Gerhard Roth: ,,Der Berg" Die Verschleierung der Wirklichkeit mit Hilfe der/ durch die Mystik des Balkans.
Vorwort
Gerhard Roth ist ein zeitgenössische Autor, der, wenn man die Biographie betrachtet einiges (interessante) von sich erwarten lässt. Bevor ich mich überhaupt erst mit dem Buch ,,Der Berg" selbst auseinander setzte, warf ich ein paar kurze Blicke in Roth´s Biographie. Nach dem Medizinstudium in Graz beschloss er ,aufgrund starker Herzbeschwerden sich 1977 an die Grenze zum Ostblock zurückzuziehen, nämlich in die Südsteiermark, in den abgelegenen Landstrich Im Greith zwischen Sulm und Saggau. Dort kaufte er einen Bauernhof ohne fließendes Wasser und er lebte am Rande der Existenz ohne Auto und sonstigen ,,modernen" Errungenschaften. Er hatte nur seinen Fotoapparat, mit dem über viele Jahre hin, das Völkchen, das sein Nachbar war, zu fotografieren und zu dokumentieren begann. Im Laufe der Jahre entstand ein Photoalbum mit mehr als 10.000 Photos. In der Abgeschiedenheit von der Zivilisation genas er und kehrte dann zurück nach Wien. Als ich von diesen Tatsachen, dass Gerhard Roth viele Jahre hindurch in Abgeschiedenheit in der Nähe des Eisernen Vorhangs lebte und wo die Menschen alles Fremde verpönten, hörte, machte ich mich auf einen Roman gefasst, der, wie kann man sich täuschen, in Tatsache überhaupt nicht dem tatsächlichen Roman entspricht.
Was ich später in diesem Roman finden konnte, was eventuell stark von seiner Zeit in der Südsteiermark beeinflusst war, war die Detailtreue und die Liebe zum Alltäglichen, die den Menschen begleitet.
Das kann man vielleicht auf sein Fotografieren zurückführen, da doch ein jeder Fotograph sich immer umschaut, vieles anders sieht als die anderen Menschen, Lichteinflüsse viel mehr respektiert, und er vor seinen Augen schon das fertige Bild sieht.
Durch diese Gedanken bin ich darauf gekommen, dass Gerhard Roth kein Mensch ist, der seine Kunst parallel zu seinem Leben ausübt, er trennt beides sorgfältig, jedoch finden sich einige wenige Bezüge, die sehr erwähnenswert sind, vor allem in der Zeit Im Greith. Mit Hilfe meines Interesses am Berg Athos gelang es mir, bei diesem Roman etwas zu tun, was sonst bei Literatur für mich nicht so einfach ist: Ich verschlang ihn.
Noch einmal zurück zum Autor selbst
Gerhard Roth ist 1942 in Graz geboren. Er studierte Medizin und arbeitete dann als Organisationsleiter im Rechenzentrum Graz. 1977 traten dann die ersten Symptome für seine Herzbeschwerden auf und er suchte sich in seiner Heimat einen Ort, um sich auszukurieren. Er fand einen und kurierte sich aus, wie schon im Vorwort erwähnt.
Heute lebt er als freier Schriftsteller in Wien und in der Südsteiermark (Er zieht sich im Sommer immer auf seinen Bauernhof im Greith zurück). Roth hat zahlreiche Romane, Erzählungen, Essays und Theaterstücke veröffentlicht. 1991 schloss er seinen siebenbändigen Romanzyklus Die Archive des Schweigens ab, zu denen er von seinem Aufenthalt im Greith inspiriert wurde.
1995 erschien sein Roman Der See, 1998 der Roman Der Plan. Roth wurde unter anderem mit dem Preis der SWF- Bestenliste, dem Alfred- Döblin- Preis und dem Preis des Österreichischen Buchhandels ausgezeichnet.
Der Roman
Der Journalist Viktor Gartner reist nach Thessaloniki, um nach dem verschwundenen Dichter Goran R. zu suchen, der angeblich ein Hauptzeuge des in Srebrenica begangenen Massakers an 6.000 Personen durch General Mladic sein soll. Er verlässt sich auf Informanten, die immer wieder, den ganzen Roman hindurch auf mysteriöse Weise sterben oder verschwinden. Schon in Thessaloniki findet er seinen Informant tot auf. Nach großen Problemen, auf den Berg Athos zu gelangen, trifft er einen Arzt, der ihm als Gefährte am Berg Athos zur Seite steht und bricht mit ihm auf zum Kloster Chilandar, dem größten aller Klöster auf dem Athos. Immer wieder eröffnen sich Viktor neue Wege, die er beschreitet, um endlich Goran R. zu finden, um ihm ein Gespräch abzugewinnen. Doch es läuft alles schief. Als er einer heißen Fährte auf der Spur ist und schon herausgefunden hat, dass Goran R. im Kloster Chilandar war, stören ihn die Behörden bei seinen weiteren Recherchen und schicken ihn nach Hause nach Wien. Dieser befolgt aber die Anweisungen der griechischen Behörden nicht und schafft es mit Hilfe einer auf der Reise kennen gelernten Frau, und dem Hinweis, Goran R. halte sich dort auf, nach Istanbul zu gelangen. Aber auch dort, in der großen Stadt, ist er durch mysteriöse Begebenheiten sehr eingeschränkt in seinem Handeln.
