlichen Mitarbeiter widmeten sich jeweils einer der Gemeinden aus ihrer Sicht. In der Vorstellung der Bilder und im Abgleich der Unterschiede und Gemeinsamkeiten fand eine erste Auseinandersetzung mit dem Ist-Stand statt.

[...]


1 Kevin Zaremba Lyrics: Kaum Erwarten Songtext (2019).

2 Vgl. Duden (1990): Vision, S. 815.

3 Blickhan, Claus: Visionen-Ziele-Erträge. In: Werther, Dagmar (Hrsg.): Vision-Mission-Werte (2015), S. 28.

4 ebd. S. 28.

5 Schulze, Henning: Visionarbeit. In: Rohm, Armin (Hrsg.): Change-Tools. 2006, S. 207.

6 Werther, Dagmar: Vorwort. In: In: Werther, Dagmar (Hrsg.): Vision-Mission-Werte (2015), S. 11.

7 Rawolle, Maika, Kehr, Hugo M.: Lust auf Zukunft. In: OrganisationsEntwicklung Nr. 4/2012, S. 13.

8 Ebd.S. 13.

9 Ebd. S. 13.

10 “Quarch, Christoph: Fischen im Meer der Möglichkeiten. In: Werther, Dagmar (Hrsg.): Vision-Mission-Werte (2015), S. 297.

11 Ebd.S. 297.

12 Roos, Nike: „Machen Sie mir einen Imagefilm". In: Werther, Dagmar (Hrsg.): Vision-Mission-Werte (2015), S. 99.

13 Winter-Riesterer, Barbara: Entwicklung einer partizipativ geteilten Vision. In: euangel. Nr. 2/2017, S. 3.

14 Vgl. Özdemir, Hüseyin: Die Vision als Ausgangspunkt für werteorientierte Unternehmensführung. In: OrganisationsEntwicklung Nr. 4/2012, S. 5.

15 Rawolle, Maika, Kehr, Hugo M.: Lust auf Zukunft. In: OrganisationsEntwicklung Nr. 4/2012, S. 13.

16 Dessoy, Valentin, Visionsarbeit, in: meditation. Zeitschrift für christliche Spiritualitätund Lebensgestaltung 2/2008, S. 6.

Fin de l'extrait de 18 pages

Résumé des informations

Titre
Visionsarbeit in der kirchlichen Organisationsentwicklung. "Ich kann unsere Zukunft schon sehen!"
Cours
Weiterbildung Organisationsentwicklung und Gemeindeberatung
Auteur
Année
2020
Pages
18
N° de catalogue
V1001085
ISBN (ebook)
9783346374370
ISBN (Livre)
9783346374387
Langue
allemand
Mots clés
Vision, Visionarbeit Gemeindeberatung
Citation du texte
Markus Dörre (Auteur), 2020, Visionsarbeit in der kirchlichen Organisationsentwicklung. "Ich kann unsere Zukunft schon sehen!", Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1001085

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