Er trifft dort zwar Goran R., dieser entpuppt sich aber als nicht aufgeschlossen ,,Antiheld" und kommt Gartner in keinster Weise entgegen.
Während seines ganzen Abenteuers am Balkan macht sich Gartner immer Aufzeichnungen in seine verschieden Notizbücher. Das wichtigste von allen wird am Schluss aber Opfer der See und er muss ohne Ergebnis nach Hause, nach Wien zurückkehren. Auch sein Fotoapparat wurde ihm von der griechischen Behörde weggenommen und er besitzt eigentlich nachher nicht einmal mehr die Materialien, um einen ordentlichen Reisebericht zu schreiben. Das Abenteuer war, journalistisch gesehen, ein totaler Reinfall.
Sein oder Schein?
Zu sagen, das Buch wäre ein Kriminalroman, wäre falsch. Zu sagen, es wäre ein Trivialroman wäre noch falscher und zu sagen, man kann diesen Roman irgendeinem Genre zuordnen, wäre zu einfach.
Auch wenn er nach außen hin vorgibt, ein Krimi zu sein, so ist dieser Roman kein Krimi. Obwohl manches darauf hindeutet, wird man bald feststellen, dass, wenn man zwischen den Zeilen liest, es unmöglich ist, zu sagen: ,,Das ist ein - Roman!"
Gerhard Roth versteht es, den Roman einer Einordnung zu entziehen, zumal man ja nicht einmal weiß, was in diesem Roman jetzt wirklich oder unwirklich ist. Das beginnt schon ganz am Anfang und endet ganz am Schluss. Kaum ist ein Handlungsstrang erreicht, der, wie man glauben mag, jetzt einer normalen realistischen Erzählung gleicht, kommen wieder die ,,Ikonen" ins Spiel, ein Gedichtband von Goran R., der Gartner auf seiner ganzen Reise begleitet. Dieser Gedichtband mach sich das Leben von König Stephan III. zum Thema und kommt meistens, wie gesagt, dann ins Spiel, wenn der Leser glaubt, nun ist endlich die Realität eingekehrt in dieses Buch. Schon ganz zu Beginn vergleicht Gartner den Tod seines ersten Informanten mit einer Passage aus diesem Gedichtband:
"Mit seiner Wunde am Ohr und dem Schnitt durch den Hals ähnelte der tote Dr. Bosic selbst dem serbischen König Stephan III. Decansky, der zum Märtyrer geworden war."1
Diese Vergleiche ziehen sich durch das ganze Buch und in Kombination mit der natürlichen Mystik des Berg Athos und der Welt des Balkan, verwindet sich der ganze Erzählstrang zwischen Sein und Schein, Fragmente schließen sich zu einem Ganzen und offene, ehrliche Menschen werden zum Rätsel.
Im Grunde kann man ,,Der Berg" als Roman bezeichnen, der sich der Wirklichkeit entzieht, aber trotzdem konstant seinen Erzählstrang beibehält und nie von seiner Linie abschweift, wenn diese auch sehr vielschichtig ist.
Weiter ist, wie schon im Vorwort erwähnt der biographische Einfluss der Zeit Im Greith ein sehr wichtiger. Man erkennt im Laufe des Buches eine Kunst des Autors, die beinahe impressionistisch wirkt, die kleinsten Detail sind markant, die kleinsten Bewegungen fallen auf und das Licht spielt einen nicht unwesentlichen Part in dieser Geschichte. Das alles ist für mich zurückzuführen auf seine photographische Tätigkeit, die Gerhard Roth ja beinahe perfektionierte. Die ganz alltäglichen Dinge, die die meisten Menschen nicht mehr erkennen spielen eine wesentliche Rolle im Roman. Die Umschreibungen scheinen oft wie auf einem Foto, man kann sie förmlich sehen:
,,An den Ständen hingen überall Büschel von Einwickelpapier, manche Holzkisten waren ganz mit Zeitungsseiten ausgeschlagen, und dort, wo die Ware bereits verkauft war, hatten die Fische und das Eis die Artikel mit Nässe und Körpersäften imprägniert, so dass sie gelb geworden waren wie von Urin. Die getrockneten Zeitungsseiten waren faltig und steif geworden, und die Buchstaben und Bilder darauf sahen verzerrt und verbogen aus ..."2
Gleichsam wie Roth während seiner Zeit Im Greith ständig auch das Leben der Bauern und Knechte dokumentiert hat, so dokumentiert auch Gartner ausführlich seine Erlebnisse und die Umstände in denen er sich immer befindet. Mit akribischer Genauigkeit (bemerkenswerte Kenntnis der Recherchearbeit von Journalisten des Autors) ,,füttert" er immer seinen Computer, sein Diktiergerät und seine Notizbücher, die auch gleichzeitig die Einteilung dieses Buches vornehmen:
I. Das schwarze Notizbuch
II. Das rote Notizbuch
III. Das gelbe Notizbuch
IV. Das weiße Notizbuch
Am Ende bleibt Gartner jedoch nichts über, mit dem er seiner Redaktion einen dokumentarischen Reisebericht hätte vorlegen können. Die Ironie des Schicksals spielt dabei eine nicht unwesentliche Rolle, oder ist es die reine Ironie des Autors, weil er die Gangart der modernen Medien verpönt.
Dieser Punkt soll im Raum stehen gelassen werden. Wichtig ist nur, dass die ganze Reise Gartners persönlichen und beruflichen Interessen nicht viel gebracht hat und er eigentlich auf ganzer Linie scheitert.
Es gibt zu diesem Roman ein kurzes Resümee von Sigrid Esslinger vom Bayrischen Rundfunk, das, finde ich, den Inhalt des Romans gleichsam wiedergibt und ihn auch interpretiert:
Seine eigene Art besteht darin, den Leser in eine Welt zwischen Sein und Schein zu führen, wo die wirklichen Vorgänge eine verborgene Bedeutung bekommen und unwichtige Vorkommnisse im Kopf des
Journalisten eine unwirkliche Atmosphäre erzeugen. Ein Gefühl latenter Bedrohung, wenn auch vielleicht nicht lebensgefährlicher Art, teilt sich dem Leser unmerklich mit. Der Autor verstärkt es, lässt es für einige Zeit abklingen, während die sparsame Handlung fortgesetzt wird.
Plötzlich stellt es sich wieder ein, da eine neue undurchsichtige Situation entsteht. In diesem Spiel mit einer subtilen, gleichsam unterschwelligen Spannung liegt die Faszination, die von dem Roman ausgeht. Er stellt zunächst hohe Ansprüche an den Leser und belohnt ihn mit einem literarischen Erlebnis, sobald er sich in die Welt eingesponnen hat, die da mit einer Fülle von Miniaturen geschaffen wird.3
Am Beginn des Buches, auf Seite sechs, wird Albert Camus zitiert, der auf die Recherche anspielt und gleich zu Beginn vielleicht Aufschluss gibt, was im Buch eigentlich das Thema sein soll, sonst hätte es Gerhard Roth wohl nicht als Eingangstext gewählt:
Ein Geschichtsschreiber, auch der bloße Liebhaber dieser Kunst besitzt natürlich immer Dokumente. So hat denn auch der Erzähler dieser Geschichte die seinen: zunächst sein eigenes Zeugnis, dann dasjenige der anderen, und schließlich die Schriftstücke, die ihm in die Hände fielen. Er hat die Absicht, sie zu verwenden, wenn es ihm gut dünkt und wie es ihm gefällt.4
Zum Schluss
Da das Buch erst 2000 erschienen ist, gibt es noch keine Sekundärliteratur und es sind auch keine Daten in irgend einem Lexikon verfügbar, aber trotzdem das nicht so ist, wird dieses Buch noch von sich reden machen und es wird noch viel darüber geschrieben werden. Gerhard Roth ist es gelungen, einer modernen Welt, die eigentlich nur noch vom ,,vernünftigen" Menschen gelenkt wird, doch noch ein bisschen Mystik abzugewinnen, obwohl die modernen Errungenschaften in diesem Roman allgegenwärtig sind, stellt Roth sie als völlig unwesentlich dar. Am einfachsten kann er die Technik unwichtig werden lassen, wenn er sich einen Platz für seinen Roman aussucht, an dem sie total unwesentlich ist: Am Berg Athos, wo noch nie Strom oder fließendes Wasser gesehen wurden, geschweige denn von einer technischen Hilfseinrichtung, sprich Telephon oder Fernseher. ,,Der Berg" ist ein spannendes Abenteuer mit Bezug zur Realität und zur Mystik, die eine, für mich noch nie da gewesene Kombination ausmachten, und mich erfahren ließen, was es heißt, einen Roman zu lesen, wo man nachher eigentlich nachher nicht genau sagen kann, worum es ging.
Philipp Grafendorfer
[...]
[1] Der Berg S. Fischer Verlag, Frankfurt 2000
[2] ibidem
[3] www.br-online.de
Häufig gestellte Fragen
Worum geht es in Gerhard Roths Roman "Der Berg"?
Der Roman "Der Berg" von Gerhard Roth handelt von dem Journalisten Viktor Gartner, der nach Thessaloniki reist, um den verschwundenen Dichter Goran R. zu suchen. Goran R. soll ein Hauptzeuge des Massakers von Srebrenica sein. Gartners Suche führt ihn auf den Berg Athos und schließlich nach Istanbul, doch seine Recherchen werden durch mysteriöse Ereignisse und undurchsichtige Personen behindert. Am Ende kehrt Gartner ohne Erfolg nach Wien zurück.
Welche Rolle spielt die Mystik des Balkans in dem Roman?
Die Mystik des Balkans, insbesondere die des Berges Athos, spielt eine zentrale Rolle in "Der Berg". Die geheimnisvolle Atmosphäre, die religiösen Riten und die unklaren Motive der Charaktere tragen dazu bei, die Grenze zwischen Realität und Illusion zu verwischen. Die Mystik dient als Mittel, um die Wirklichkeit zu verschleiern und die Suche nach Wahrheit zu erschweren.
Wie wird die Zeit des Autors in der Südsteiermark (Im Greith) im Roman reflektiert?
Die Zeit, die Gerhard Roth in der Südsteiermark (Im Greith) verbrachte, spiegelt sich in der Detailtreue und der Liebe zum Alltäglichen wider, die den Roman durchziehen. Die impressionistischen Beschreibungen von Landschaften, Menschen und Gegenständen erinnern an Roths photographische Tätigkeit und seine Fähigkeit, das Besondere im Gewöhnlichen zu erkennen. Die akribische Dokumentation von Gartners Erlebnissen ähnelt der Art und Weise, wie Roth das Leben der Bauern und Knechte in Im Greith dokumentierte.
Welche Bedeutung haben die Notizbücher für Gartner und den Roman?
Gartners Notizbücher (das schwarze, rote, gelbe und weiße Notizbuch) dienen als Mittel zur Dokumentation seiner Erlebnisse und zur Strukturierung des Romans. Sie repräsentieren Gartners Versuch, die Realität festzuhalten und einen journalistischen Bericht zu erstellen. Am Ende scheitert er jedoch daran, seine Aufzeichnungen in einen kohärenten Bericht zu verwandeln, was die Ironie seines Scheiterns unterstreicht.
Was bedeutet das Zitat von Albert Camus am Anfang des Buches?
Das Zitat von Albert Camus aus "La Peste" am Anfang des Buches verweist auf die Bedeutung von Dokumenten und Zeugnissen für die Geschichtsschreibung und die Erzählung. Es deutet darauf hin, dass die Wahrheit in "Der Berg" fragmentarisch und subjektiv ist und dass der Erzähler sich frei fühlt, die zur Verfügung stehenden Materialien nach eigenem Ermessen zu verwenden.
Warum lässt sich der Roman "Der Berg" nicht eindeutig einem Genre zuordnen?
"Der Berg" entzieht sich einer eindeutigen Genre-Zuordnung, weil er Elemente verschiedener Genres (Kriminalroman, Trivialroman, Abenteuerroman) miteinander verbindet, ohne sich einem einzelnen Genre vollständig zu verpflichten. Die Vermischung von Realität und Mystik, die undurchsichtigen Charaktere und die offene Struktur des Romans tragen dazu bei, die Erwartungen des Lesers zu unterlaufen und ihn in einer Welt zwischen Sein und Schein zu führen.
Welche Rolle spielt die Ironie in dem Roman?
Die Ironie spielt eine wichtige Rolle in "Der Berg". Gartner scheitert trotz seiner Bemühungen an seinen Zielen, was die Vergeblichkeit seiner Suche und die Undurchschaubarkeit der Welt unterstreicht. Die Ironie kann auch als Kritik an der modernen Medienlandschaft interpretiert werden, die von Sensationsgier und Oberflächlichkeit geprägt ist.
Wie wird die Technik in Gerhard Roths Roman dargestellt?
Obwohl moderne Errungenschaften in "Der Berg" allgegenwärtig sind, stellt Roth sie als völlig unwesentlich dar. Er macht die Technik unwichtig, indem er seinen Roman an einem Ort spielen lässt, an dem sie total unwesentlich ist: Am Berg Athos.
- Citar trabajo
- Philipp Grafendorfer (Autor), 2001, Roth, Gerhard - Der Berg - Die Verschleierung der Wirklichkeit mit Hilfe der/ durch die Mystik des Balkans., Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/100153